Hamburg. Der Regisseur präsentierte „Anselm – Das Rauschen der Zeit“ im CinemaxX Dammtor. Eine Doku ist das eher nicht. Was ist es dann?
Was wusste man vor dem Film über Anselm Kiefer? Dass er sich in der Wehrmachtsuniform seines Vaters, den Hitlergruß zeigend, gemalt hat. Dass er für seine offene Auseinandersetzung mit deutscher Vergangenheit im eigenen Land angefeindet wurde und irgendwann nach Frankreich auswanderte. Dass er maximal große, düstere Bilder schafft. Dieses Wissen war schon gut und wichtig als Vorbereitung für „Anselm – Das Rauschen der Zeit“. Denn anders als angekündigt, ist das neue Werk von Wim Wenders (77) kein Dokumentarfilm „über den größten zeitgenössischen Künstler“. Es ist ein Essay über einen Maler, mit dem Wenders seit über 30 Jahren bekannt ist, mit dem er in diesem Jahr gemeinsam in Cannes bei den Filmfestspielen auftrat. Und den er mit aller Kraft versucht, ins rechte Licht zu rücken.
Am Sonntagabend kam der Regisseur allein via Moia ins CinemaxX am Dammtor zur Filmfest-Premiere. Die grauen Haare kürzer als gewohnt, dazu ein Schnauzer, der schwarze Anzug traditionell Thomas-I-punktig salopp. Und wie geduldig dieser große Mann auf Fotodrucken und Filmplakaten und Eintrittkarten mit mitgebrachten Eddings unterschrieb, Selfies mit Fans machte. Aber klar, er lebt ja auch davon. Der Kinosaal 1 war bis auf den letzten Platz belegt, man war allgemein sehr gespannt auf den jüngsten Geniestreich. Nach „Pina“ (2011) ist „Anselm“ das zweite filmische Künstlerporträt in 3-D-Technik.
Filmfest Hamburg: „Anselm – Das Rauschen der Zeit“, (k)ein Dokumentarfilm von Wenders
Es beginnt wie ein skandinavischer Krimi: Die Kamera umrundet ein weißes Brautkleid, das in einer leeren mediterranen Landschaft steht, die meterlange Schleppe ist mit Regenwasser und Dreck gefüllt. Später in einem lichtdurchfluteten Showroom sieht man mehrere solcher Kleider, mal mit Ziegelsteinen oder Ästen beladen. Von den Trägerinnen keine Spur. Schon dies signifikant für die folgenden 90 Minuten: Frauen spielen im Film überhaupt keine Rolle. Man hört sie nur als Wispern im Hintergrund.
Als Nächstes fährt Anselm Kiefer himself ein Lied pfeifend auf einem klapprigen Herrenrad durch eine seiner vier riesigen Atelierhallen in Croissy nahe Paris und besucht seine meterhohen Bilder, die auf Rollen hin- und hergeschoben werden können und zu denen er mit einer ausfahrbaren Treppe hinaufsteigt, um an ihnen zu arbeiten. Ab und zu hebt er einen Lappen an, um zu kontrollieren, ob die Farbe schon getrocknet ist. Er bearbeitet seine Bilder mit einem Flammenwerfer, spritzt heißes, flüssiges Metall auf am Boden liegende Leinwände und schlägt die Farbe aus einem riesigen Eimer mit einem Spachtel auf die Fläche.
Wim Wenders neuer Film ist eine reine Männerwelt, die sich da auftut
Es ist eine reine Männerwelt, die sich hier auftut. Eine, in der hart geschuftet wird. Das 40 Hektar große Anwesen einer ehemaligen Seidenfabrik im südfranzösischen Barjac, das heute für Besucher offensteht, habe Kiefer in den 1990er-Jahren ohne Hilfe von Architekten und Ingenieuren, nur zusammen mit seinen Assistenten in einen Kunstort mit Katakomben und Amphitheater umgebaut, heißt es in einer der vielen, etwas ermüdenden Szenen, in denen Kameramann Franz Lustig den Protagonisten durch die Ateliergänge folgt. Der Künstler im Zentrum als Genius, der seinen Gehilfen präzise Anweisungen gibt. Als Zuschauer staunt man zusammen mit dem Regisseur über diese irre Energie, diese Wut – nur auf was?
