Hamburg. Klaus von Dohnanyi, in den 1980er-Jahren Erster Bürgermeister der Stadt, gehört zu Hamburgs bedeutenden Persönlichkeiten.

Wenn Bücher Leben erklären könnten, bräuchte man für Klaus von Dohnanyi eine Bibliothek. Ungefähr eine dergestalt, die der 92-jährige Hamburger sein Eigen nennt. Bis heute arbeitet der frühere Erste Bürgermeister der Hansestadt in diesem imposanten Raum in seiner Stadtvilla und weiß genau, wo er welches Buch suchen muss. Dohnanyi ist ein Bildungsbürger, ein Bibliophiler, ein Intellektueller im besten Sinne. Und steht damit für einen Typus Sozialdemokrat, der selten geworden ist im Land.

Bildungsbürger ist er qua Abstammung. Er kennt nicht nur die Größen des Widerstands gegen den nationalsozialistischen Unrechtsstaat, er ist mit vielen sogar verwandt. Wenn er von ihnen erzählt, holt er diese deutsche Helden vom Sockel zurück in die menschliche Wirklichkeit. Er spricht von seinem Onkel Dietrich Bonhoeffer, mit dem er gemeinsam Ski lief, von seinem Vater Hans und seiner Mutter Christine, geborene Bonhoeffer. Klaus von Dohnanyi ist ein großer Erzähler, mit Wortgewalt wie weicher Stimme. Und er hat viel zu erzählen.

Dohnanyi: „Meine Eltern haben uns sehr liberal erzogen“

Wie es der Zufall so will, erblickt der Enkel des ungarischen Komponisten Ernst von Dohnányi das Licht der Welt in der Hansestadt: Am 23. Juni 1928 – im Jahr von Erich Maria Remarques Roman „Im Westen nichts Neues“ und Bertolt Brechts Uraufführung der „Dreigroschenoper“ – wird er in eine bald schwindsüchtige Weimarer Republik ­hineingeboren. Sein Vater ist zu dieser Zeit beim Hamburger Senat beschäftigt, wechselt 1929 ins Reichsjustizministerium nach Berlin, kehrt zwischen 1930 und 1932 noch einmal nach Hamburg zurück. Sein 15 Monate jüngerer Bruder Christoph von Dohnányi (er hat den Akzent auf dem a behalten), der spätere Dirigent, wird in der Hauptstadt geboren.

Dirigent Christoph von Dohnányi und sein Bruder Klaus (2020)
Dirigent Christoph von Dohnányi und sein Bruder Klaus (2020) © Roland Magunia / Funke Foto Services | Roland Magunia

Die Jungen wachsen erst in Hamburg, dann im bürgerlichen Berliner Stadtteil Grunewald auf. „Meine Eltern haben uns sehr liberal erzogen, sehr ungezwungen, ohne große Etikette“, erinnert sich Klaus von Dohnanyi. Sie hatten „einen Instinkt für freiheitliche Dinge im Leben“. Eine Weltsicht, die in den dunklen Jahren des Faschismus in Deutschland mehr und mehr erblindet. Die Offenheit zu Hause und das Schweigen draußen bedingen sich und begleiten die Kinder durch das vermeintlich „Tausendjährige Reich“. Die Söhne wechseln häufiger die Schule. Klaus von Dohnanyi besucht die Thomasschule zu Leipzig, geht auf das Benediktinergymnasium Ettal, anschließend an das Victoria-Gymnasium Potsdam. Die Schulwechsel helfen auch, die eigentlich obligatorische Mitgliedschaft in der Hitlerjugend zu umgehen.

Hans von Dohnanyi wurde im KZ Sachsenhausen ermordet

Schon 1933, kurz nach der Machtergreifung der Nazis, sucht Hans von Dohnanyi Kontakt zur Opposition und wird später zu einer zentralen Figur des deutschen Widerstands: 1938 ist er in den geplanten Staatsstreich eingeweiht, der wegen des für Hitler erfolgreichen Münchner Abkommens kurzfristig abgeblasen wird; 1939 wechselt er in das von Wilhelm Canaris geleitete Amt Ausland/Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht. Er ist an mehreren Attentatsversuchen auf den Führer beteiligt und wird gemeinsam mit seiner Frau am 5. April 1943 verhaftet, wie auch Dietrich Bonhoeffer; an diesem Tag endet die Kindheit des 14-Jährigen. Im Januar 1945 wird der damals 16-Jährige in ein Kampfbataillon des Reichsarbeitsdienstes nach Karstädt in der Prignitz einberufen.

