In der Elbphilharmonie trafen sich der Literat und der Musiker auf der Bühne. Gut! Der heimliche Star war aber jemand anderes.
Die Frage, wer denn nun mehr Publikum angezogen hat an diesem Montagabend, der Popmusiker oder der Literat, war in der Elbphilharmonie nicht letztgültig zu klären. Clueso spielt oft Konzerte vor Tausenden. Benjamin von Stuckrad-Barre liest gemeinhin vor Hunderten (und in Hamburg immerhin einmal auch, leicht war’s nicht, vor Tausenden); das ist eine Monstergröße in dieser Disziplin der normal oft kleinen Zusammenkünfte in Buchhandlungen.
Beim Harbour Front Literaturfestival gab es nun also dieses Gipfeltreffen zwischen Pop und Literatur. Neben den beiden guten Freunden Stuckrad-Barre und Clueso – man trifft sich tatsächlich ab und an und liest bzw. singt sich dabei vor – gab es ein drittes Entertainment-Element auf der Bühne: Die Sängerin und Songwriterin Lotte steuerte auch ihren Teil zu einem sicher außergewöhnlichen Abend bei.
Harbour Front Festival: Perfect match wurde einst von Udo Lindenberg angebahnt
Wie hätte er das nicht sein können? Beim Harbour Front Festival sind die Musik-Literatur-Mix-Abende eh seit einigen Jahren etabliert: als künstlerischer Dialog der Disziplinen. Man hat es da manchmal mit überraschenden Kombinationen zu tun, eher aber noch mit welchen, bei denen man eine Wahlverwandtschaft vermuten kann.
Wie bei Stuckrad-Barre und Clueso. Deren perfect match wurde einst von Udo Lindenberg angebahnt – unabhängig davon konnte man davon ausgehen kann, dass nicht wenige im Publikum beide gleichermaßen toll finden. Clueso arbeitete mit Lindenberg vor knapp einem Jahrzehnt zusammen, Stuckrad-Barres Memoir „Panikherz“ war 2016 unter anderem eine reine Udo-Hommage. Lindenberg darf seitdem als eine Art Vaterfigur des übrigens in VIP-Kreisen bestens vernetzten Bestsellerautors gelten.
Die Fans hatten Lust auf das Edelambiente am Hafen
Die Show im großen Konzerthaus war die am schnellsten ausverkaufte in diesem Jahr in dieser Location. Und die Fans hatten, das zeigte sich schnell, Lust auf das Edelambiente am Hafen. Man war gleich drin in diesem Abendprogramm mit unablässigem, irre unterhaltsamen Stucki-Gequatsche, Songs und Lesestücken. Der Literaturteil bestand dabei überwiegend aus dem aktuellen Stuckrad-Thema, dem empörten, im April erschienenen Roman „Noch wach?“
Man besann sich jedoch gegen Ende, das bot sich als Schnittmenge an, auch auf Udo. Stuckrad las gemeinsam mit Clueso (auch er ein fitter Lindenberg-Imitator) aus „Panikherz“, und man lachte wieder an den richtigen Stellen, der Text ist gut gealtert oder gar nicht. Das war ja übrigens bei Erscheinen von „Noch wach?“ die Frage - wann das Haltbarkeitsdatum dieser furios wütenden und indiskreten Medien- und Machtmissbrauchsgeschichte denn überschritten sein würde.
Stuckrad-Barres rhetorisches Lieblingsgericht: die gewinnbringende Indiskretion
Das war es, wie sich zeigte, recht schnell. Der Instant-Bestseller stürzte früh ab, als die nicht kleine Fangemeinde, als die, die Bock auf Berlin-Tratsch hatten, ihrem Kaufimpuls erst mal nachgegeben hatten. Aber die Hauptstadt-Blase ist die Hauptstadt-Blase: Jenseits von Mitte interessierte der so pralle (und relevante, was sonst) Stoff dann doch weniger Leute, als man in Verlagskreisen gehofft hatte.
In Hamburg trägt zur fetten Stucki-Sättigung - im Juni las er in der Markthalle - derzeit auch noch die Bühneninszenierung von „Noch wach“ bei. In der Elbphilharmonie waren mögliche Overkill-Kontexte aber egal. Da zählten einzig die Live-Qualitäten dieses Mannes, der die Bühne braucht und sucht. Und der im rhetorischen Schnellkochtopf eines seiner Lieblingsgerichte aufkochte: Es ist das der gewinnbringenden Indiskretion. Zum nicht geringen Amüsement des ohnehin lachbereiten Publikums erzählte Stuckrad-Barre („Ich dachte, der ist bei der CDU“) von einer Begegnung mit dem Hamburger Bürgermeister anlässlich der „Noch wach?“-Premiere am Thalia. Sehr kurze Version: Mit Peter Tschentscher gerieten Stuckrad-Barre und seine Begleitung, der eine Spezialmischung rauchende Jan Delay, über die Frage aneinander, ob der Musiker an einer Veranstaltung am 3. Oktober teilnehmen soll. Der Erste Bürgermeister befürwortete dies dem Vernehmen nach sehr deutlich, aber Jan Delay hat es ja nicht so mit Deutschland.
Clueso verzückte mit seinen abgespeckt vorgetragenen Songs
Auch Clueso berichtete zwischendurch Anekdotisches, aber er trat doch insgesamt hinter den immer heißer laufenden Stuckrad-Barre zurück. Manch einer, manche eine im Publikum mochte diese Unwucht leise beklagen, lachte dann aber im nächsten Moment schon wieder über die selbstironische Egozentrik des Schriftstellers. Clueso tat das übrigens auch, und er verzückte von Zeit zu Zeit die 2000 Menschen mit seinen abgespeckt vorgetragenen Songs. „Chicago“, Udos „Cello“ - mit seiner Gitarre-und-Flügelhorn-Begleitband schlug Clueso die Elbphilharmonie in seinen Bann.
Seine romantischen, sanften Stücke waren die gefühlvollen, männlichen Gegen-Bewegungen zur in Stuckrad-Barres vorgetragenem Bericht skizzierten maskulinen Toxic-Linie. Die Arena der Übergriffigkeit, in der geile, manipulative Männer sich nehmen, was sie wollen, wird im Stuckrad-Style zu böser, smarter Literatur und das maskuline Subjekt zur lächerlichen Figur. Das noch vor dem Gelächter wirksamste Mittel zur Teufelsaustreibung waren die Songs und ihre Urheber; wie Clueso und Kollegen sich nach jedem Lied in den Arm nahmen? Wahre, gute Männlichkeit!
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Harbour Front Festival: Beeindruckender Auftritt der wunderbaren Lotte
Und so ergab insgesamt alles viel Sinn, die Texte (Stuckrad-Barre las zwischendurch auch ein Clueso-Gedicht) und vor allem auch der beeindruckende Auftritt der wunderbaren Lotte, die zum einen von weiblichen Erfahrungen mit männlicher Gewalt sang („So wie ich“) und zum anderen Stuckrads Sabbelei („Jetzt lass uns mal lesen“) immerhin einzudämmen suchte.
Running Gags über den lediglich im Kleinen Saal parallel auftretenden Weltstar Ute Lemper, ein fast schon unwahrscheinlich spontanes Dauergeplänkel mit einer Besucherin, die nach dem Austreten ihren Platz nicht wiederfand, und ein sattes Überziehen der vereinbarten Veranstaltungsdauer nebst Live-Verhandlungen mit der aus dem Off zu vernehmenden Festivalleitung: Es war einiges geboten. Ein guter Festivalabend.