Hamburg. Der Autor und Kritiker über Kunstanfänger und die Affordable Art Fair: „Gemischtwarenladen für gute und schlechte Kunst“.

Am Donnerstag startet zum 11. Mal die Affordable Art Fair in den Hamburger Messehallen und lockt mit 85 Galerien aus 17 Ländern sowie Kunstwerken von 100 bis 10.000 Euro. Kolja Reichert, Jahrgang 1982, derzeit Programmkurator für Diskurs an der Bundeskunsthalle Bonn, sollte am Sonnabend einen Vortrag zu seinem Buch „Kann ich das auch? 50 Fragen an die Kunst“ halten, musste aber wegen eines anderen Termins kurzfristig absagen. Schade, denn zu sagen hat er einiges: Wie verrückt der Kunstmarkt ist, warum es sich lohnt, für die Kunst aufs Reisen zu verzichten, und was der Geschmack von Oliven mit Kunstgenuss zu tun hat, verrät er im Abendblatt-Gespräch.

Der schönste Satz Ihres Buches lautet zweifellos: „Jeder kann in jedem Moment mit Kunst anfangen.“ Das hat so was Hoffnungsvolles und lässt alle Deutungen zu – ob ich nun Kunst produzieren, rezipieren oder sammeln möchte. Wie sind Sie zur Kunst gekommen?

Kolja Reichert: Als ich anfing, über Kunst zu schreiben, wurde ich geschickt. Ich hatte gerade meine Zwischenprüfung in Philosophie bestanden und machte ein Praktikum beim „Tagesspiegel“. Eigentlich habe ich mich als Kritiker von Popmusik und Büchern gesehen, wurde aber immer wieder für Kunstausstellungen eingeplant. Und auch, wenn es Kunst in meiner Familie gab, meine Großeltern Maler waren, habe ich mich nicht als Kunstexperte betrachtet, weil ich das nicht studiert hatte. Nach jedem Text dachte ich: „Das war’s jetzt.“ Aber ich wurde immer wieder hingeschickt, mit der Begründung, dass ich es in meinen Artikeln schaffte, den Zugang zu den Werken immer neu zu bauen, statt die bestehenden Begriffe der Kunstwissenschaft aufzulegen. Das erlaubt anderen Leuten, die noch weniger Zugang zu Kunst haben, da hineinzufinden und sich ernst genommen zu fühlen als Betrachter.

Kolja Reichert, Jahrgang 1982, ist Autor, Kunstkritiker und Programmkurator für Diskurs an der Bundeskunsthalle Bonn.
Kolja Reichert, Jahrgang 1982, ist Autor, Kunstkritiker und Programmkurator für Diskurs an der Bundeskunsthalle Bonn. © Detlef Schneider | Detlef Schneider

Affordable Art Fair: „Großer Gemischtwarenladen für gute und schlechte Kunst“

Das Klischee, die Kunstbranche sei elitär, hält sich hartnäckig. In dem Kapitel „Ist Kunst nur was für Leute mit Geld?“ widerlegen Sie dies und geben den Leserinnen und Lesern ganz konkrete Tipps, etwa sich Kunstwerke zu leihen, die Ausstellungen von Kunsthochschulen und kleinen Ateliers zu besuchen, sich in Büchereien Kunstkataloge zu besorgen. Und doch haben viele Menschen Hemmungen, in Kunstmuseen oder Galerien zu gehen. Woran liegt das, und was können beide Seiten dafür tun, dass sich das ändert?

Kunst kommt vielen Menschen fremd vor und unnötig, sogar als Zumutung oder als etwas nur für reiche Leute. Und da Kunst so viel teurer geworden ist in den vergangenen 30 Jahren, könnte man sagen, dass das stimmt. Aber damit macht man es sich zu einfach. Wichtiger als Geld ist die Zeit, die man in die Kunst investieren muss, man muss sich wirklich mit ihr auseinandersetzen. Heute ist alles darauf angelegt, dass man es sofort und einfach bekommt. Und alles, was mehr Mühe macht, unverständlich oder mehrdeutig ist, wird beiseitegelegt. Bei Kunst ist es so, als würde man einem anderen Menschen begegnen: Wenn man kein Interesse für sein Gegenüber hat, wenn man keine Zeit für den anderen mitbringt, man immer nur auf sich selbst schaut, wird man einsam. Die schönsten Dinge passieren aber, wenn wir uns auf jemand anderen einlassen, der uns herausfordert, uns auf unsere blinden Flecken hinweist. All das können Kunstwerke auch.

Im Buch „Kann ich das auch?  stellt Kolja Reichert 50 Fragen an die Kunst (erschienen bei Klett Cotta, 20,-).
Im Buch „Kann ich das auch? stellt Kolja Reichert 50 Fragen an die Kunst (erschienen bei Klett Cotta, 20,-). © Klett Cotta | Klett Cotta

Sie nennen das Beispiel der Eheleute Herbert und Doris Vogel, die, obwohl sie kaum Geld hatten, in den 1960er-Jahren in New York eine veritable Sammlung an Minimal und Concept Art aufgebaut haben ...

Die beiden haben sich selbst nach hinten gestellt, haben auf Reisen verzichtet, ihr Geld dafür verwendet, um Künstlerinnen und Künstler zu unterstützen, sich weitergebildet. Und sind der beste Beweis: Das Leben wird durch die Kunst reicher. Man wird angstfreier, neugieriger, fantasievoller.

