Hamburg. 5000 Menschen zahlen ihre Miete selbst und sind doch öffentlich untergebracht. Ein Bewohner berichtet.

Eins ist sicher: Harald Milter ist keiner, der jammert. Trotz Rückenproblemen und kaputter Knie zeigt Milter dem Abendblatt sein Zuhause – zumindest von außen. Einmal rund herum, an der Pferdekoppel und einer Wiese übersät mit gelben Kamillenblüten vorbei, sind es in etwa 4500 Schritte. Damit Milter es schafft, muss der 66-Jährige zwischendurch pausieren.

Doch Milter ist kein Großgrundbesitzer. Und auch nicht vermögend. Im Gegenteil: Was nach einem großen Anwesen in bester Lage klingt, ist in Wahrheit eine Flüchtlingsunterkunft, zusammengebaut aus weißen Wohncontainern. Unter dieser Kategorie wird das Zuhause von Milter in Sülldorf zumindest auf der Webseite des Senats aufgeführt. Doch anders als der Name es vermuten lässt, wohnen dort nicht nur Geflüchtete.

Wohnung Hamburg: Deutscher lebt seit drei Jahren in einem Flüchtlingsheim

Es sind auch Menschen wie Milter, Hamburger und kurz vor der Rente, die in „Sieversstücken“ ein neues Zuhause auf Zeit finden. Unglücklich wirkt der 66-Jährige zwar nicht, als er so neben der Pferdekoppel steht und durch den silbernen Zaun und Grün auf sein Zuhause auf Zeit schaut.

Wobei „auf Zeit“ bei Milter mittlerweile drei Jahre bedeutet. So lange ist der gebürtige Hamburger nun bereits einer von insgesamt 650 Bewohnern. Doch warum genau wohnt jemand wie Milter in einer Geflüchtetenunterkunft? Und vor allem: warum so lange?

Das ist eigentlich ganz einfach. Weil der Bedarf nach Sozialwohnungen höher ist als die Stadt sie anbieten kann, warten von den insgesamt 45.600 Personen in öffentlicher Unterbringung laut Sozialbehörde aktuell 9954 „unversorgte Haushalte mit Dringlichkeitsbestätigung“ auf eine Wohnung. Das ist laut Behörde entweder der Fall, wenn Selbsthilfemöglichkeiten fehlen und Obdachlosigkeit droht, die Betroffenen Ansprüche auf Sozialleistung haben oder sie eine Aufenthaltsgenehmigung nach dem Asylgesetz haben.

Doch nicht alle von ihnen bekommen ihre Miete erstattet. Da zwar nicht statistisch erfasst wird, wie viele Mieterinnen und Mieter einer Erwerbstätigkeit nachgehen und selbst für ihre Miete aufkommen, kann die Behörde nur schätzen, wie hoch der Anteil derer ist, geht aber in etwa von zehn Prozent aus. Seit dem 1. September 2023 liegen die Kosten pro Person bei 733 Euro.

Rund 540 Euro Miete inklusive Nebenkosten für ein Zimmer mit zwei Betten

Und weil bei Milter eins zum anderen kam, wohnt der Hamburger auch in einer öffentlichen Unterbringung. Erst die Sperrung seines Kontos, als er in einer Reha war, und dann die Kündigung seiner Wohnung, weil der größte Vermieter von Sozialwohnungen in Hamburg (Saga) die Miete von dem gesperrten Konto nicht habe abbuchen können. Dabei habe das Geld doch auf dem Konto gelegen. Und die Kosten für die Räumung seiner ehemaligen Wohnung, die zahlt der Hamburger immer noch ab.

Da Milter seit 2007 arbeitslos ist und nun Bürgergeld bekommt, zahlt er bisher rund 540 Euro Miete inklusive Nebenkosten für sein Zimmer. Über eine Arbeitsgelegenheit, kurz AGH, vermittelt vom Jobcenter, verdient sich der Hamburger als Aushilfsfahrer für das Sozialkaufhaus BaNotke im Monat 200 Euro hinzu. Dafür nimmt Milter jeden Morgen den Bus um 6.30 Uhr nach Bahrenfeld, wie er erzählt.

