Hamburg. Der Sänger erweist sich als Gefühlsperformer mit proletarischem Hintergrund. Wie vielschichtig der Abend ist, zeigen auch seine Gäste.

Vielleicht war ja genau das die Idee, als man zum ersten Mal darüber nachdachte, eine Elbphilharmonie zu bauen: dass hier ein Konzerthaus für alle entstehen könnte. Bei Bosse am Freitagabend macht es jedenfalls den Eindruck, als ob sich diese Idee einlöst: Windjackenträger und Abendkleiddamen, Hipster und Hausfrauen, Elbvorörtler und Niendorferinnen – tatsächlich versammelt sich so etwas wie ein Querschnitt der Hamburger Bevölkerung im ausverkauften Großen Saal. Axel Bosse, geboren 1980 in Braunschweig, nach einem Umweg über Berlin mittlerweile mit Familie in Blankenese ansässig, ist wohl wirklich so etwas wie ein Musiker für alle.

Bosse in der Elbphilharmonie: Band will Songs neu entdecken

Zur Eröffnung: „Kraniche“, zehn Jahre alt, im Original eine Klavierballade mit dramatischem Refrain, hier eine dunkel anschwellende Komposition, bei der sich die Melodie erst langsam aus den Streicher- und Gitarrenarrangements herausschält. Die neunköpfige Band will was, hier geht es nicht nur darum, die Songs zu reproduzieren, es geht darum, ihren Feinheiten nachzuspüren, sie neu zu entdecken.

Und dass der Sänger zu Beginn ein paarmal den Ton nicht genau trifft, wird mit Humor weggewischt: „So was darf in der Elbphilharmonie aber nicht passieren!“ Um ehrlich zu sein: Womöglich hätte man die Misstöne gar nicht bemerkt. Ein besonders nuancierter Sänger war Bosse noch nie, seine Qualitäten liegen woanders.

Bosse macht aus seinem proletarischen Hintergrund keinen Hehl

Manchmal wird Bosse als etwas rauere Variante von jüngeren, deutschsprachigen Gefühlsperformern wie Tim Bendzko bezeichnet. Das ist nicht ganz verkehrt, gerade die jüngste, am Tag des Konzerts veröffentlichte Platte „Übers Träumen“ legt großen Wert auf Sentiment und Emotion.

Aber das ist eben nur die halbe Wahrheit, auf der anderen Seite steht hier nämlich ein Musiker auf der Bühne, der aus seinem proletarischen Hintergrund keinen Hehl macht. Dass der sein Herz auf der Zunge trägt, ist keine verkaufsfördernde Pose, sondern Basis seiner Songs. Im Lokalen kann man ihn vielleicht mit Thees Uhlmann vergleichen, international, naja – Bruce Springsteen?

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Womöglich ist das zu hoch gegriffen, aber es zeigt ein wenig, wie vielschichtig dieser Abend tatsächlich ist. Was sich auch in den Gästen abbildet: Bei „Schlaf mit mir ein“ begleitet ihn Boy-Sängerin Valeska Steiner, bei „Salzwasser“, eigentlich ein Song zur Klimakatastrophe, der freilich als luftiger Sommerhit daherkommt, Rapper Alligatoah, mehrfach kommt das Streicherensemble Kaiser Quartett mit auf die Bühne („Die spielen sonst mit Leuten wie Chilly Gonzales, also mit größeren Künstlern!“), ebenso wie der vielköpfige Chor Hansemädchen. Der von Bosse mit den Worten „Ich bin ein Hansemädchen!“ angekündigt wird – die Musik mag handfest sein, ein Macho ist der Sänger aber nicht.

Bosse hüpft flummiballhaft über die Bühne der Elbphilharmonie

Im Gegenteil. Trotz der eher getragenen Klänge hüpft er flummiballhaft über die Bühne, und weil das überraschend gut passt, merkt man plötzlich: Der Typ sieht zwar nicht so aus, aber der kann tanzen! Nicht so gut wie Marie-Louise Hertog, die im Video zu „Loslassen lernen“ ein Ballettsolo hinlegt, klar. Das ist auch so eine Sache: Musikvideos mit Tänzerinnen drehen viele. Aber dafür nicht die Staatsoper zu mieten, sondern in einem abgerockten Ballettsaal im denkbar unglamourösen Gelsenkirchen zu drehen, weil Hertog dort am Musiktheater im Revier engagiert ist, das hat Klasse.

Und bei „Loslassen lernen“ Hertog aus dem Publikum auf die Bühne zu bitten, damit die kurz ihre Sneaker auszieht, ihre Performance zeigt und den Star des Abends an die Wand tanzt, das kann sich auch nicht jeder erlauben. Bosse kann es.