Hamburg. Eine Ausstellung an der nach ihm benannten Bundeswehr-Universität kratzt am Krisenmanager-Image des damaligen Innensenators.
Eine neue Ausstellung in der Bibliothek der Bundeswehr-Universität Hamburg kratzt am öffentlichen Image des Altkanzlers Helmut Schmidt. Die Schau trägt den Titel „Extreme Situationen, schnelle Entscheidungen. Helmut Schmidt gegen Sturmflut und RAF-Terror“. Sie wird am heutigen Dienstag eröffnet und will beweisen, dass der damalige Hamburger Innensenator bei der Sturmflut 1962 weder Held noch Retter in der Not gewesen sei.
Der Ausstellungsmacher, Historiker und Privatdozent Helmut Stubbe da Luz weist diese gängigen Stereotype ins Reich der Legenden und plädiert für eine Neuinterpretation von Schmidts Rolle als angeblicher „Herr der Flut“.
Stubbe da Luz hatte bereits im Jahr 2018 mit einer Ausstellung über die „Großen Katastrophen in Hamburg“ für Aufsehen gesorgt. Neben dem Großen Brand von 1842, der Cholera-Epidemie 1892 und dem „Feuersturm“ 1943 befasste er sich auch mit der verheerenden Sturmflut von 1962. Beim Studium zu dieser Naturkatastrophe und ihrer Folgen für Hamburg seien ihm erhebliche Zweifel an bestimmten Behauptungen von Helmut Schmidt, einigen Journalisten und Filmemachern gekommen, die noch heute das Bild des Krisenmanagers prägen.
Der Forscher berichtet, dass immer wieder davon die Rede sei, Schmidt habe als Innensenator unfähige Mitarbeiter („aufgeregte Hühner“) vorgefunden, das Grundgesetz missachtet, die Bundeswehr eingesetzt und „zu Teilen kommandiert“. Zudem habe er die Wehrbereichskommandeure in Kiel und Hannover zur Missachtung von Recht und Vorschrift angedeutet.
Helmut Schmidt und andere strickten an Sturmflut-Legenden
Der Historiker begab sich in die Archive. „In der Tat gibt es im Hamburger Staatsarchiv, im Freiburger Militärarchiv des Bundesarchivs, im Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie im Helmut-Schmidt-Archiv zahlreiche Quellen, die das ganze Ausmaß der – teils dreisten – Schmidt-Sturmflut-Legenden deutlich machen“, fand Historiker Stubbe da Luz heraus. All diese Behauptungen können als „unzutreffend erwiesen werden“. Schmidt und andere hätten sie „erfunden und ausgeschmückt“. Der eigentliche Grund ist für den Ausstellungsmacher erkennbar: „Schmidts persönliches, ursprüngliches Motiv dafür, 1962 entwickelt, liegt auf der Hand: In der damaligen Debatte um künftige Notstandsgesetze wollte er sich als Notstandsexperte mit eigener Praxiserfahrung darstellen. Die Sturmflut hätte gezeigt, wie sehr Notstandsgesetze erforderlich wären.“ Tatsächlich verabschiedete der Bundestag im Jahr 1968 diese Gesetze.
Helmut Stubbe da Luz geht in seinem Urteil über den Altkanzler, dessen Namen die Bundeswehr-Universität trägt, sogar noch weiter: „Generell gilt es zu betonen, in welchem Maß Schmidt sich selbst inszeniert hat – auch etwa zuungunsten ehemaliger Mitarbeiter in der Hamburger Polizeibehörde, gewissermaßen als Staatsschauspieler.“ Eine Verbindung zwischen Sturmflut und Notstandsgesetzen sei jedenfalls nach wie vor so gut wie unbekannt.
Die Ausstellung bekommt besondere Aktualität, weil derzeit der Ruf nach einem Krisenmanager von der Statur Helmut Schmidts lauter wird. Corona-Pandemie, Hochwasser-Katastrophe im vergangenen Sommer, der Krieg gegen die Ukraine und die abwägende Haltung von Bundeskanzler Olaf Scholz im Blick auf die Lieferung schwerer Waffen für die Ukraine verstärken bei vielen Menschen diesen Wunsch. Die Ausstellung an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Wandsbek will dagegen verdeutlichen, dass Schmidt 1962 gewiss als tatkräftiger Leiter des Hamburger Krisenstabs agiert hat. Stubbe da Luz: „Aber er hat keine außergewöhnlichen Maßnahmen ergreifen müssen – und war schon gar kein Held.“
Helmut Schmidt wurde erst am Morgen des 17. Februar 1962 informiert
Dass Schmidt die Etikettierung als „Macher“ erst im Nachhinein erhalten habe, machte vor wenigen Wochen sein Biograf Reiner Lehberger in einem Abendblatt-Interview deutlich. Anhand historischer Fakten belegt er, dass in Bremen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein bereits am 16. Februar 1962 Soldaten im Einsatz waren. Schmidt hat indes von der Sturmflut erst am Morgen es 17. Februar per Anruf erfahren. Am Abend zuvor war er erst von der Innenministerkonferenz in Berlin zurückgekehrt und hatte sich dann mit Freunden in seinem Langenhorner Haus getroffen, denen just an diesem Tag die Flucht aus der DDR gelungen war.
„Seine Beamten informierten ihn nicht. So kam es, dass Schmidt erst am 17. Februar um 6.20 Uhr per Telefon geweckt und über das Ausmaß der Flut informiert wurde. Warum das nicht schon nach Mitternacht geschah, als bereits zahlreiche Deiche gebrochen waren, bleibt ein Rätsel“, sagte Erziehungswissenschaftler Lehberger.
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In den darauf folgenden Stunden und Tagen sei Schmidt in jedem Fall ein Lenker und Manager gewesen. „Es gibt aber keine Veranlassung, Helmut Schmidts Rolle im Krisenmanagement der Flutkatastrophe zu überhöhen. Ich sehe allerdings auch keinen Grund, seine Verdienste kleinzureden.“
Die Ausstellung in den Räumen der Bibliothek dürfte die Debatte um die Lebensleistung von Helmut Schmidt während der Hamburger Sturmflut und bei der Entführung Hanns Martin Schleyers und des Lufthansa-Jets „Landshut“ 1977 befeuern. Eine Neuinterpretation seiner Rollen als Innensenator der Freien und Hansestadt Hamburg und als Bundeskanzlers sei in jedem Fall notwendig, fordert Helmut Stubbe da Luz.
Die Ausstellung ist bis zum 30. September zu sehen. Öffnungszeiten: Mo–Do 9–16, Fr 9–14 Uhr. An Sonn- und Feiertagen geschlossen. Eintritt frei. Adresse: Holstenhofweg 85.