Zweieinhalb Jahre hat Wenders den 78-Jährigen bei der Arbeit begleitet. Er erzählt seine Geschichte in beeindruckenden, poetischen Bildern; die immersive Technik hebt dabei die extreme Textur und Materialität von Kiefers Werken hervor, man taucht förmlich ein in seine Kunst. Stark sind die Szenen, in denen Kiefer still auf dem Rücken liegt, oft hat er ein Buch mit Gedichten von Paul Celan in den Händen. Wie schwer es gewesen sein muss, als jüdischer Autor, dessen Eltern im Holocaust ermordet wurden, in deutscher Sprache zu schreiben, fragt sich Kiefer und zitiert aus Celans „Todesfuge“.
Anselm Kiefers Sohn Daniel spielt im Film den Künstler als jungen Mann
Was überraschenderweise fehlt, sind direkte Gespräche mit dem Künstler. Stattdessen streut der Regisseur immer wieder Ausschnitte aus Fernsehinterviews und Pressekonferenzen ein, in denen Kiefer als „Reaktionär“ und „Faschist“ bezeichnet wird, als jemand, „der in den Wunden deutscher Geschichte bohrt“. Etwa, wenn er Kampfflugzeuge aus Bleiblech nachbaut oder den Deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig mit „Parsifal“ und anderen „Deutschen Geisteshelden“ bespielt. Dann wieder adelt ihn das MoMa in New York mit einer riesigen Einzelschau. Wenders kennzeichnet diese Szenen nicht, man weiß weder, woher sie stammen noch von wann. Lediglich ein altes Fernsehgerät, das den Rahmen bildet, suggeriert die Ästhetik des Früheren.
Irritierend sind auch die fiktionalen Rückblenden in die Vergangenheit: Man sieht Kiefer als jungen Mann, der nach dem Kunststudium in einem einsamen Haus im Odenwald vor sich hin arbeitet, einmal unternimmt er mitten im Schneetreiben eine Autofahrt zu seinem späteren Lehrer Joseph Beuys, um ihm seine Bilder zu zeigen. Oder er fotografiert schneebedeckte Felder, auf denen schwarze, vertrocknete Sonnenblumen stehen. Aus einem anscheinend früher geführten Interview wird der Künstler zitiert: „Man kann doch eine Landschaft nicht einfach malen, wenn Panzer durchgefahren sind.“ Mit der Besetzung dieser Rolle habe der Regisseur seinen Freund überraschen wollen: Kiefers Sohn Daniel spielt den jungen Mann. Damit nicht Family Business genug: Wenders Großneffe Anton Wenders schlüpft in die Rolle des noch jüngeren Kiefer.
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Er habe „großes Muffensausen“ vor diesem Projekt gehabt, gestand der Regisseur nach dem Film im Kino. Wenders „Anselm“ zeugt von großer Nähe und Sympathie zu seinem Protagonisten, die aber dem Publikum nicht vermittelt werden. Das ist die Schwäche des Films, denn vieles, was erzählt werden könnte, scheint dem Regisseur selbstverständlich und bleibt ungesagt. Am Ende kommt man diesem rätselhaft bleibenden Künstler doch noch etwas näher. Anselm Kiefer resümiert über die Leichtigkeit des Seins. Der Mensch sei weniger als ein Tropfen im Regen, das Nichts im Sein oder umgekehrt das Sein im Nichts. Das habe doch auch etwas Tröstliches: „Wenn man mit einer großen Arbeit beginnt, weiß man, dass das Scheitern schon darin angelegt ist.“
Wim Wenders‘ „Anselm – Das Rauschen der Zeit“ 93 Min., FSK 6, läuft beim Filmfest noch einmal am Freitag, dem 6. Oktober, um 17 Uhr im Passage Kino. Offizieller Kinostart ist 12. Oktober.