Hamburg. Der Wahlhamburger Leon Gurvitch hatte zu Heine geladen. Sein Glück: Barno Ismatullaeva sang intensiv an einem ironiefreien Abend.
Es sollte ein Auftritt mit der Star-Sopranistin Olga Peretyatko werden. Der weißrussische Komponist, Pianist und Wahlhamburger Leon Gurvitch erzählte bei seinem Portrait-Konzert in der Elbphilharmonie, dass er schon intensiv mit Olga Peretyatko geprobt hätte: Lieder nach Gedichten von Heinrich Heine und von Anna Akhmatova. „Träumereien“ hieß der Abend, bei dem auch Klavier-Kompositionen von Gurvitch erklangen. Doch Olga Peretyatko musste krankheitsbedingt absagen. Barno Ismatullaeva aus Usbekistan von der Staatsoper Hannover sprang ein: weit mehr als ein Ersatz!
Der Kleine Saal der Elbphilharmonie war fast bis auf den letzten Platz gefüllt, eindrücklich, denn Gurvitch war bei seinem Konzert auch selbst der Veranstalter. Vielleicht war es eine Art Heimspiel? Fast immer mischten sich sofort in den Applaus kräftige Bravorufe, am Ende gab es Standing Ovations.
Elbphilharmonie: Gurvitch ließ sich von Chopin inspirieren
Den Auftakt machten zwei Solo-Klavierwerke, Uraufführungen. Die vier „Songs without tears“ haben meist einen poetischen Ton, der sich mit rhythmisch bewegteren Passagen abwechselt. Für singende Melodien hat sich Gurvitch stark unter anderem von Chopin inspirieren lassen. Dann schleichen sich Jazz-Harmonien in den Sound, oder die Melodie wandert mal von der Ober- in die Unterstimme.
Oft ist der Gestus auch sehr sprechend und erinnert an Klavierstücke der „Neuen Jüdischen Schule“ vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Wird es virtuoser, kommen einem schnell Schostkowitsch oder Strawinsky in den Sinn, was manchmal nahtlos in Patterns aus der Minimal Music übergeht.
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Dann spielte Gurvitch „Variationen“ über Schumanns Lied „Im wunderschönen Monat Mai“, eigentlich ein ganz poetisches Lied, mit verschlungenen, zärtlichen Linien und leisen, schmerzvollen Dissonanzen. Gurvitch hat diesen Aspekt fast ganz vernachlässigt. Er lässt das Klavier effektvoll mit Akkorden rauschen.
Im zweiten Teil spielte er noch einmal „Variationen“, diesmal über das berühmte La-Campanella-Thema von Paganini. Darüber gibt’s auch grandiose Variationen unter anderem von Rachmaninow. Gurvitch sagte in seiner Moderation vorweg selbst, dass er für sein Stück viel üben musste. Und tatsächlich schien er sich damit in Sachen Virtuosität ein wenig an seine pianistischen Grenzen zu bringen.
Elbphilharmonie: Die ironischen Heine-Lieder wurden ernst genommen
Dass er die gesamte Musikgeschichte kennt und gern Genregrenzen überquert – romantisch-klassische Floskeln gehen in Bartók, Clayderman oder Jazz über – hörte man auch in den beiden Liedzyklen. Die Textausdeutung der oft ironischen Heine-Lieder hat Gurvitch eher ernst genommen und mit viel Dramatik vertont, manchmal mit leisen sarkastischen Andeutungen durch Walzer oder Boogie-Klänge.
Hier wie bei der Uraufführung des Zyklus auf sechs Gedichte von Anna Akhmatova war es bewegend, wie sich Barno Ismatullaeva mit ihrem dunklen und kraftvollen Sopran in die Texte einfühlte. Als Opernsängerin hat sie eine tolle Bühnenpräsenz und ein starkes Gespür für Dramatik, aber auch für Balance mit introvertierten Passagen. Die Anspannung, die in den Gedichten von Akhmatova liegt – sie thematisieren oft den stalinistischen Terror –, vermittelte sie unter die Haut gehend. Das waren die intensivsten Momente an diesem musikalisch-stilistisch so bunten Abend.