Kurz vor Kriegsende wird Hans von Dohnanyi im KZ Sachsenhausen ermordet. Davon weiß Klaus nichts, als er nach der Kapitulation im Mai 1945 Informationen über den Verbleib seines Vaters sucht. Seine Reise durch das zerstörte Deutschland, durch Mecklenburg, Brandenburg, den Harz, Hessen und Franken, liest sich wie ein politisches Roadmovie. Er landet im Birklerhof, einem Ableger der Schule Schloss Salem, und trifft dort seine Mutter und seine Geschwister wieder. Ein Jahr später, im Jahr 1946, legt der Protestant sein Abitur am Benediktinerkloster St. Ottilien ab und studiert anschließend Rechtswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Nur drei Jahre danach hat der 21-Jährige schon das Erste Juristische Staatsexamen in der Tasche und wird 1950 mit „magna cum laude“ zum Dr. jur. promoviert.

Der Politik nähert sich Dohnanyi, seit 1957 Mitglied der SPD, langsam an

Dohnanyi zieht es nicht an die Gerichte, sondern ins Ausland. Mit einem Fulbright-Stipendium wechselt er an die Columbia University, nach Stanford und Yale. Wegen der Regeln des internationalen Austauschprogramms muss er nach einem Jahr zurück nach Deutschland und arbeitet am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Tübingen. Mit einem weiteren Stipendium kehrt er zum Abschlusssemester nach Yale zurück, in den Ferien jobbt er in einem bedeutenden New Yorker Anwaltsbüro und wechselt zu Ford nach Detroit. Der US-Autobauer beschäftigt ihn dann von 1954 an als Volontär in Köln, schnell steigt Dohnanyi hier zum Leiter der Planungsabteilung auf. Nebenher legt er 1957 das Zweite Juristische Staatsexamen ab.

Der Politik nähert sich Dohnanyi, seit 1957 Mitglied der SPD, langsam an. 1960 wird er Geschäftsführender Gesellschafter des Marktforschungsinstituts Infratest. Mitte März 1968 wechselt er als Staatssekretär ins Bundesministerium für Wirtschaft – unter dem Hamburger Karl Schiller, der bis heute wie kein Zweiter für Wirtschaftskompetenz in der SPD steht. Kaum im Job mit seinen Zuständigkeiten Europa und Außenwirtschaft, stellt Dohnanyi die Weichen für das europäische Gemeinschaftsprojekt Airbus. „Damals kam das Airbus-Dossier auf meinen Schreibtisch. Die Sache schien aussichtslos verfahren“, erinnert sich Dohnanyi. Die deutschen Flugzeugbauer mauerten, die Politik fürchtete Milliardenrisiken.

Früh werden die Medien auf den „kleinen Kennedy“ aufmerksam

Nur Franz Josef Strauß und Karl Schiller kämpfen für den Airbus, eine Mehrheit um Helmut Schmidt lehnt das Milliardenprojekt strikt ab. Unbeeindruckt schreibt Dohnanyi das Konzept für die Kabinettsvorlage, die Schiller schließlich in der Großen Koalition durchsetzt. Im Mai 1969 unterzeichnen Deutschland und Frankreich den Airbusvertrag und schaffen einen Meilenstein der Europa- und der Industriepolitik. Welch eine Ironie der Geschichte: Schon Jahrzehnte vor seinem Umzug in seine Vaterstadt hilft Dohnanyi damit dem Standort Hamburg auf die Sprünge.

