Hamburg. Abendblatt-Geburtstagsserie mit den 75 wichtigsten Geschichten aus diesen Jahren. Heute: Studentenbewegung schreibt Geschichte.

Es ist der 9. November 1967, als im Audimax der Universität Hamburg Geschichte geschrieben wird. Beim jährlichen Festakt zum Rektoratswechsel entrollen zwei Studenten in dem Saal ein Transparent, das später deutschlandweit zum Symbol für den Aufstand der Studenten gegen verkrustete Strukturen an den Hochschulen des Landes werden soll, für die Zeitenwende – und für die 68er-Bewegung schlechthin.

Die Jura-Studenten Detlev Albers und Gert Hinnerk Behlmer, 23 und 24 Jahre alt, haben ihren Coup gut vorbereitet. So können die anwesenden Zivilpolizisten in dem mit 1700 Menschen bis auf den letzten Platz gefüllten großen Hörsaal nicht verhindern, was dann geschieht.

Universität Hamburg: Slogan wird zum bekanntesten der Studentenbewegung

Als der bisherige Rektor Karl-Heinz Schäfer und sein Nachfolger Werner Ehrlicher in ihren Talaren mit einem Tross von Professoren einziehen, schieben sich Albers und Behlmer vor den Zug und entrollen das Transparent, auf dem der Slogan steht, der zum bekanntesten der westdeutschen Studentenbewegung werden sollte: „Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren“.

„Die Professoren konnten das Tuch von hinten natürlich nicht lesen und gingen daher nach kurzem Zögern feierlich hinter uns her“, erinnert sich Behlmer später im Abendblatt.

Slogan stand auf Stück Trauerflor von Beerdigung Benno Ohnesorgs

Behlmer, später Staatsrat in der Hamburger Senatskanzlei, und Albers, später SPD-Chef in Bremen, haben ihren Slogan mit Leukoplaststreifen auf ein Stück Trauerflor von der Beerdigung Benno Ohnesorgs geklebt.

Der Spruch verbindet den Protest gegen die autoritären Universitätsstrukturen jener Tage in Anspielung auf das „Tausendjährige Reich“ mit der Kritik an der bis dahin, wie der Hamburger Historiker Rainer Nicolaysen schreibt, kaum und schon gar nicht selbstkritisch thematisierten NS-Vergangenheit vieler Professoren.

„Majestätsbeleidigung“ oder Aufbruch in neue Zeit

Für die Ordinarien ist die Protestaktion eine respektlose Entgleisung und „Majestätsbeleidigung“; das Abendblatt titelt „Studenten schockieren die Professorenschaft“ und schreibt von „der wohl ungewöhnlichsten Feierstunde in der fünfzigjährigen Geschichte der Hamburger Universität“.

Die folgt trotz der Störung zum Auftakt weitgehend dem geplanten dreistündigen Programm, auch wenn der AStA-Vorsitzende Björn Pätzoldt in seiner Rede über überfüllte Lehrveranstaltungen, Raumnot an der Uni sowie das gestörte Vertrauensverhältnis zwischen Studenten und Professoren spricht und eine Demokratisierung der Hochschule fordert. Selbst der damalige Bürgermeister Herbert Weichmann (SPD) findet den Protest, von der Form mal abgesehen, legitim.

Teach-ins, Flugblätter, Straßenprotest: Turbulente Zeiten an der Uni

An der Uni geht es in den folgenden Monaten und Jahren turbulent zu. Regelmäßig ist das Audimax bei Vollversammlungen auf den letzten Platz gefüllt, stundenlang diskutieren die Studenten über eine Erneuerung der Strukturen und fordern mehr Mitbestimmung; es geht aber auch um den Vietnam-Krieg und eine neue Gesellschaftsordnung.

Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) ist im Keller des heutigen Abaton-Kinos am Allende-Platz untergebracht, dort werden Flugblätter gedruckt und Teach-ins organisiert. Tatsächlich, schreibt Historiker Nicolaysen, bieten die Ordinarien Angriffsfläche: „Nicht wenige aufgrund ihrer NS-Vergangenheit, fast alle wegen ihres Habitus und Alleinvertretungsanspruchs in universitären Angelegenheiten. Patriarchales Gehabe und große Machtfülle schienen wie selbstverständlich zum (Selbst-)Bild des Ordinarius zu gehören.“

Professoren lassen bisweilen ihre Assistenten Vorlesungen halten oder ganze Bücher schreiben, setzten Studenten schon mal privat zum Rasenmähen, Einkaufen oder Kinderhüten ein.

