Hamburg. Das neue Album des legendären Musikers ist inspiriert von dessen langer Karriere. Und es klingt ganz wunderbar.

„Wir brauchen einen neuen Hit, Jungs“, soll Sir Paul McCartney vor zwei Jahren süffisant bemerkt haben, als er bei einer Grammy-Party von Rapper Tyga in Los Angeles an den Türstehern scheiterte. Der Ex-Beatle war seinerzeit gerade dabei, die Jubiläumsedition zum 50. Jahrestag von „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ vorzubereiten und sich durch die alten Bänder zu wühlen. 1967 hatten die Beatles die Popmusik – mal wieder – auf ein neues Niveau gezaubert. Progressives Songwriting, Streicher, Bläser und Sitar, raffinierte Tricks in der Aufnahmetechnik machten „Sgt. Pepper“ als anspruchsvolles Konzeptalbum mit durchgehender Dramaturgie zum Meilenstein der Popmusik.

Und an diesen Meilenstein ging McCartney zurück, um von dort aus einen neuen Weg, einen neuen Alleingang anzupeilen, mit dem an diesem Freitag erscheinendem 18. Soloalbum „Egypt Station“ als Ziel. Es ist deutlich hörbar in jeder Sekunde das bislang ambitionierteste Werk des 76-Jährigen, der seit 1970 als Solist, mit seiner 1998 gestorbenen Frau Linda und mit seiner Band Wings zwar erfolgreiche Alben aufgenommen hat („Band On The Run“, „Tug Of War“, „Flowers In The Dirt“, „Off The Ground“), aber trotz Millionen verkaufter Tonträger für manche „nur“ der Ex-Beatle geblieben ist. Und auch noch der für die leichte Kost von „When I’m Sixty-Four“ bis „Ob-La-Di, Ob-La-Da“.

Ehrgeiz und die Neugier sind geblieben

Sir Paul darf es egal sein. Die Selbstzweifel, die die 70er-Jahre und damaligen ätzenden Kritiken brachten, sollte er überwunden haben. Aber der Ehrgeiz und die Neugier sind geblieben und gebündelt worden in „Egypt Station“. Zwei Jahre arbeitete Paul in Los Angeles, in einem Landstudio in Sussex und natürlich in den Londoner Abbey Road Studios an neuen Songs, unterstützt von Produzent Greg Kurstin, der bereits Adele, den Foo Fighters oder auch John Lennons Sohn Sean zur Hand ging und dieses Jahr einen Grammy als „Produzent des Jahres“ bekam. Den Großteil der Instrumente spielt McCartney selbst: Bass, Schlagzeug und Gitarren. Den Chor für den Prolog und Epilog des Albums nahm Kurstin in einer Kirche auf und schleppte dafür die Bandmaschine mit, die bereits 1966 für die psychedelischen Klangschleifen von „Tomorrow Never Knows“ auf dem Beatles-Album „Revolver“ sorgte.

Die Kniffe, die ungewöhnlichen und trotzdem enorm eingängigen Songstrukturen und die damals im Pop unerhörte Qualität der Kompositionen und Arrangements sorgte 1967 für einen Wow-Effekt, und tatsächlich erzeugt „Egypt Station“ für ein ähnliches Staunen. Für ein wohliges Gefühl der Vertrautheit. Es kommt heutzutage selten vor, dass man ein Album hört und nach wenigen Minuten denkt, spürt, fühlt: Oh, das hört sich sehr gut an. Irgendwie haben es McCartney und Kurstin, unterstützt von McCartneys Tourmusikern, geschafft, den Sound von den späten Beatles, von John Lennons Plastic Ono Band und auch von Pink Floyd zu einem ganz eigenen Hybrid zu kombinieren.