Früh werden die Medien auf den „kleinen Kennedy“ („Capital“) aufmerksam, der sich sogar im Maßanzug souverän in der Kneipe unter Arbeiter mischen kann. Mit der Bundestagswahl 1969, die erstmals eine sozialliberale Koalition an die Macht bringt, wird Dohnanyi Mitglied des Hohen Hauses. Er wechselt zunächst als parlamentarischer Staatssekretär ins Bildungsministerium und wird schließlich 1972 Bundesbildungsminister, als sich der Amtsinhaber Hans Leussink müde zurückzieht und der vorgesehene Nachfolger Erhard Eppler abwinkt. Manche Medien sehen den Wechsel zu dem jungen Dohnanyi eher kritisch: „Selten hat ein Politiker unter deprimierenderen Umständen Karriere gemacht“, unkte die „Zeit“; die „FAZ“ lästerte: „Etwas Aalartiges hat dieser Mann, der jetzt, und das wird er trotz seines Schutzschildes, bestehend aus Selbstbewusstsein, wohl wissen, den gefährlichsten Gang in seiner politischen Laufbahn gehen wird.“

Die Einführung des BAföG geht auf den Hamburger zurück

Dohnanyi straft seine Kritiker Lügen. Er ist heute das letzte lebende Regierungsmitglied des ersten Kabinetts unter Willy Brandt, der ihn später als den „bestausgebildeten Politiker“ adelt, den die Sozialdemokraten haben. Geradezu visionär wirkt Dohnanyis Versprechen 1973, Kindergartenplätze für alle Dreijährigen zu schaffen und die Klassengröße an Grundschulen – die damals noch bei 37 Kindern lag – bis zum Jahr 1985 auf 19 bis 23 zu senken. Auch die Einführung des BAföG geht auf den Hamburger zurück. Gemeinsam mit Ludwig-Ferdinand von Friedeburg und Peter von Oertzen stößt er Reformen an, die das (Hoch-)Schulsystem für immer verändern.

„Besonders die Tatsache, dass drei Adelige zu den Protagonisten linker Bildungspolitik gehörten, hat den kleinbürgerlichen Populismus bis aufs Blut gereizt“, schreibt Peter Glotz in dem Buch „Vernunft riskieren“, das zum 60. Geburtstag von Dohnanyi 1988 erscheint. Neben ihm gehören der spätere Klimarebell Fritz Vahrenholt und der Kammerrebell Torsten Teichert zu den Herausgebern der Denkschrift. In der Bildungspolitik, so merkt Glotz an, konnte Dohnanyi seine „später perfektionierte Fähigkeit, sich zwischen Stühle zu setzen, ausreichend erproben“. Der Jurist aber ist kein Reformer um der Reformen willen – das bis heute hochgelobte duale Ausbildungssystem verteidigte er standhaft gegen massive Bestrebungen, es abzuschaffen.

Schmidt beruft Dohnanyi in sein Kabinett

Als Helmut Schmidt 1974 Kanzler wird, verliert Dohnanyi sein Amt: Als Symbolfigur der Ära Brandt und ohne Hausmacht in der SPD ist er für den Hamburger Schmidt entbehrlich. Es hätte Klaus von Dohnanyis politischer Abschied werden können – die rheinland-pfälzische SPD setzt ihn für die Bundestagswahl 1976 nur auf den wackeligen Listenplatz 13. Knapp wird er in den Bundestag gewählt und kehrt im Dezember 1976 als Staatsminister im Auswärtigen Amt zurück. Schmidt beruft Dohnanyi in sein Kabinett, der sich von ihm zwar „in Temperament und Stil, niemals aber im Politikverständnis“ unterscheidet – so ein Genosse. Mit knapp 50 Jahren beginnt Dohnanyi intensiv Französisch zu lernen. Sein Englisch ist seit Studienzeiten perfekt.

Als Hamburg, die alte Hochburg der Sozialdemokratie, als Folge der Grabenkriege zwischen links und rechts nach dem Rücktritt von Bürgermeister Hans-Ulrich Klose in eine Regierungskrise rutscht, erinnert sich der damalige SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz an Dohnanyis hanseatische Herkunft – und schickt ihn, der zu dieser Zeit SPD-Landesvorsitzender in Rheinland-Pfalz ist, in seine Geburtsstadt. Auch Schmidt hatte Dohnanyi inzwischen schätzen gelernt – schon 1979, als Dohnanyi sich anschickte, Ministerpräsident in Mainz zu werden (gegen Bernhard Vogel), murrte der Kanzler: „Mir wär es nicht lieb, wenn er wegginge, aber manchmal muss man sich von guten Leuten trennen.“