Protest der Studenten bald in der ganzen Stadt sichtbar

„Die Inhalte waren veraltet und die Methoden autoritär“, erzählt Gisela Pick, die 1965 anfing, Geschichte und Anglistik zu studieren, dem Abendblatt später. Sie will – wie viele Studenten – stärker mitreden bei dem, was sie an der Uni lernt. Zusammen mit anderen gründet Gisela Pick 1968 den ersten Fachschaftsrat Anglistik an der Uni Hamburg. Sie organisiert Studentenstreiks und steht an der Tür, um ihre Kommilitonen daran zu hindern, in die Vorlesungen zu gehen.

Der Protest der Studenten, Lehrlinge und Schüler ist in der ganzen Stadt sichtbar: Auf der Kreuzung vor dem Dammtor-Bahnhof werden Sit-ins abgehalten, Protestler unterbrechen Theateraufführungen, um über eine neue Gesellschaftsordnung zu diskutieren. Konspirativ organisiert der SDS die Flucht vor dem Vietnam-Krieg desertierter amerikanischer Soldaten über Hamburg nach Dänemark.

Lehramtsstudent Wolfgang Pelzer gehen die SDSler und ihre Intoleranz damals gegen den Strich. Die stehen oft vor ihrem Hauptquartier und diskutieren, berichtet er viel später im Abendblatt. „Erwünscht waren aber nur Meinungen, die in die Richtung des SDS gingen.“

Schüsse auf Rudi Dutschke hallen auch in Hamburg nach

Die Studentenunruhen entzündeten sich längst nicht nur an der Universität. Kurz vor Ostern 1967 hatte der Hilfsarbeiter Josef Bachmann in Berlin auf den Studentenführer Rudi Dutschke geschossen und ihn schwer verletzt. Demonstranten machen Zeitungen des Verlags Axel Springer mitverantwortlich für das Attentat. Immer wieder hatte vor allem die „Bild“-Zeitung gefordert, der „Terror der Jungroten“ müsse gestoppt werden, und zwar „jetzt!“. Und man dürfe „die ganze Drecksarbeit nicht der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen“.

Der Mordanschlag auf Dutschke wird zum Fanal für die massivsten Proteste der Studentenbewegung und der außerparlamentarischen Opposition, die die Bundesrepublik bis dahin gesehen hat. In 27 Städten kommt es an den Ostertagen 1968 zu Ausschreitungen, aber nirgendwo sind sie so gewaltsam wie in Berlin und Hamburg. Gesteuert werden die Demos vom SDS.

Straßenschlacht zu Ostern – Demonstranten ziehen zu Springer

Gegen 19 Uhr am Karfreitag versammeln sich rund 2000 Demonstranten mit roten Fahnen, Transparenten und Plakaten auf der Moorweide. Auch Studentenführer Jens Litten vom in Hamburg machtvolleren Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) ruft zum „offenen Kampf“ gegen „autoritär-faschistische Tendenzen“ auf.

Der Protestzug setzt sich in Bewegung Richtung Springer-Verlag, wo damals auch das Hamburger Abendblatt erschien. Das Ziel: die Auslieferung der Sonnabend-Zeitungen, die in jenen Jahren noch bei Springer in der Neustadt gedruckt werden, verhindern.

Als die Demons­tranten an der Staatsoper vorbeikommen, drängen sich die Operngäste in Smoking und Abendkleid am Fenster, schreibt der Polizist Detlev Hohn in seinen Erinnerungen. „Bürger, lasst das gaffen sein, reiht euch lieber bei uns ein“, skandieren die Studenten.

Hamburg: Situation auf der Straße gerät außer Kontrolle

Gegen 20 Uhr erreichen die Demon­stranten das Verlagsgebäude, das von einem Polizeikordon umgeben ist. Sie beginnen, die Absperrgitter, die den Weg für die Auslieferungsfahrzeuge der Zeitungen frei halten sollen, wegzuziehen. Die Polizisten versuchen, sie daran zu hindern, schlagen auf die Gitter, dann auf Hände, dann auf Demonstranten.

Die Zeitungswagen setzen sich in Bewegung, ausgerechnet in Richtung Caffamacherreihe, wo die Demonstranten mit Baumaterialien eine große Barrikade errichtet haben. Die Zeitungswagen stecken fest. Steine fliegen. Ein Wasserwerfer rückt an.

Bei den Aus­einander­setzungen zwischen Demonstranten und Polizei eskalierte die Gewalt in bis dahin nicht gekannter Weise.
Bei den Aus­einander­setzungen zwischen Demonstranten und Polizei eskalierte die Gewalt in bis dahin nicht gekannter Weise. © picture-alliance/ dpa | Konrad Giehr

Und dann gerät die Situation völlig außer Kontrolle: Die Demonstranten werfen Pflastersteine auf die Polizisten; diese prügeln mit Gummiknüppeln auf die Protestler ein. Wohl bei den meisten Beteiligten mischen sich Angst und Wut; es herrscht Chaos.

