1968 gehen Studenten auf die Barrikaden. Insa Gall erinnert mit vielen Zeitzeugen an den Aufbruch in eine andere Zukunft.
Es liegt etwas in der Luft, das spürt Horst Lindemann. Ostern 1968 ist er nach einjähriger Ausbildung an der Polizeischule in Alsterdorf zur Bereitschaftspolizei abkommandiert. Mit seinen Kameraden lebt der 22-jährige Polizei-Oberwachtmeister in der Kaserne an der Hindenburgstraße. Normalerweise dürfen sie das Gelände nach Feierabend verlassen, doch an diesem 12. April gilt Ausgangssperre. Warum, das wissen sie nicht. „Es war nach 20 Uhr, als ein Vorgesetzter mit Trillerpfeife im Flur stand und die Hundertschaft antreten ließ“, sagt Lindemann. In ihrer „normalen Ausgehuniform“, mit Krawatte und Mantel, Mütze und Handschuhen, werden sie auf die Mannschaftswagen beordert, und es geht los in Richtung Burgstraße/Berliner Tor. Erst dort erfahren sie, worum es geht: Sie sollen sich als Reserveeinheit bereithalten, denn: „Beim Springer-Verlag gibt es starke Zusammenstöße.“
Das Zeitungshaus gleicht an diesem Karfreitag einer Festung. Das ganze Areal zwischen Caffamacherreihe und Kaiser-Wilhelm-Straße ist mit einem Wall aus Stacheldraht gesichert. Am Tag zuvor hat der 23-jährige Hilfsarbeiter Josef Bachmann in Berlin auf den Studentenführer Rudi Dutschke geschossen. Noch während die Ärzte im Krankenhaus Westend um Dutschkes Leben kämpfen, ziehen aufgebrachte Studenten zum Springer-Verlag an der Berliner Kochstraße. Sie machen die Zeitungen des Verlags mitverantwortlich für das Attentat. Immer wieder hatte vor allem die „Bild“-Zeitung gefordert, der „Terror der Jungroten“ müsse gestoppt werden, und zwar „jetzt!“. Und man dürfe „die ganze Drecksarbeit nicht der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen“.
Der Mordanschlag auf Dutschke wird zum Fanal für die massivsten Proteste der Studentenbewegung und der außerparlamentarischen Opposition, die die noch recht junge Bundesrepublik bis dahin gesehen hat. In 27 Städten kommt es an den Ostertagen 1968 zu Ausschreitungen, aber nirgendwo sind sie so gewaltsam wie in Berlin und Hamburg. Gesteuert werden die Demonstrationen zentral vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS).
„Bürger, lasst das gaffen sein, reiht euch lieber bei uns ein“
Gegen 19 Uhr versammeln sich Karfreitag rund 2000 Demonstranten mit roten Fahnen, Transparenten und Plakaten auf der Moorweide. Auch Studentenführer Jens Litten vom in Hamburg machtvolleren Sozialdemokratischen Hochschulbund (SHB) ruft zum „offenen Kampf“ gegen „autoritär-faschistische Tendenzen“ auf. Der Protestzug setzt sich in Bewegung Richtung Springer-Verlag. Das Ziel: die Auslieferung der Sonnabendzeitungen, die damals noch bei Springer in der Neustadt gedruckt werden, verhindern. Als die Demonstranten an der Staatsoper vorbeikommen, drängen sich die Operngäste in Smoking und Abendkleid am Fenster, schreibt der Polizist Detlev Hohn in seinen Erinnerungen. „Bürger, lasst das gaffen sein, reiht euch lieber bei uns ein“, skandieren die Studenten.
Gegen 20 Uhr erreichen die Demon-stranten das Verlagsgebäude, das von einem Polizeikordon umgeben ist. Sie beginnen, die Absperrgitter, die den Weg für die Auslieferungsfahrzeuge frei halten sollen, wegzuziehen. Die Polizisten versuchen, sie daran zu hindern, schlagen auf die Gitter, dann auf Hände, dann auf Demonstranten. Die Zeitungswagen setzen sich in Bewegung, ausgerechnet in Richtung Caffamacherreihe, wo die Demonstranten mit Baumaterialien eine große Barrikade errichtet haben. Die Zeitungswagen stecken fest. Steine fliegen. Ein Wasserwerfer rückt an.
Dann gerät die Situation völlig außer Kontrolle
Unter den Demonstranten ist Volker Diel. Er ist 23 Jahre alt, Student der Wirtschaftswissenschaften und „sehr empört und aufgeregt“. „Viele von uns hatten damals Sorge, dass der Faschismus wiederkommt“, erinnert er sich. „Das hat sich als weit übertrieben herausgestellt, aber wir Studenten hatten das Gefühl: Auf uns kommt es an.“ Er läuft im Tross der Protestierenden mit, wird von hinten gedrängt, findet sich plötzlich in der ersten Reihe wieder – und bekommt es mit der Angst zu tun. Einen Schlagstock oder Wasserwerferstrahl will er nicht abbekommen, deshalb zieht er sich zurück. „Auch aufseiten der Polizei war die Nervosität groß.“
Und dann gerät die Situation völlig außer Kontrolle: Die Demonstranten werfen Pflastersteine auf die Polizisten; diese prügeln mit Gummiknüppeln auf die Demonstranten ein. Wohl bei den meisten Beteiligten mischen sich Angst und Wut; es herrscht Chaos. „Schläge prasselten auf Hände und Arme“, schildert Polizist Detlev Hohn. „Von der anderen Seite wurde ebenfalls geschlagen.“ Erst im zweiten Versuch gelingt es den Zeitungsfahrzeugen, die Blockaden durchzubrechen. Da ist es bereits Mitternacht.