Klaus von Dohnanyi wird an der Elbe kritisch beäugt

Der Politikimport vom Rhein wird an der Elbe kritisch beäugt. Das Abendblatt kommentiert 1981: „Die Hamburger SPD ist tief in der Wählergunst gesunken. Und mit Walther Leisler Kiep steht ein gefährlicher Herausforderer vor dem Rathausportal. Warum Dohnanyi? Er ist ein gewandeter, weltoffener Mann … Doch Dohnanyi ist allen Beteuerungen zum Trotz in Bonn auch vergleichsweise leicht zu ersetzen.“ Die größte Gefahr, so hieß es in einem anderem Leitartikel, „scheint Dohnanyi denn auch nicht von seinem Amt her zu drohen, sondern von der Partei, die ihn als Chef ins Rathaus schicken will“.

Der damals 53-Jährige zögert dementsprechend, er spricht von der „schwierigsten Entscheidung seines Lebens“. Auch die tief zerstrittene Hamburger Sozialdemokratie reagiert zunächst mit Argwohn, sodass Kanzler Schmidt den Parteifreunden ein Ultimatum stellen muss, „den innerparteilichen Streit zu beenden“. Das Kanzlerwort verfängt. Im Juni 1981 stimmen 278 SPD-Delegierte in Hamburg für den Politikimport, 51 votieren gegen ihn.

1981 setzt Klaus von Dohnanyi erstmals Maßstäbe im politischen Hamburg

Mit seiner damaligen Frau, der Psychotherapeutin Christa Seidel, und der gemeinsamen Tochter zieht er an die Alster – die beiden Söhne sind schon erwachsen. Klaus von Dohnanyi wird der zweite Dohnanyi in dieser Zeit in dieser Stadt: Sein Bruder Christoph leitet als Intendant die Staatsoper. Über ihn sagt Klaus mit Ironie und einem Hauch Neid: „Er ist besser dran als ich, er bekommt sogar Applaus, wenn er den Leuten den Rücken zuwendet.“

Beim Deutschen Galopp-Derby 1981 in Hamburg-Horn: Klaus von Dohnanyi mit Altbundespräsident Walter Scheel sowie Helmut und Loki Schmidt.
Beim Deutschen Galopp-Derby 1981 in Hamburg-Horn: Klaus von Dohnanyi mit Altbundespräsident Walter Scheel sowie Helmut und Loki Schmidt. © picture-alliance/ dpa | dpa Picture-Alliance / Cornelia Gus

Mit seiner Regierungserklärung 1981 setzt Klaus von Dohnanyi erstmals Maßstäbe im politischen Hamburg. Er ist ein Meister des geschliffenen Wortes und hebt sich auch rhetorisch von seinem Vorgänger ab. Das nötigt vielen Journalisten Respekt ab. Ihm gelingt in den folgenden Monaten, überall Vertrauen aufzubauen und klassische Sozialdemokraten wie Unternehmer zu erreichen – er kommt in Barmbek gleichermaßen an wie an der Elbchaussee: „Für ein Abendessen mit Dohnanyi geben manche ihre Gesinnung gerne an der Garderobe ab“, ärgern sich Konservative.

Bei den Neuwahlen im Dezember 1982 erhält die SPD die absolute Mehrheit

Trotzdem wird seine erste Wahl am 6. Juni 1982 für sozialdemokratische Verhältnisse ein Debakel. Die Verluste bei der Bürgerschaftswahl sind so hoch, dass Dohnanyi nur geschäftsführend im Amt bleiben kann; fortan ist von „Hamburger Verhältnissen“ die Rede – weder CDU noch SPD verfügen über eine ausreichende Parlamentsmehrheit. Aus den Neuwahlen am 19. Dezember 1982 geht die SPD dann aber mit der absoluten Mehrheit von 51,3 Prozent der Stimmen als Sieger hervor – der sogenannte Schmidtleidseffekt nach der Wende in Bonn lässt viele Hamburger noch einmal SPD wählen.

