Hamburg. Am 8.6.1986 wurden 861 – meist friedliche – Atomkraftgegner auf dem Heiligengeistfeld von der Polizei bis zu 14 Stunden festgehalten.
Als Eberhard Schürmann am 8. Juni 1986 um 20 Uhr in der Tagesschau sah, was gerade auf dem Heiligengeistfeld vor sich ging, machte sich der Hamburger so seine Gedanken. Mehrere Hundert Atomkraftgegner, so hieß es in den ARD-Nachrichten, waren seit Stunden von der Hamburger Polizei festgesetzt.
Schürmanns Sorge: Auch sein Sohn Jan könnte dabei sein. Von dem 15-Jährigen, der sich morgens mit seinem Freund Sven auf den Weg zu der Demonstration gemacht hatte, hatte er seitdem nichts mehr gehört.
Schürmann zögerte nicht lang. Statt im ZDF die WM-Partie zwischen Deutschland und Schottland im fernen Mexiko zu schauen, rief er den Papa von Sven an und gemeinsam machten sich die besorgten Väter mit dem Auto auf den Weg von Nienstedten zur Feldstraße am Heiligengeistfeld. „Wir konnten gar nicht glauben, was wir da sahen“, sagt der pensionierte Rechtsanwalt, mittlerweile 82 Jahre alt, 37 Jahre später am Telefon. „Das war ein politischer Skandal.“
Hamburger Polizei schloss Demonstranten in einem Kessel ein
Zu diesem „politischen Skandal“, der später als „Hamburger Kessel“ in die Geschichtsbücher einging und für viele auch ein „Polizei-Skandal“ war, gehörte natürlich auch eine Vorgeschichte. Diese begann am Vortag, am 7. Juni.
An jenem Sonnabend fand in Brokdorf eine Großdemonstration gegen das Atomkraftwerk statt, das in dem schleswig-holsteinischen Ort im Herbst ‘86 ans Netz gehen sollte. Auch Jan, der Sohn von Eberhard Schürmann, und sein Kumpel Sven wollten dabei sein.
Sechs Wochen nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl war die Debatte über Atomkraft in Deutschland Thema Nummer eins. Die Angst vor Verstrahlung und von neuen Reaktoren in der eigenen Nachbarschaft nahm immer mehr zu – genauso wie die Protestbewegung. „Wir wollten das alles nicht mehr so hinnehmen“, sagt Jan Schürmann, mittlerweile 53 Jahre alt, ebenfalls am Telefon.
„Hamburger Kessel“: Schon am Vortag im Brokdorf gab es Ärger
Sven, er und weitere Freunde hatten sich an dem Sonnabend mit Bussen auf den Weg zum Protestieren nach Brokdorf gemacht, waren dort aber nie angekommen. „Die Polizei hatte Straßensperren errichtet. Was ich da erlebte, hat mich mein Leben lang geprägt“, sagt Schürmann Junior heute.
Stundenlang wurden sie im Bus nahe des Örtchen Kleve festgesetzt, ehe sie zu Fuß weitergingen. Dann hätten Hubschrauber Polizisten abgesetzt, die mit Knüppeln Jagd auf die zum Teil jugendlichen Demonstranten gemacht hätten. „Noch am Abend wurde zu einer Protestdemo am nächsten Morgen auf dem Heiligengeistfeld aufgerufen“, erinnert sich Jan Schürmann. „Mir und meinen Freunden war klar, dass wir dabei sein mussten.“
Schürmanns Eltern war das nicht so klar. „Natürlich haben sich meine Eltern Sorgen gemacht, aber als 15- oder 16-Jähriger hat man andere Sorgen als die der eigenen Eltern“, sagt Jan, heute selbst dreifacher Vater.
Innensenator Lange sprach von anarchistischen Gruppen und RAF-Sympathisanten
Am nächsten Morgen versammelten sich tatsächlich jede Menge Atomkraftgegner auf dem Heiligengeistfeld. Offiziell angemeldet war die Demonstration nicht – natürlich nicht, schließlich sollte sich der Protest in erster Linie gegen den aus ihrer Sicht brutalen und unangemessenen Polizeieinsatz richten.
Während der 15-jährige Jan sich in erster Linie an friedliche und junge Demonstranten erinnert, sprach SPD-Innensenator Rolf Lange später von „anarchistischen Gruppen, polizeibekannten Sympathisanten der RAF, Leute von der Hafenstraße und sogenannte Autonome.“
Zur ganzen Wahrheit gehört allerdings auch: die Stimmung im Land – und besonders in Hamburg – war aufgeheizt. Die Hafenstraße war besetzt. Und nicht einmal einen Monat vor dem historischen Sonntag auf dem Heiligengeistfeld hatten gewaltbereite Demonstranten am Rande einer Anti-Atomkraft-Versammlung Scheiben im Rathaus eingeworfen. Mehrere Polizisten waren verletzt worden. Das, so Innensenator Lange, sollte in Hamburg kein zweites Mal passieren.