„Wie verrückt ist der Kunstmarkt?“, fragen nicht nur Sie im Buch, sondern eigentlich alle, die in den Medien über Rekordsummen bei Versteigerungen lesen, Sie erwähnen in dem Kapitel das Bild „Salvator Mundi“, das Leonardo da Vinci zugeschrieben wurde und die bisher höchste Summe von 450 Millionen US-Dollar bei einer Auktion erzielte.

Die Preise, die über Kunst erzielt werden, drücken nichts über die Werke an sich aus, sondern über die Verteilung der Vermögen auf der Welt. Im Jahr 2000 hat sich die weltweite Zahl der Milliardäre versechsfacht. Und der Kunstmarkt erinnert uns daran. Wenn wir uns über die Preise für Kunst empören, müssten wir uns eigentlich darüber empören. Die Kunst ist Opfer dieser Entwicklung, sie ist auch bedroht dadurch. Wenn die Preise derart schnell steigen, kann keine kleine Galerie sich mehr die Miete und die Produktion leisten, und die Künstlerinnen und Künstler wandern zur nächstgrößeren Galerie. Die dann, ähnlich wie jetzt schon in der Musikindustrie, den ganzen Markt beherrschen.

Ihr Anliegen ist es, den Menschen den Zugang zur Kunst zu erleichtern, ihnen das Handwerkszeug zu geben, damit sie ein gelungenes Kunstwerk „wie ein Loch in der Welt, durch das man von außen auf sie schauen kann“ für sich entdecken können. Ein gutes von einem schlechten Werk unterscheiden zu können ist die eine Sache. Die andere ist, gute von schlechten Kunstorten zu trennen. Was sind gute Orte, um mit Kunst in Kontakt zu kommen?

Sollten sich die Museen mehr öffnen, um Schwellenangst abzubauen?

Es wird einem am einfachsten gemacht im Museum, weil ein Museum wirklich versucht, die Menschen abzuholen und sich ihnen zu erklären. In Kunstvereinen verständigt man sich gegenseitig über Kunst. Und dann gibt es da noch die Messen. Dort tritt die Kunst als Ware auf, das heißt, ich kann mir überlegen, wie es wäre, mich mit meinem Geld über dieses oder jenes Kunstwerk mit einer Künstlerin oder einem Künstler zu verbinden. Das ist eine schöne Form des Kunstkennenlernens. Zu Hause schaut man dann, ob es hält. Falls nicht, hat man das Geld verloren (lacht). Beim nächsten Mal wird man vielleicht schon etwas sicherer vorgehen. Es ist übrigens auch positiv für den Kunstmarkt, wenn Menschen mitmachen, die nicht so viel Vermögen haben. Es macht ihn vielfältiger.

Eine Anmerkung zur Rolle von Museen: Das, was wir dort in den Ausstellungen sehen, wird uns ja von Kuratorinnen und Kuratoren vorgegeben. Müssten sich die Häuser nicht vielmehr öffnen, um die Schwellenangst herabzusetzen und andere Zielgruppen zu erreichen, da viele Menschen sich in Internetforen auch über Kunst austauschen?

Ich finde, das machen viele Museen schon. Aber die Auswahl dessen, was gezeigt wird, ans Publikum zu delegieren fände ich auch problematisch. Ich persönlich möchte in einer Führung nicht gefragt werden, was ich von einer Arbeit halte. Ich möchte jemanden bezahlen, der sein Leben lang dafür ausgebildet wurde, mir etwas über die Kunst zu erzählen, sie einzuordnen, mir etwas zu zeigen, worauf ich selber nicht gekommen bin. Das ist die Verpflichtung, die Museen eingehen. Es ist ja nicht so, dass man von allein weiß, was man will. Ein Vergleich aus meinem Buch dazu: Welches Kind mag schon Oliven? Man muss sich gemeinsam dazu bringen, gewisse Schwellen zu überschreiten.

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Sie kritisieren, dass es heute zu viele Kunstspektakel gebe, die eher vom Kunstentdecken ablenken. Gehört die Affordable Art Fair mit ihrem riesigen Angebot an nationalen und internationalen Galerien auch dazu?

Als die Staatsgalerie Stuttgart zur Präsentation von „Love is in the bin“, dem geschredderten Bild von Banksy, einlud, hatten die Veranstalter überhaupt nichts dazu zu erzählen. Das war ein leeres Spektakel. Messen sind zunächst einmal gut, weil sich dort viele Menschen versammeln, die miteinander diskutieren, sich gegenseitig herausfordern. Man sieht so viel, und das ist überhaupt erst einmal wichtig, um zu vergleichen. Vielleicht findet man dann ganz feine, unauffällige Arbeiten, die einem tatsächlich die ganze Wahrnehmung umstülpen. Aber ich habe zum Beispiel auch großen Spaß an Kunst, die ich schlecht finde. Das ist wie beim Flipper-Spiel, ein ständiges Angezogen- und Abgestoßenwerden. Deswegen ist es toll, dass es die Affordable Art Fair gibt, sie ist ein großer Gemischtwarenladen für gute und schlechte Kunst.

Affordable Art Fair 9.–12.11., Do 12.00–22.00, Fr 12.00–20.00, Sa 11.00–20.00, So 11.00–18.00, Hamburg Messe Halle 3 (U Messehallen), Eintritt 16,-/13,- (erm.), affordableartfair.com, Tickets unter aafhamburg.seetickets.com