Die 80er-Jahre sind für Hamburg schwierige Jahre: Die Wirtschaftskrise der Bundesrepublik schlägt auf die Stadt mit voller Wucht durch – der Hafen leidet, die Werften sterben, Raffinerien müssen schließen, die Staatsverschuldung steigt, die Kriminalität ist hoch. Allein 120.000 Hamburger leben 1983 von der Sozialhilfe. „Niedrige Wachstumsraten, überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit und hohe Sozialausgaben sind das Ergebnis langfristiger Tendenzen“, beschreibt der Bürgermeister selbst die Herausforderungen seines Amtes in seiner berühmt gewordenen Rede vor dem Übersee-Club 1983 zum „Unternehmen Hamburg“.

Der linke und der rechte Parteiflügel schlagen mit Wonne aufeinander ein

Es ist ein Unternehmen in Schief­lage: Gleich hinter der Stadtgrenze in Ahrensburg beginnt der sogenannte Zonenrand. Schlagzeilen aus Hamburg sind oft Negativschlagzeilen: Umweltskandale wie der Dioxinskandal 1983 in Georgswerder erschüttern die Republik. Wegen Smog muss 1987 die ganze Stadt für acht Stunden gesperrt werden. Auch der Umgang mit der Kernkraft bleibt ein schneller Brüter der Zwietracht. Der linke und der rechte Parteiflügel schlagen mit Wonne aufeinander ein, dass Beobachter manchmal gleich zwei Parteien in der Hamburger SPD vermuten.

Am 1. März 1983 klebt Dohnanyi  Wahlplakate für seine SPD.
Am 1. März 1983 klebt Dohnanyi Wahlplakate für seine SPD. © picture-alliance / dpa | dpa Picture-Alliance / Werner Baum

Das Kernkraftwerk Brokdorf geht in Betrieb, zugleich einigt sich die Partei auf einen späteren Atomausstieg. Affären und Skandale, wie etwa um die Neue Heimat, treffen die Sozialdemokraten. Dagegen werden die Erfolge nur unscharf wahrgenommen: Hamburg baut die Forschung aus, investiert in Museen und Kultur, betreibt eine wirtschaftsfreundliche Politik mit dem Ausbau der Messe und des Medienstandorts sowie der Ansiedlung neuer Unternehmen,

Am 8. Juni 1988 tritt Dohnanyi vom Amt des Ersten Bürgermeisters zurück

Bei der Bürgerschaftswahl 1986 wird es abermals eng. Sein CDU-Herausforderer Hartmut Perschau spottet über den „politischen Dressman“ Dohnanyi mit dem „verklärten Aristokratenblick“. Der Bürgermeister schlägt mit dem Florett zurück – Perschau sei „das kleinste Karo, das man mit bloßem Auge noch erkennen kann“. Die SPD verliert erneut die Mehrheit und landet mit 41,7 Prozent sogar knapp hinter der Union. Dohnanyi verhandelt wochenlang mit der damals arg chaotischen GAL, um schließlich festzustellen: „Mit denen geht es nicht.“ Erneut müssen die Wähler Hamburger Verhältnisse beenden. Nach der Bürgerschaftswahl am 17. Mai 1987, die die SPD auf 45 Prozent katapultiert, trägt eine sozialliberale Koalition seinen Senat.

Doch lange bleibt Dohnanyi nicht mehr im Amt – am 8. Juni 1988 tritt er vom Amt des Ersten Bürgermeisters zurück. Politische Beobachter wähnen hinter dem überraschenden Rückzug innerparteiliche Intrigen als Ursache, mangelnden politischen Spielraum und eine wachsende Amtsmüdigkeit. Dohnanyi selbst betont hingegen, dass dieser Schritt nur der folgerichtige Teil einer langfristigen Lebensplanung war. Er habe immer vorgehabt, nicht länger als 20 Jahre aktive Politik zu machen, weil man sich „verschleißt“. Ursprünglich habe er schon im März 1988 zurücktreten wollen, dann aber aus Rücksicht auf die Wahl in Schleswig-Holstein noch gewartet. Schon im November 1987 führt er in einem Brief an, dass sich nach zwei Jahrzehnten politischer Tätigkeit die „Kreativität und Durchsetzungs­fähigkeit abnutzen, sodass die Freude an der Arbeit verloren geht“.