Um 12.22 Uhr kam der entscheidende Befehl per Funk
Als es dann am Sonntagvormittag immer mehr Protestierende auf das Heiligengeistfeld zog, nahm das Unheil seinen Lauf, wobei sich die Darstellungen der verschiedenen Protagonisten durchaus unterscheiden. Während die einen berichten, dass plötzlich von allen Seiten Hundertschaften Polizei aufmarschierten, behaupten die anderen, dass es schon zu diesem Zeitpunkt rund um den Bunker und der Feldstraße zu Straßenschlachten kam.
Unstrittig ist, dass es um 12.22 Uhr den entscheidenden Befehl per Funk gab: „Versammlung ist notfalls unter Benutzung des Schlagstocks einzuschließen“, hatte der Leitende Polizeidirektor angeordnet. Innensenator Lange, der zunächst nicht zu erreichen war, behauptete am Nachmittag, dass die Polizei „eine Schneise von Gewalt“ verhindert hätte.
Davon bekamen Jan und Sven allerdings nichts mit. Handys gab es damals noch nicht – und von besagten Straßenschlachten war laut Jan in Wahrheit nichts zu sehen. Trotzdem hatten die beiden Teenager noch Glück im Unglück. Denn als die Polizei anfing, die Demonstranten systematisch zu umrunden, nutzen die beiden Jungs das Chaos und büxten aus dem Kessel aus. Sie waren nun draußen, viele ihre Freunde aber noch immer drinnen.
Mehr als 1000 Polizeibeamte waren im Einsatz
Es begann ein zermürbendes Geduldspiel. Insgesamt 861 Demonstranten waren von mehr als 1000 Beamten eingekesselt. Allerdings hatte sich die Polizei offenbar nur wenig Gedanken darüber gemacht, was sie eigentlich mit den festgesetzten Aktivisten und Aktivistinnen machen sollte.
„Wir, die außerhalb des Kessels waren, demonstrierten dann für die, die innerhalb des Kessels waren“, erinnert sich Jan. Sven und er hätten auch immer wieder mit Polizeibeamten gesprochen, die zunächst Verständnis für die Demonstranten zeigten und sagten, dass auch sie gegen Atomkraft wären, hier aber die staatliche Ordnung aufrecht halten müssten.
Doch die Stimmung wurde von Stunde zu Stunde immer schlechter. Die eingekesselten Atomkraftgegner drinnen durften nicht mal auf Toilette nach draußen. Und draußen hatten die Polizisten, die noch vor Stunden Verständnis zeigten, auch irgendwann keine Lust mehr, sich vor 15- und 16-Jährigen zu erklären. „Einer der Beamten, der vorher noch ganz freundlich war, knallte meinem Freund Sven mit dem Knüppel voll gegen das Knie“, erinnert sich Jan.
Leserbriefschreiber kritisierte Innensenator Lange scharf
Als dann am Abend im fernen Queretaro Rudi Völler und Klaus Allofs aus einem 0:1 gegen Schottland ein 2:1 im zweiten WM-Vorrundenspiel machten, hielt auch Eberhard Schürmann nichts mehr im eigenen Wohnzimmer. Der besorgte Vater hatte seit mehr als zehn Stunden nichts mehr von seinem Sohn gehört, fuhr schließlich selbst zum Heiligengeistfeld und schilderte zwei Tage später in einem offenen Leserbrief an Innensenator Lange, den das Abendblatt abdruckte, was er vor Ort erlebte.
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Eberhard Schürmann schrieb: „An der nördlichen Bunkerhälfte vorbei gelangten wir dann zu den umstellten Demonstranten, und ich wollte mich vergewissern, ob unser Sohn dabei war. Als ich zwischen zwei Beamten hindurch zu den Demonstranten gehen wollte, wurde ich von mehreren Beamten zurückgezogen und geschubst.“
Und weiter: „Von einem Beamten, der mich besonders hart geschubst hatte, verlangte ich die Dienstnummer, worauf dieser sich abwandte und mehrere andere Polizisten stellten sich sofort zwischen ihn und mich. Einer dieser Beamten, der offenbar die Funktion eines Vorgesetzten hatte, forderte mich auf zurückzugehen, da ich nicht beabsichtigte, meinen derzeitigen Standort aufzugeben. Daraufhin drängte dieser Beamte mit Hilfe einiger anderer mich zurück, ein Beamter stellte mir ein Bein und ich stürzte zu Boden. Das Armband meiner Uhr riss, und ich erlitt Hautabschürfungen.“
Ging es der Polizei nur um „Provokation und Macht“?