Nichts durfte gewöhnlich klingen

Es klingt völlig anders als „New“ (2013) und die anderen Vorgänger der letzten 48 Jahre, von denen einige wie „Ram“ (1971) erst spät gewürdigt wurden. Auch jüngere Werke wie „Flaming Pie“ (1997) oder die sehr ernste Platte „Chaos And Creation In The Backyard (2005)“ unterstrichen die Vielseitigkeit dieses Mozarts der Popmusik. Aber nun „Egypt Station“: Es klingt retro, aber nicht altmodisch, es klingt wie eine Beatles-Session 1968 während einer Rauchpause von John Lennon, George Harrison und Ringo Starr – und Yoko Ono, deshalb klingt es so entspannt.

Und die Lässigkeit ist bemerkenswert angesichts der Strenge im Studio. Die einzige Regel war, das nichts gewöhnlich klingen durfte. Jeder Klavierton, jeder Schlagzeug-Beat musste vor Pauls Ansprüchen bestehen. Dabei macht er selber immer noch viele Fehler und hat noch viel zu lernen, wie er im fantastischen, akustisch an Lennons „Imagine“ angelehnten „I Don’t Know“ zugibt, die Stimme angebrochen wie in Johnny Cashs Spätwerk. Auch in „Confidante“ hört man ihn: Ein Mann im Herbst seines Lebens, der all seine Erfahrung, sein Talent, seine Stärken, Erfolge und Rückschläge in einem hoffentlich nicht letzten Kraftakt konzentriert.

Das 18. Album „Egypt Station“ von Sir Paul McCartney
Das 18. Album „Egypt Station“ von Sir Paul McCartney © Capitol

Die schöne Liebesode „Happy With You“ macht das Klacken von Pauls Schuhsohle zum Herzschlag wie einst in „Blackbird“. „Who Cares“ und „Caesar Rock“ rocken kräftig nach vorne, und auch der manchmal schon plump poppige Ob-La-Di-Paul wird mit „Fuh You“ (For You? Fuck You?) und „Back In Brazil“ nicht ausgelassen. „Come On To Me“ rumpelt und kumpelt wie ein Song von Ringo Starr, und war bereits im Sommer in der bereits legendären Macca-Folge von „Carpool Karaoke“ zu hören: 31 Millionen YouTube-Aufrufe hat die singfreudige Liverpooler Autofahrt von Paul McCartney und Schauspieler und TV-Entertainer James Corden bislang schon angehäuft.

Seine politischen Lieder verpuffen, sagt Paul

„Ich glaube nicht, das ich brillante politische Lieder schreibe. Sie haben nicht den Effekt von ,We Shall Overcome‘ oder ,Give Peace A Chance‘“, gibt Paul im „Mojo“-Magazin mit Blick auf seine politischen Songs wie „Give Ireland Back To The Irish“ (1972) oder „Freedom“ (2001) zu. Und so ist „People Want Peace“ einer der wenigen Schwachpunkte auf dem neuen Album. Netter Versuch, versuch es noch mal, weshalb er dann mit der Mini-Oper „Despite Repeated Warnings“ sieben Minuten lang nachlegt. „Die, die am lautesten schreien, sind wohl nicht immer die klügsten.

Aber sie haben ihre größten Momente kurz vor ihrem Sturz“ erklärt McCartney, wenn er über einen Kapitän singt, der mit seinem Schiff entgegen aller Warnungen auf dem Kurs ins Verderben bleibt. „Wie können wir ihn stoppen?“, fragt Paul, „grab the keys and lock him up“: Holt die Schlüssel und sperrt ihn weg. Klar, wer der Kapitän ist, verbringt Paul McCartney doch viel Zeit in den USA. Wer frustriert ist, wer sich trotz eines Milliardenvermögens immer noch als Sohn der Arbeiterklasse sieht, macht dann einen traurigen Song, dann geht es einem besser.

Einen neuen Hit wie „Hey Jude“ findet man zwar nicht auf „Egypt Station“, die bisherigen Singles „I Don’t Know“, „Come On To Me“ und „Fuh You“ spielten in den Charts keine Rolle. Aber als Album, als Einheit, stehen „Egypt Station“ alle Türen offen.