Die Freude indes wird ihm auch vergällt: Der ewige Streit um die Kernkraft setzt ihm zu, Unruhe macht sich in der Stadt breit – in seine Amtszeit fallen unter anderem der sogenannte Hamburger Kessel, die Einkesselung von Atomkraftgegnern, der endlose Streit um die Hafenerweiterung in Altenwerder. Weit über die Stadtgrenzen hinaus erreicht die Hafenstraße berüchtigte Berühmtheit. Umstritten ist auch Dohnanyis mutige, friedliche Lösung des Hafenstraßenkonflikts, der ungeheures Eskalationspotenzial barg. Als die Straße von den Besetzern für den großen Kampf gerüstet wird, gibt der Bürgermeister sein Wort, die Häuser nicht räumen zu lassen – und bewegt so auch Gewalttäter zur Abrüstung.

Die Lösung des Konflikts an der Hafenstraße

Die friedliche Lösung des Hafenstraßenkonflikts muss er gemeinsam mit seinem Stellvertreter Ingo von Münch (FDP) gegen massive Widerstände in beiden Parteien durchsetzen. Viele sehen die Befriedung der Hafenstraße als Skandal, als Kapitulation vor Gewalttätern; heute gilt sie hingegen als Beispiel kluger und weitsichtiger Politik. „Wer schafft das neue Fundament, auf dem eine gewaltlose Bewältigung von Konflikten möglich bleibt? Doch immer nur die, die wir als Außenseiter verstehen, die Nonkonformisten, die widersprechenden Minderheiten. Diejenigen also, die widerstehen“, sagt er später in seiner Dankrede für die Verleihung der Theodor-Heuss-Medaille. „Das aber heißt: Zur Sicherung des zukünftigen Friedens sind uns gerade diejenigen unentbehrlich, die das geltende Recht infrage stellen.“

Mutige Worte eines mutigen Menschen. Hinter ihm liegen anstrengende, fordernde Jahre. „Kein Wunder, dass der Kopf des Mannes, der sieben Jahre Hamburg geführt hat, ernster, hagerer und auch eine Nuance bitterer geworden ist“, schreibt Peter Glotz. Man muss Geschichte aus ihrer Zeit heraus verstehen. 1988 widmet „Merian“, eigentlich ein Reisemagazin, ein ganzes Heft der Hansestadt und zeichnet die Lage in düsteren Farben: „Hamburg ist pleite, der Hafen auf Rang 5 in Europa abgerutscht.“ Das Fazit des Autors („Bitte eine Nummer kleiner“) verschwindet später in der Manteltasche der Geschichte, die 1989 mit dem Mauerfall den Hafen, die Wirtschaft, ja Hamburg rettet. Das Hinterland im Osten ist plötzlich wieder da. Kaum eine Stadt profitiert so von der Wiedervereinigung – doch da ist Klaus von Dohnanyi schon Privatier.

Seine Expertise wird immer wieder angefragt

Auch nach dem Ende der Amtszeit bleibt Dohnanyi eine Figur auf der politischen Bühne. Als Beauftragter der Treuhandanstalt privatisiert er ostdeutsche Kombinate, er wird Gründungskommissar der Bucerius Law School in Hamburg. Von 2003 bis 2004 übernimmt er im Auftrag der rot-grünen Bundesregierung die Rolle des Sprechers des Gesprächskreises Ost mit 16 Experten. Wie schon direkt nach der Wende wirbt Dohnanyi eindringlich dafür, nicht allein auf den Aufbau der Infrastruktur in den neuen Ländern zu setzen. Stattdessen müssten das verarbeitende Gewerbe, die Industrie, eine umfassende Forschungslandschaft und eine entsprechende Ausbildung gefördert werden. Der Gesprächskreis sagt viel Richtiges, aber dringt bei der Bundesregierung kaum durch. Nach wenigen Monaten löst sich das Expertengremium auf.

Manfred Lahnstein, Olaf Scholz und Klaus von Dohnanyi (2015)
Manfred Lahnstein, Olaf Scholz und Klaus von Dohnanyi (2015) © Roland Magunia | Roland Magunia

Seine Expertise wird immer wieder angefragt: 2009 leitet er den Mindestlohnausschuss der Bundesregierung, im Jahr 2010 ist er der federführende Schlichter im Tarifkonflikt bei der Lufthansa. 2011 wird er Mitglied der Ethikkommission für eine sichere Energieversorgung, die der schwarz-gelben Bundesregierung einen schnellen Atomausstieg empfiehlt.

