Hamburg. Sogar Urgewalten brechen los: Die Junge Deutsche Philharmonie überzeugt unter Leitung des Komponisten Matthias Pintscher.

Covid? Das ist im späten 2023 für die meisten Menschen kaum noch mehr als einer der Infekte, die einen in der Wintersaison so erwischen können. Wie Influenza halt. Nur dass niemand auf die Idee käme, eine Totenklage für die Opfer einer Grippewelle zu schreiben. Matthias Pintscher jedoch setzt in seinem Orchesterwerk „Neharot“ den Bewohnern von New York ein Denkmal, der Stadt, die 2020 von der Pandemie so schwer getroffen wurde.

Wie kurz ist doch das menschliche Gedächtnis, dass das drei Jahre später ein wenig aus der Zeit gefallen wirkt. Überhaupt nicht aus der Zeit gefallen ist dagegen die Musik selbst. Die Junge Deutsche Philharmonie, unter Leitung des Komponisten zu Gast in der Elbphilharmonie, bringt das ungemein Körperliche an dessen Tonsprache zu voller Entfaltung.

Elbphilharmonie: Die Oboe turnt in atemberaubender Geschwindigkeit durch höchste Höhen

Mit Donnerblech, Röhrenglocken und roh gestapelten Blechbläserklängen brechen Urgewalten los. Besonders eindrücklich ist die von Pintscher komponierte bedrohliche Stille, wenn die Bläser tonlos Luft durch ihre Instrumente pusten, das Schlagzeug leise schleift oder hier und da ein tiefer Harfenton detoniert, als würde der Sturm die Tür eines verlassenen Hauses zuschlagen. Die Trompete stimmt ein „Kaddisch“ an, ein jüdisches Trauergebet, und die Oboe turnt in atemberaubender Geschwindigkeit durch höchste Höhen. Am Schluss bleibt nichts als ein verebbendes Horn-Echo von backstage. So klingt Einsamkeit in ihrer trostlosesten Form.

Trost bringt Mendelssohns e-Moll-Violinkonzert. Selten gehen Solisten oder Solistinnen so ins Risiko wie die niederländische Geigerin Noa Wildschut. Die 22-Jährige ergreift den ganzen Raum mit ihrer Emotionalität. Wie ein kleiner Derwisch dreht sie sich, um den Kontakt mit bestimmten Orchesterstimmen zu suchen, und stampft hörbar auf, wenn es intensiv wird. Da darf ruhig mal was krachen. Und manchmal halten alle förmlich den Atem an, um nur den hauchfeinen Moment nicht zu verpassen, in dem Wildschut nach einem Innehalten eine neue Phrase einläutet.

Elbphilharmonie: Das Niveau der Instrumentalisten steht sowieso außer Frage

Eine solche Intensität des Zusammenspiels ist Resultat ausführlicher Proben, für die ein Berufsorchester nie die Zeit hätte. Pintscher hat sorgfältig gearbeitet, und das gibt diesem Konzert eine besondere Tiefe. Es mag nicht alles perfekt gespielt sein, hier und da trübt sich bei Alexander von Zemlinskys Fantasie „Die Seejungfrau“ in den tiefen Abteilungen der Holz- und Blechbläser die Intonation, oder es klappert mal in der Abstimmung über große Distanzen. Was aber überwiegt, sind der Ernst und die Unbedingtheit des Musizierens.

Das Niveau der Instrumentalisten steht sowieso außer Frage. Die Konzertmeisterin Laura Ochmann spielt ihre ausgedehnten Soli – sie ist sozusagen die Seele der unglücklichen Nixe aus Hans Christian Andersens Märchen – mit großer Ruhe und melodischem Schmelz. Ein Erlebnis ist auch das tief empfundene, kammermusikalische Spiel des Solohornisten.

Mehr zum Thema

Das Publikum ist gebannt dabei. Die Veranstalter haben im Programmheft gebeten, auf Applaus zwischen den Sätzen zu verzichten. Es klatschen zwar doch einige dazwischen, Pintscher aber macht ein freundliches, klares Zeichen: Es geht noch weiter. Und so kann im dritten Satz die Seele der unglücklich liebenden, stummen Seejungfrau zu den Klängen von Geigen und Harfe in den Himmel aufsteigen.