Hamburg. Gastspiel der Gruppe Rue Obscure führt im Theaterzentrum Wiese auf Irrwege. Als Zuschauer durchwandert man allein einen Kunstparcours.
Man wandert durch die Dunkelheit. Schemenhaft tauchen Erinnerungen auf, der Weg verästelt sich, man gerät auf Irrwege. Man bleibt stehen, man wartet, man geht zurück. Indem man durch die Installation „Gesichertes Gelände“ des Münsteraner Performancekollektivs Rue Obscure im Barmbeker Theaterzentrum Wiese wandert, wandert man durch Max Frischs Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“.
Im Grunde ist die 1979 veröffentlichte Erzählung kein Stoff, der sich fürs Theater anbietet: Ein alter Mann sitzt in einer Tessiner Berghütte und dämmert langsam in Richtung körperlichen und geistigen Verfall, eine beginnende Demenz wird angedeutet, und währenddessen suchen sintflutartige Regenfälle das Tal heim. Eine echte Handlung aber gibt es nicht: Einmal wird eine Wanderung über einen Bergpass geschildert (die beinahe in einer Katastrophe endet), ansonsten verschwimmt der Text ähnlich wie die Erinnerungen des Protagonisten.
„Gesichertes Gelände“ in Hamburg: Zuschauer durchwandern Kunstparcours
Erst 2016 gab es eine Bühnenadaption von Thom Luz in Basel, 2020 eine von Alexander Giesche in Zürich, vergangenen Mai ein Musiktheater-Experiment in Gelsenkirchen – alles Arbeiten, die eher Assoziationsreihen waren als Theaterstücke im traditionellen Sinn.
Rue Obscure, bestehend aus Anne Keller, Karina Behrendt und Katharina Kolar, gehen diese Wege konsequent weiter und verzichten ganz auf Schauspieler oder Figuren: Als Zuschauer durchwandert man alleine einen Kunstparcours und wird per Kopfhörer von Frischs Text begleitet. Man steht also vor einem Tisch mit schimmelnden Zitronen, vertrockneten Oliven und runzligen Kastanien, ein Hinweis auf die langsam voranschreitende Zeit in „Der Mensch erscheint im Holozän“.
Oder man geht durch einen engen Gang, an dessen Fenster unablässig Regen tropft, morgens, mittags, abends, an den einzelnen Scheiben sind Zettel befestigt, die die Uhrzeit nennen, ähnlich wie bei Frischs altem Mann, der seine Hütte mit Notizen tapeziert, um seine Erinnerung festzuhalten.
Und irgendwann merkt man: Man ist eben nicht alleine
Und irgendwann merkt man: Man ist eben nicht alleine. Drei Minuten nach einem hat sich der nächste Gast auf den Weg durch den Parcours gemacht, man sieht ihn nicht richtig, man ahnt ihn nur als Schatten in den Kulissen herumgeistern. Oder täuscht man sich? „Gesichertes Gelände“ ist im Gegensatz zur Behauptung im Titel ganz und gar nicht sicher, das Stück ist im Gegensatz eine formvollendete Verunsicherung.
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Die Uraufführung vergangenen August im Münsteraner Hawerkamp fand in einer halbzerfallenen Fabrikhalle statt, das Gastspiel in der Wiese hingegen läuft in einem aufgeräumten Theaterraum – das verändert den Charakter des Stücks. Das grundsätzliche Gefühl der Desorientierung aber bleibt, das nach und nach raumgreifende Dämmern, die Angst und die Ruhe.
Am Ende liegt man auf einer Matratze und starrt in den Himmel: Man sieht, wie sich das Land immer weiter entfernt, zunächst erkennt man noch Umrisse, das Voralpenland, den Bodensee, dann den Erdball, die Milchstraße, schließlich nichts mehr. Der Mensch erscheint im Holozän (beziehungsweise, naturwissenschaftlich korrekt, im Pleistozän), und in „Gesichtertes Gelände“ verschwindet er wieder.
Gesichertes Gelände 21. Oktober, 18 bis 21.20 Uhr, 22. Oktober, 17 bis 20 Uhr, Wiese eG, Wiesendamm 24, 30-minütige individuelle Rundgänge, Informationen, Tickets und Zeitslots unter www.wiese-eg.de beziehungsweise www.eventim.de