„Schläge prasselten auf Hände und Arme“, schildert Polizist Detlev­ Hohn. „Von der anderen Seite wurde ebenfalls geschlagen.“ Erst im zweiten Versuch gelingt es den Zeitungsfahrzeugen, die Blockaden durchzubrechen. Da ist es bereits Mitternacht.

Hamburger Auszubildender: „Das war wie Krieg“

Wolfgang Schmiedeberg, damals Auszubildender bei einem Wirtschaftsfachverlag am Baumwall, erlebt mit, wie sich die Gewalt aufschaukelt, wie ein Fahrzeug angezündet wird, Polizisten von Steinen getroffen werden und Demonstranten den Strahl der Wasserwerfer ins Gesicht bekommen.

„Das war wie Krieg“, sagt er. „Ich habe mich zurückgezogen, als Autos brannten und auf beiden Seiten Menschen in Gefahr waren – das war nicht meine Welt.“

Hamburger Senat tritt zu Sondersitzung zusammen

Am Tag nach der völlig aus dem Ruder gelaufenen Demonstration tritt der Hamburger Senat zu einer Sondersitzung zusammen. Doch der Höhepunkt der Gewalt steht an diesem Osterwochenende 1968 noch bevor: Demons­tranten versuchen erneut, die Auslieferung von Springer-Zeitungen zu verhindern.

Ein Auslieferungsfahrer überrollt einen 27 Jahre alten Studenten, Dietmar Schmidt, der lebensgefährlich verletzt wird. Der Zeitungsfahrer wird später angeklagt, Schmidt erhält Schmerzensgeld.

Demonstranten ziehen Ostermontag vor Polizeipräsidium

Weil viele ihrer Mitstreiter festgenommen worden sind, ziehen Demons­tranten Ostermontag vor das Polizeipräsidium am Berliner Tor und fordern deren Freilassung. Laut Augenzeugen beginnt eine Hundertschaft plötzlich auf die Menge der Demons­tranten einzuschlagen.

Steinwürfe der Studenten beantworten die Polizisten mit massivem Schlagstockeinsatz; einige Demonstranten bewaffnen sich mit Eisenstangen. Als die Lage eskaliert, versuchen Protestierende, in die U-Bahn-Zugänge zu fliehen – doch die sind verriegelt. Die Bilanz des Osterwochenendes: 79 Polizisten werden zum Teil schwer verletzt. Wie viele Verletzte es aufseiten der Demonstranten gibt, ist nicht bekannt.

Zu Ostern Höhepunkt bisher nicht gekannter Gewalt

Für viele Hamburger ist dieses Osterwochenende mehr als nur ein Höhepunkt bisher nicht gekannter Gewalt – es ist eine Zäsur. Der Aufbruch, der sich anbahnt, ist allerdings schon seit einigen Jahren zu spüren. Er erfasst praktisch alle Bereiche des Lebens.

Politisch wächst der Widerstand gegen den Vietnam-Krieg, ebenso die Befürchtung in Teilen der Bevölkerung angesichts der geplanten Notstandsgesetze und der NS-Vergangenheit von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) und anderer Amtsträger, es könnte in der Bundesrepublik zu einer Art Restauration kommen. In der Hochschulpolitik wird der Protest gegen die Unterfinanzierung der Ordinarien-Universitäten mit ihren überkommenen Strukturen zum Aufbäumen gegen Autoritäten allgemein.

Universität Hamburg: Berühmtes Banner jetzt im Museum

Nachdem die Pläne für ein neues Universitätsgesetz jahrelang nicht vorangekommen sind, schreitet die Demokratisierung der Hochschule nun tatsächlich schnell voran. Detlev Albers gilt als Schöpfer der „Drittel-Parität“, jener dann auch bundesweit verbreiteten studentischen Forderung, nach der Professoren, akademischer Mittelbau und Studenten jeweils ein Drittel der Stimmen in allen Gremien erhalten sollen. Im April 1969 verabschiedet die Hamburgische Bürgerschaft das neue Universitätsgesetz, das als Erstes seiner Art in der Bundesrepublik mit den alten Strukturen bricht.

Das berühmte Transparent, mit dem Behlmer und Albers 1967 die Zeitenwende an der Universität einläuteten, liegt danach jahrzehntelang im Staatsarchiv, in Klarsichtfolie gehüllt und abgeheftet mit anderen Akten in einer Kiste. Seit 2019 ist es im Museum zur Geschichte der Universität Hamburg der Öffentlichkeit zugänglich, das damals im Hauptgebäude an der Edmund-Siemers-Allee eröffnet wurde