Kaum Austausch mit Mitbewohnern – wegen Sprachbarrieren

Auch soziale Kontakte hat der Hamburger. Seine Kindheitsfreunde aus Neugraben-Fischbek besuchten ihn regelmäßig, auch seine Tochter komme, sagt Milter. Weil diese aber in Frankreich wohnt, sei das relativ selten.

Doch es besteht Aussicht auf Besserung: „Vielleicht kann ich ab Dezember eine Wohnung in Blankenese beziehen. Das hängt jetzt vom Vermieter ab“, sagt Milter. Vermittelt bekommen habe er den Kontakt durch seine Cousine aus Cuxhaven. Und „Besserung“ – das meint Milter gar nicht abwertend. Prinzipiell gehe es ihm gut hier, sagt er. Manchmal störe ihn nur, dass es nicht immer sehr sauber sei und Sprachbarrieren den Austausch mit seinen Mitbewohnern behindern, die aus Schweden, Italien und dem Libanon stammen.

Flüchtlinge aus 46 Nationen leben in der Unterkunft

„Teilweise verständigen wir uns mit Händen und Füßen“, sagt Milter. Das gehe zwar, sei aber wirklich mühsam und zu guten Gespräche komme es deshalb kaum. Dabei sei das doch so wichtig, weil die Bewohnerinnen und Bewohner schwere Zeiten hinter sich hätten und sozialer Zusammenhalt für manche elementar sei.

Und tatsächlich, schaut man sich an, aus wie vielen Nationen und mit welchen Schicksalen die 650 Menschen in Sieversstücken zusammenkommen, wird die Vielfalt sichtbar. Wie die Sozialbehörde mitteilt, sind in der Geflüchtetenunterkunft in Sülldorf 46 Nationalitäten vertreten. Unter den Geflüchteten sind etwa Menschen aus Afghanistan, Ghana, der Russischen Föderation, aus Serbien, der Türkei und Vietnam. Wer sich eine Einheit teilt oder gar ein Zimmer, das ist purer Zufall.

„Dach über dem Kopf an erster Stelle“

„In der Tat steht die Unterbringung respektive ein Dach über dem Kopf immer an erster Stelle, sodass wir nicht auf Sprachbarrieren etc. Rücksicht nehmen können. Gleichwohl wird im Unterbringungsprozess versucht, die Unterbringung nach Bedürfnis- und Bedarfslage zu organisieren“, heißt es dazu aus der Sozialbehörde. So müssten beispielsweise für Personen, die von der Wohnungslosigkeit in Hamburg bedroht sind, gegebenenfalls aber noch einen eigenen Job haben, andere Unterstützungs- und Hilfsangebote gemacht werden, als für Geflüchtete etwa aus Afghanistan, für die erst einmal ein Sprachkurs wichtig sei.

Auf diese unterschiedlichen Bedürfnislagen gehe der Betreiber der Unterkünfte, Fördern & Wohnen, bei der Unterbringung aber auch ein und vernetze die Betroffenen jeweils mit den für sie passenden Angeboten.

Wohnen in Flüchtlingsunterkunft: Schlafen mit Ohrstöpseln

„Für uns ist primär entscheidend, dass jemand ein Dach über dem Kopf hat. Die Nationalität ist dabei nur ein Faktor von vielen, den wir bei der Verteilung aber versuchen miteinzubeziehen“, sagt Yvonne Ehnert, Sprecherin von Fördern & Wohnen. In Fachsprache heißt dieses Vorgehen „sozial verträgliche Belebungssteuerung“ und oftmals sei dies logistisch einfach nicht möglich.

Vielfalt, das sei schön, sagt Milter. Wenn man sich allerdings kaum verständigen könne, manchmal aber auch hinderlich. „Am meisten freue ich mich auf die Ruhe, falls es mit der Wohnung klappen sollte“, sagt er. Denn auch die sei selten. Aber Milter meckert nicht, sondern macht. Der 66-Jährige hat sich daran gewöhnt, nachts mit Ohrstöpseln zu schlafen.