Hamburg. Der König der Liederabende ist auch mit 75 noch nicht müde. Das St. Pauli Theater zeigt ab Sonnabend ein Best-of seiner Kiez-Trilogie.
Ende August feierte Franz Wittenbrink im St. Pauli Theater mit rund 300 geladenen Gästen seinen 75. Geburtstag. Von diesem Wochenende an lässt der Komponist und Arrangeur, der in den 1990er-Jahren am Deutschen Schauspielhaus mit szenischen Liederabenden wie „Sekretärinnen“ und „Männer“ ein eigenes Genre kreierte, den Wittenbrink-Abend, seine speziell fürs St. Pauli Theater geschriebenen drei populären Liederabende wiederaufleben. Wie „Mr. Liederabend“ aus „Lust“, „Nacht-Tankstelle“ und „Ricky“ eine neue „Lust auf St. Pauli“ wecken möchte und worauf er beim Konzipieren Wert legt, erläutert er im Kurz-Interview.
Abendblatt: Herr Wittenbrink, als Sie 2006 mit „Lust“ Ihren ersten Kiez-Liederabend fürs St Pauli Theater schrieben, hatten Sie da schon an eine Trilogie gedacht?
Franz Wittenbrink: Nein. Ich wollte ein Stück über die Reeperbahn machen, wie man sie so nicht kennt, ein Blick hinter die Fassade von Glitter und Sextourismus. Da sind fünf Putzfrauen, die ab morgens um sechs die Reste des Lustgeschäfts beseitigen, merkwürdige Besuche bekommen und über ihr Leben erzählen. Spannend, schräg und komisch. Die Idee, auch andere Orte und Milieus der Reeperbahn theatralisch zu beschreiben, kam mir erst später.
Franz Wittenbrink: „Mir ging es um einen Ort, an dem sich die Abgehängten und Ausgestoßenen treffen“
Die 2008 uraufgeführte „Nacht-Tankstelle“ hat sich bis heute zum Dauerbrenner in der Weihachszeit entwickelt, obwohl die kultige Esso-Tankstelle an der Taubenstraße, die für das Stück Pate stand, längst abgerissen wurde. Ist das Stück rund um die Kiez-Tanke nur noch pure Nostalgie?
Ein bisschen Nostalgie empfindet wohl jeder, der noch die alte Esso kennt. Aber für das Stück war das völlig unwichtig. Mir ging es um einen Ort, an dem sich die Abgehängten, Ausgestoßenen und temporär Heimatlosen treffen, – und das an Heiligabend, wo der Sentimentalitäts- und Gefühlspegel besonders hoch ist. Dass das Stück mit einem merkwürdig grotesk-lustigen Krippenspiel aller Tankstellenbewohner endet, ist sozusagen positive Utopie.
„Ricky – Ein Boxer aus St. Pauli“ war 2012 auch ein ironischer Seitenhieb auf den damaligen Hype um „Rocky – Das Musical“ nebenan im Operettenhaus und spielte stattdessen in der Kultkneipe Zur Ritze. Wer aber spielt jetzt den Puff-Poeten anstelle des im April verstorbenen George-Meyer-Goll?
Der Tod von George hat mich sehr getroffen, und er fehlt sehr. Er war ja geradezu die Verkörperung des Puff-Poeten in meinen drei Kiez-Stücken. Jetzt übernimmt diese Rolle Holger Dexne, ein genialer Komiker und meisterlicher Darsteller schräger Menschentypen. Er spielt auch wieder den Vertreter für Gurkenhobel. Der hat an Männlichkeit nicht viel zu bieten, dafür aber den eisernen Willen, mindestens Sylvester Stallone zu werden.
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Gibt es für den Komponisten und Arrangeur Wittenbrink Lieblingslieder, ohne die überhaupt keine „Lust auf St. Pauli“ aufkäme?
Zum Beispiel Hildegard Knefs „Ich zieh mich an und langsam aus“ oder „Der Boxer“ von Paul Simon mit deutschem Text von Anne Weber. Aber dass der Abend ohne bestimmte Lieder nicht funktionieren würde, ist falsch. Die Lieder müssen zu der Geschichte und zu den Figuren passen, danach suche ich sie aus. Und in diesem Sinne verändere, bearbeite oder travestiere ich sie. Ich verwende etwa das Lied „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“. Aber bei mir heißt es „Auf der Reeperbahn morgens um sechs“ und erzählt dann, wie die Putzfrauen das so sehen. Das ist im Übrigen das einzige traditionelle Reeperbahn-Lied, das in meinem Stück vorkommt. Ich will lieber Geschichten erzählen, mit und mittels Musik.
„Lust auf St. Pauli“ 14.–23.10., jew. 19.30 (So 18.00), St. Pauli Theater, Karten zu 19,- bis 54,- in der Hamburger-Abendblatt-Geschäftsstelle, Großer Burstah 18–32, T. 040 30 30 98 98; www.st-pauli-theater.de