Mehrfach lobt der SPD-Politiker die Kanzlerin der Union

Ein Jahr später ist der 83-Jährige sogar als Bundespräsident im Gespräch. 2014 bestätigt er in einer Fernsehsendung, dass Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ihn 2012 nach dem Rücktritt von Christian Wulff als Kandidaten ins Spiel gebracht hatte. „Klar hätte ich es gemacht. Wer wird denn das Bundespräsidentenamt ausschlagen, wenn es ihm angeboten wird?“, sagt Dohnanyi im Gespräch mit der Moderatorin Sandra Maischberger.

Mehrfach lobt der SPD-Politiker die Kanzlerin der Union, beispielsweise 2014 mit dem Satz. „Ich halte ihre Politik für klug, weitsichtig und bescheiden.“ An diesen Elementen fehle es in Deutschland und in der Welt. „Deswegen halte ich sie für eine sehr gute Bundeskanzlerin.“ Die Wertschätzung beruht auf Gegenseitigkeit: Seit Jahren sind der SPD-Politiker und die CDU-Kanzlerin, die nicht nur der Geburtsort Hamburg vereint, befreundet.

Die Republik feiert seinen 90. Geburtstag mit Hochrufen

1996 heiratet Dohnanyi die Schriftstellerin und Lyrikern Ulla Hahn. Sie widmet ihm zu seinem 90. Geburtstag das schöne Gedicht: „Wenn du erwachst am Morgen / deines zweihundertsten Geburtstages / reibst du dir die Augen, ziehst deiner einhundertdreiundachtzigjährigen Frau / die Bettdecke weg, springst auf die Füße / topfit und fidel /als wärst du soeben gerade mal / neunzig geworden.“

Peter Tschentscher und sein Vorgänger bei dessen 90. Geburtstag (2018).
Peter Tschentscher und sein Vorgänger bei dessen 90. Geburtstag (2018). © picture alliance / Geisler-Fotop | dpa Picture-Alliance / gbrci/Geisler-Fotopress

Die Republik feiert seinen 90. Geburtstag mit Hochrufen. „,Politik beginnt mit der Betrachtung der Wirklichkeit‘ – diesen Satz des Sozialdemokraten Kurt Schumacher haben Sie sich ein Leben lang zu eigen gemacht“, gratuliert ihm Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am 22. Juni 2018. Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) lobte den Vorvorvorvorvorvorgänger als „unabhängig im Denken, streitbar, analytisch, gebildet, international und wirtschaftlich erfahren“.

Ihn schert wenig, was Parteifreunde von ihm erwarten

Dabei scheut er nie den Konflikt. Klaus von Dohnanyi ist ein Freigeist, wie sie selten werden in der Bundesrepublik, ja, verstummen. Ihn schert wenig, was Parteifreunde von ihm erwarten oder die politische Korrektheit vorschreibt. Streitbar wie streitlustig ficht er für das freie Wort und verteidigte den umstrittenen Ex-Genossen Thilo Sarrazin in dem ersten Parteiausschlussverfahren nach dessen Buch „Deutschland schafft sich ab“. Mit Verve bringt er sich in die Debatten seiner Heimatstadt ein. An der Alster treffen sich 2013 zufällig Dohnanyi und der frühere CDU-Finanzsenator Wolfgang Peiner – es war eine Begegnung mit weitreichenden Folgen.

Beide treiben seit Langem die Schwächen des Wissenschaftsstandortes um. Gemeinsam mit Willfried Maier (Grüne) starten sie den Aufruf „In Sorge um Hamburg“ für eine intensivere Unterstützung von Wissenschaft und Forschung: Olaf Scholz­ (SPD) empfängt das Trio im Rathaus und steuert in der Folgezeit die Wissenschaftspolitik um. So gestaltet der 92-Jährige noch mehr als drei Jahrzehnte nach seinem politischen Abgang die Geschicke der Stadt mit.

Und wird es weiter tun.

Hoffentlich.