Hamburg. Beim Konzert des Countertenors im Großen Saal müssen sich die Ohren regelrecht Richtung Bühne schrauben, so leise klingt seine Stimme.
Auf dem ProArte-Programmheft lächelt Philippe Jaroussky, wie wir ihn seit Jahrzehnten kennen: dunkler Schopf, ebenmäßige Züge, weiche Lippen, verwirrend androgyne Physiognomie. Aber dann betritt die Bühne ein ergrauter Herr im grauen Zweireiher.
Was für ein Kontrast! Das Befremden wird das Hören einfärben an diesem Abend in der Elbphilharmonie.
Philippe Jaroussky in der Elbphilharmonie: Da ist plötzlich kein Zauber mehr
Zur Eröffnung, bald ist sie sieben Jahre her, ließ der französische Countertenor aus dem Rang barock verzierte Melodien durch den Saal schweben, begleitet nur von einer Harfe. Ein magischer Moment. Ein vergleichbarer Zauber will sich im November 2023 nicht einstellen. Die Ohren müssen sich regelrecht in Richtung Bühne schrauben, so leise klingt die Stimme, zumal in der Tiefe. Jaroussky gestaltet subtil wie gewohnt, mit viel Zeit und Gespür für den Moment, aber der Beifall nach der ersten Arie mit Rezitativ aus der Oper „Demofoonte“ von Johann Adolph Hasse fällt auffallend matt aus.
Ob es noch mehr Besucherinnen und Besuchern so geht, dass im Kopf die Tonspur des jüngeren Jaroussky mitläuft? Als man keine Begriffe wie Schmelz, Glanz, Mischung von Kopf- und Bruststimme brauchte, weil dieser Sänger einen einfach flutete mit dem überirdischen Wohlklang seines Timbres? Er singt immer noch sehr gut, aber bisweilen hört man die Arbeit, die hinter den Koloraturen und Sprüngen steckt, hier und da blättert etwas ab, ist eine leichte Rauigkeit da, bleibt ein Ton weiß.
Über dem Ensemble Le Concert de la Loge liegt ein akustischer Schleier
Der Arienabend trägt Jarousskys Handschrift. Das Programm ist eine Reise in die Hauptstadt der Oper im 18. Jahrhundert, nach Neapel. Im Mittelpunkt steht kein Komponist, sondern der Dichter Metastasio, der damals quasi ein Monopol auf Opernlibretti hatte: in den Gefühlen überschwängliche, blumig-bildhafte, staatstragende Dichtung.
Hasse hat Metastasio vertont, auch er ein Star des damaligen Opernbetriebs (ja, genau, der Hasse aus Bergedorf, das im 18. Jahrhundert natürlich noch nicht zu Hamburg gehörte), aber auch der weltläufige Johann Christian Bach und natürlich eine Reihe italienischer Kollegen, deren Namen heute kaum einer mehr kennt, die aber mit überaus farbigen Stücken vertreten sind.
Elbphilharmonie: Jaroussky setzt Dissonanzen ein wie Rasierklingen
Seltsamerweise liegt auf dem französischen Barockensemble Le Concert de la Loge eine Art akustischer Schleier. Julien Chauvin leitet das Orchester vom Konzertmeisterposten aus mit vollem Körpereinsatz, die hinteren Pulte dagegen benutzen wenig Bogen und spielen sehr zurückgenommen. Der Geigenklang fällt zwar nicht auseinander, aber womöglich heben sich die unterschiedlichen Energielevel im Orchester gegenseitig auf. Die Celli machen eh ihr eigenes Ding, und von Cembalo und Theorbe ist so gut wie nichts zu hören.
Nach der Pause trauen sich die Beteiligten dann mehr. In „Gelido in ogni vena“ von Giovanni Battista Ferrandi scheint in den Tonrepetitionen der Geigen der Leibhaftige anzuklopfen, und Jaroussky setzt Dissonanzen ein wie Rasierklingen.
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In der letzten Arie von Niccolò Jommelli gibt er dem Affen endlich mal Zucker, dreht sich zum Oboisten um, wenn die beiden um die Wette verzieren. Hey, das ist schließlich Musiktheater! Warum nicht früher so?