Hamburg. Im Mittelalter der 1950er-Jahre lautete die allererste Regel: Immer schön sexistisch sein! Ein Achtteiler erzählt nun davon. Gruselig.

Sie sei nicht klug genug, sagt der Chef (Derek Cecil) der wissenschaftlichen Einrichtung in der neuen Serie „Eine Frage der Chemie“ (Apple TV+) zu Chemie-Laborantin Elizabeth Zott (Brie Larson). Interesse an ihrer wissenschaftlichen Arbeit? Null. Ab und zu lächeln solle sie lieber mal. Was noch von Elizabeth erwartet wird? Sie könnte doch bei der Miss-Wahl des Labors mitmachen.

Das will sie aber nicht und tut es dennoch, mit dauerentgleisten Gesichtszügen. Elizabeth ist eine hochbegabte Chemikerin, die in den 1950er-Jahren im Gebiet DNA forscht. Beziehungsweise forschen möchte. Die männliche Vorsehung verlangt, eigentlich befinden wir uns hier in der Steinzeit, allerdings nach Elizabeth grundsätzlich nur im weiblichen Refugium des Haushalts und nicht im Bereich bahnbrechender Wissenschaft. Aber Elizabeth, deren Denken so sachlich ist – was gibt es Schöneres als Formeln? – und ziemlich nerdig, Elizabeth denkt nie daran, sich den Regeln des Patriarchats zu beugen.

„Eine Frage der Chemie“ auf Apple TV+: Die chemischen Prozesse des Kochens

Sie wird ein Star im Fernsehen. Mit einer Kochshow, in der sie ihren weiblichen Zuschauern nicht nur die chemischen Prozesse beim Kochen darlegt, sondern ihnen auch in den Allerwertesten tritt. Elizabeth Zotts Chemiestunden sind gleichzeitig Lektionen weiblicher Selbstermächtigung. Auch aufgrund dieser Botschaft wurde Bonnie Garmus‘ Roman „Lessons in Chemistry“, der die literarische Vorlage zur Serie lieferte, ein Riesenerfolg. In der deutschen Ausgabe „Eine Frage der Chemie“ wurden bislang 700.000 Exemplare verkauft.

Liebe geht durch den Magen: Lewis Pullman und Brie Larson in „Eine Frage der Chemie“.
Liebe geht durch den Magen: Lewis Pullman und Brie Larson in „Eine Frage der Chemie“. © Apple TV+ | Apple TV+

Ins Streaming-Programm von Apple TV+ passt der Stoff perfekt: Man hat sich dort zuletzt neben futuristischen oder Science-Fiction-Stoffen („Foundation“, „Silo“) vor allem historischen oder alternativ-historischen Themen („Pachinko“, „For All Mankind“, „City on Fire“) zugewandt. Top produzierte Kostümserien kann Apple; so entschieden im Bereich „Gesellschaftliche Schwundstufe“ war der Anbieter jedoch noch nie unterwegs.

Nicht zuletzt, was Komik angeht, baut „Eine Frage der Chemie“ auf die Gepflogenheiten und Rollenmodelle einer lange vergangenen Epoche. Es muss nicht ausschließlich Ungläubigkeit sein, mit der man als Betrachterin oder Betrachter auf die berufliche Ausgrenzung von Frauen reagiert: Über Elizabeth Zotts hartnäckigen, unbeirrbaren Weg durch die Mega-Diskriminierung ihrer Zeit kann man sich mitunter auch amüsieren. Das liegt an der Figur selbst und ihren Eigenheiten: Die Frau ist eine Chemie-Autistin, gewissermaßen.

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Vermutlich funktioniert der Stoff auf dem Bildschirm noch besser als in der literarischen Vorlage. Die von Brie Larson superb gespielte, von allerlei Schicksalsschlägen getroffene Heldin macht unbedingt Eindruck. Was man vorher schon gegen „Eine Frage der Chemie“ einwenden konnte, bleibt bezüglich der TV-Adaption jedoch bestehen: Elizabeths Erfolge spielen sich ausgerechnet in der Küche ab, also dem, was dann wohl mal eine weibliche Zwangsdomäne war. Wer soll sich damit heute identifizieren?

„Eine Frage der Chemie“: Frauen konnten nicht so, wie sie wollten

Es bleibt nur das Mitleid mit Frauen, die nicht so konnten, wie sie wollten (wenn sie das denn tatsächlich taten: etwas anderes wollen als Kind und Haushalt). Das Problem des Rassismus ist übrigens ebenfalls Thema einer Serie, die vor allem auch auf die Überwältigung durch Kitsch setzt. In Folge zwei, die sich umfänglich der Liebesgeschichte von Elizabeth und dem genialen Chemiker Calvin (Lewis Pullman) widmet, erleidet man einen Zuckerschock. Süß, die Naturwissenschaftler – wenn die Chemie erst einmal stimmt. „Eine Frage der Chemie“ soll ans Herz gehen, und das tut es auch, wenn man sich denn auf die hoch gepitchte emotionale Ebene einlassen will.

Calvins Liebeshandlungen („Du bist wie Medizin, die ich für immer nehmen möchte“), sein romantischer Verzicht (Kinder? Dann halt nicht!) manifestieren die gute, sympathische Version des Mannes, wo doch alle anderen linke, ausbeuterische, verlogene und vor allem arrogante Exemplare ihres Geschlechts sind. „Eine Frage der Chemie“ ist, andererseits, so wenig subtil wie die Zeit, in der die Serie spielt. Die Kochshow hat beim Senderchef einen schweren Stand. Elizabeth Zott verachtet ihn, das ist ganz klar. Der Senderchef ist ein Typ, der Sätze wie „Ein Mann will nach einem harten Arbeitstag, dass seine Frau ihm einen Drink macht“ sagt. Aus Unverschämtheiten wie dieser nimmt die Handlung ihren Drive.

Als märchenhafte Geschichte einer Frau, die sich gegen alle Zumutungen behauptet, ist „Eine Frage der Chemie“ eine Feelgood-Angelegenheit, die wahrscheinlich nicht nur zur weiblichen Selbsterbauung taugt. Allerdings dürfte klar sein, dass eine Bestsellerverfilmung wie diese wiederum kaum dazu taugt, Apple TV+ endlich einen richtigen Hit zu bescheren.

„Eine Frage der Chemie“ ist ab 13.10. auf Apple TV+ abrufbar. Die Autorin Bonnie Garmus ist am 7.11. in Hamburg zu erleben und stellt ihren Roman im Schauspielhaus vor.