Hamburg. Regisseur Tugsal Mogul zeigt im Rathaus Altona eine beunruhigende Recherche zu einem rechtsextremistischen Terroranschlag.

Man wünscht sich so sehr, dass das, was Tugsal Mogul in seinem Stück „And now Hanau“ erzählt, vor allem ein Beispiel für Überforderung ist, für Unbedarftheit und Schlampigkeit der Polizei, die in einer mittelgroßen Stadt mit einer unerwarteten Situation konfrontiert wird. Man wünscht es sich, aber je länger das Stück, das im Rahmen des Thalia-Festivals „Nachbarschaften – Komsuluklar“ im Rathaus Altona zu sehen ist, dauert, umso mehr beschleicht einen das Gefühl: Das ist mehr als Schlampigkeit.

Mogul zeichnet in dem als Koproduktion zwischen den Theatern in Münster und Oberhausen entstandenen Stück den rechtsextremistischen Terroranschlag vom 19. Februar 2020 im hessischen Hanau nach. Ein 43-Jähriger fuhr an jenem Abend durch die 100.000-Einwohner-Stadt östlich von Frankfurt am Main und erschoss gezielt neun Menschen, die er als „fremd“ identifizierte, im Anschluss tötete er seine bettlägrige Mutter und schließlich sich selbst.

Theater Hamburg: „And now Hanau“, ein Stück, das fassungslos macht

Während der Gewalttat beging die Polizei teils hanebüchene Fehler: Zum Beispiel war der Notruf unzureichend besetzt, sodass ein Opfer, das verzweifelt Hilfe herbeirufen wollte, nicht durchkam. Und ein Hubschrauber kreiste stundenlang über der Stadt, ohne dass die Besatzung informiert wurde, wo man den Attentäter finden könne, obwohl das den Beamten am Boden längst bekannt war.

Tugsal Mogul ist im Hauptberuf Notarzt an einem Münsteraner Krankenhaus, und das merkt man seinen Stücken (vor zwei Jahren zeigte er am Schauspielhaus die Recherche „Wir haben getan, was wir konnten“) auch an: Mit nahezu medizinischer Präzision zeichnet er das Geschehen nach, vier Schauspielerinnen und Schauspieler von den beteiligten Theatern (Alaaeldin Dyab, Agnes Lampkin, Regina Leenders und Tim Weckenbrock) berichten minutengenau, wann der Attentäter wo zuschlug: in einer Shisha-Bar, einem Kiosk, einer Sportsbar.

Thalia Theater im Kollegiensaal: Das nimmt dem Stück etwas die Schärfe

Auf einem Whiteboard erscheinen Fotos von acht Opfern (der neunte soll auf Wunsch seiner Angehörigen anonym bleiben), einmal spricht ein Verwandter in die Kamera, entgeistert angesichts des Verbrechens. Man sieht: eine Skizze der Arena Bar, dem letzten Tatort, in dem ein versperrter Notausgang die Flucht der Opfer verwehrte. Eine Karte, die den Irrflug des Polizeihubschraubers dokumentiert. Einen Stadtplan, der zeigt, welchen Weg der Attentäter nahm, verfolgt von einem Zeugen, der erfolglos den Notruf wählte und schließlich ebenfalls erschossen wurde. Theater ist das eigentlich nicht, eher eine Bestandsaufnahme von etwas, das sich kaum fassen lässt.

In Oberhausen und Münster wird „And now Hanau“ in Rathäusern gespielt, auch die Uraufführung vor einem halben Jahr bei den Ruhrfestspielen fand im Rathaus Recklinghausen statt. Entsprechend ist es eine gute Idee, dass das Thalia Theater die Aufführung in den Kollegiensaal des Altonaer Rathauses verlegt, auch wenn es sich hier „nur“ um ein Bezirksrathaus handelt, womit dem Stück ein wenig seine politische Schärfe genommen wird.

13 beteiligte SEK-Beamte waren wegen rechtsradikaler Chats aufgefallen

Denn tatsächlich ist der Abend eine Anklage: an Politiker wie den damaligen hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU), der der Mutter eines Opfers ins Gesicht sagte, dass er in seiner 42-jährigen Karriere als Anwalt schon „weit Schlimmeres“ erlebt habe. Oder an den damaligen Leiter der Hanauer Polizeidirektion, Jürgen Fehler, der die Tatsache, dass das SEK die Familie eines Opfers mit Waffen bedrohte, statt den Attentäter zu stellen, eine „robuste Kontrolle“ nannte, „an der nichts auszusetzen ist“. Oder an die Polizisten, die den Vater eines Opfers mit einem antiziganistischen Schimpfwort verspotteten. Erst am Ende des Stücks erfährt man: Von den 19 SEK-Beamten, die am 19. Februar 2020 im Einsatz waren, waren 13 schon einmal wegen rechtsradikaler Chats aufgefallen.

Für Politik und Polizei kein Grund, das eigene Verhalten zu hinterfragen – Ministerpräsident Bouffier kommentierte es damit, dass eine mögliche rechte Einstellung ja nicht bedeuten müsse, dass an diesem Abend schlecht gearbeitet worden sei. Alle Beteiligten sind heute entweder noch im Amt, im Ruhestand oder aber versetzt und sogar befördert, Polizeidirektor Fehler etwa arbeitet mittlerweile in leitender Position in Wiesbaden. Und da bekommen die einleitenden Worte „Es hört einfach nicht auf“ eine beunruhigende Dringlichkeit.

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Die Basis dieses sparsamen und gerade in seiner Sparsamkeit tief berührenden Theaterabends sind Recherchen, die dem Engagement der Angehörigen der Opfer zu verdanken sind – jenseits des Anklagecharakters der Darstellung ist „And now Hanau“ eben auch eine Form der Trauerarbeit und der Erinnerungspraxis, zu der die Benennung der Opfer zählt, unter dem Schlagwort „Saytheirnames“. Ermordet wurden Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Paun, Fatih Saraçoglu, Kaloyan Velkov und ein weiterer junger Mann. Menschen, die mehrheitlich in Deutschland geboren sind – Hashemi etwa hatte die Zahl „454“ auf dem Arm tätowiert, so endet die Postleitzahl des Hanauer Stadtteils Kesselstadt.

„And now Hanau“Donnerstag, 19 Uhr, Rathaus Altona, Kollegiensaal, Platz der Republik 1, im Anschluss Publikumsgespräch mit dem Regisseur und Vertretern der Initiative 19. Februar Hanau, Tickets unter 32814444, www.thalia-theater.de