Schürmanns Fazit zum Ende seines Briefes: „Was ich an diesem Abend erlebt habe, hat in mir den Eindruck erweckt, bei dem Eingreifen sei es in großem Maße auch um Provokation und Demonstration von Macht gegangen.“ Eine Antwort von Senator Lange erhielt er nie. Immerhin: Seinen wohlbehaltenen Sohn traf er kurz nach Mitternacht wieder – nicht am Heiligengeistfeld, sondern zu Hause.
Als dann auch der Kessel gegen 1 Uhr nachts endlich aufgelöst wurde und ein Großteil der festgesetzten Demonstranten zu verschiedenen Wachen gebracht wurden, war die Geschichte des „Hamburger Kessels“ allerdings noch nicht beendet. Die politische Aufarbeitung sollte gerade erst beginnen.
Bürgermeister Dohnanyi stellte sich zunächst hinter Lange
In der SPD-Regierung rumorte es. Die Senatoren Jan Ehlers und Jörg Kuhbier attackierten den unter Beschuss stehenden Innensenator Lange öffentlich. Bürgermeister Klaus von Dohnanyi hielt dagegen zunächst zu Lange und zur Polizei und bedankte sich für „den schwierigen Einsatz gegen die Gewalttäter“.
Erst später rückte er davon ab und beschrieb den Juni-Sonntag Jahre danach als „schwärzesten Tag“ seiner Amtszeit. Unmittelbare Konsequenzen zog aber nur Staatsrat Peter Rabels, der seinen Hut nahm. „Ich war von meiner SPD schwer enttäuscht“, sagt Eberhard Schürmann, der selbst seit Jahrzehnten SPD-Mitglied ist.
Neben der politischen Aufarbeitung verfolgte der Anwalt aber auch die rechtliche Aufarbeitung ganz genau. Als Nebenkläger war er sogar Prozessbeteiligter. Vier Monate nach dem „Hamburger Kessel“ erklärte das Hamburger Verwaltungsgericht die Einschließung von Demonstranten schließlich für rechtswidrig. Den 861 Opfern wurde ein Jahr später vom Landgericht ein Schmerzensgeld von jeweils 200 D-Mark zugesprochen.
Vier Polizei-Direktor wurden später schuldig gesprochen
Länger zogen sich die Strafverfahren hin. Die Ermittlungen gegen Innensenator Lange wurden zwar eingestellt, gegen die vier verantwortlichen Polizeichefs Heinz Krappen, Klaus Rürup, Alfred Honka und Lothar Arthecker wurde 1988 aber Anklage erhoben.
Als Prozessbeobachter dabei war auch Jan Schürmann, der mittlerweile seinem Vater nacheiferte und ein Jurastudium begonnen hatte. Das Urteil fiel schließlich drei Jahre später: Das Landgericht sprach die vier Polizisten der Freiheitsberaubung und Körperverletzung schuldig.
Von Seiten der Polizei, bei der sich auf Nachfrage auch 37 Jahre später kein Zeitzeuge finden lassen will, der den damaligen Einsatz noch einmal reflektiert, brauchte das Quartett dagegen nichts zu befürchten. Disziplinarische Maßnahmen wurden nicht eingeleitet, zwei von den verurteilten Polizeidirektoren wurden später sogar noch befördert.
„All das hat mich für mein Leben geprägt“, sagt heute Jan Schürmann. Er ist in die Fußstapfen seines Vater Eberhard getreten, ist ebenfalls Anwalt – und ist auch heute noch ein überzeugter Gegner von Atomkraft.
Vier Monate nach dem „Hamburger Kessel“ ging AKW in Brokdorf in Betrieb
Auf einer Demo ist er allerdings schon lange nicht gewesen. Dafür aber einer seiner Söhne, der knapp vier Jahrzehnte später bei den Versammlungen von Fridays for future für ähnliche Ziele wie sein Vater am 8. Juni 1986 kämpft.
„Hoffentlich hat die heutige Generation mehr Erfolg als wir damals“, sagt Jan Schürmann. Vier Monate nach dem „Hamburger Kessel“ auf dem Heiligengeistfeld und nur sechs Monate nach dem Supergau wurde das umstrittene Kernkraftwerk Brokdorf in Betrieb genommen. Damit war es weltweit der erste neue Atommeiler nach Tschernobyl.