Wolfgang Schmiedeberg, damals Auszubildender bei einem Wirtschaftsfachverlag am Baumwall, erlebt mit, wie sich die Gewalt aufschaukelt, wie ein Fahrzeug angezündet wird, Polizisten von Steinen getroffen werden und Demonstranten den Strahl der Wasserwerfer ins Gesicht bekommen. „Das war wie Krieg“, sagt er. „Ich habe mich zurückgezogen, als Autos brannten und auf beiden Seiten Menschen in Gefahr waren – das war nicht meine Welt.“
Anti-Springer-Demonstration wird zum Einschnitt
Schmiedeberg, damals 20 Jahre alt, ist politisiert, auch durch die Mitarbeit an der Berufsschulzeitschrift „Contact“. Der Vietnam-Krieg wühlt ihn auf; zugleich ist er fasziniert von der „spannenden Zeit des Neuen“, in der den bis dahin gültigen Werten von Funktionieren und Gehorsam nun Freiheit und Kreativität, Selbsterfahrung und sexuelle Selbstbestimmung entgegengestellt werden. Trotzdem wird die Anti-Springer-Demonstration Karfreitag 1968 für ihn zum Einschnitt. „Von so viel Gewalt, von so viel Brutalität musste ich mich abwenden.“
Die Bundesrepublik ist an Demonstrationen wie diese kaum gewöhnt. Den Polizisten fehlt es nicht nur an ausreichender Schutzkleidung. Ihre Einsatzkonzepte stammen noch aus der Zeit der Weimarer Republik. Mit jungen Menschen umzugehen, die ihr demokratisches Recht auf Demonstrations- und Meinungsfreiheit wahrnehmen wollen, haben sie nicht ausreichend gelernt. So wird 1968 auch im Leben des 22-jährigen Bereitschaftspolizisten Horst Lindemann zum Wendepunkt. Er und seine Kollegen, die Karfreitag in ihren Mannschaftswagen nahe der Burgstraße warten, kommen bei der Springer-Demonstration zwar nicht zum Einsatz. Doch er quittiert bald den Dienst, schockiert darüber, wie schlecht die Polizeiführung auf solche Zusammenstöße vorbereitet ist. Auch die Ausbildungsmethoden – Polizeischüler müssen mit Handgranaten und Maschinengewehren trainieren – passen nicht zu seinen Vorstellungen. „Der Kadavergehorsam, da kamen viele Kollegen nicht mit zurecht.“
Aus Mangel an Schutzhelmen tragen die Polizisten Bauhelme
Am Tag nach der völlig aus dem Ruder gelaufenen Demonstration tritt der Hamburger Senat zu einer Sondersitzung zusammen. Doch der Höhepunkt der Gewalt steht an diesem Osterwochenende 1968 noch bevor: Demonstranten versuchen erneut, die Auslieferung von Springer-Zeitungen zu verhindern. Ein Auslieferungsfahrer überrollt einen 27-jährigen Studenten, Dietmar Schmidt, der lebensgefährlich verletzt wird. Der Zeitungsfahrer wird später angeklagt, Schmidt erhält Schmerzensgeld.
Weil viele ihrer Mitstreiter festgenommen worden sind, ziehen Demonstranten Ostermontag vor das Polizeipräsidium am Berliner Tor und fordern deren Freilassung. Nach Augenzeugen berichten beginnt eine Hundertschaft plötzlich auf die Menge der Demonstranten einzuschlagen. Steinwürfe der Studenten beantworten die Polizisten mit massivem Schlagstockeinsatz; einige Demonstranten bewaffnen sich mit Eisenstangen. Innensenator Heinz Ruhnau (SPD) hat den Polizisten zumindest bei Blohm + Voss Bauarbeiterhelme besorgt, denn Hamburgs Polizei verfügt nicht über Schutzhelme. Als die Lage eskaliert, versuchen Protestierende, in die U-Bahn-Zugänge zu fliehen – doch die sind verriegelt. Die Bilanz des Osterwochenendes: 79 Polizisten werden zum Teil schwer verletzt. Wie viele Verletzte es aufseiten der Demonstranten gibt, ist nicht bekannt.
Für viele Hamburger ist dieses Osterwochenende mehr als nur ein Höhepunkt bisher nicht gekannter Gewalt – es ist eine Zäsur. Der Aufbruch, der sich anbahnt, ist allerdings schon seit einigen Jahren zu spüren. Er erfasst praktisch alle Bereiche des Lebens. Politisch wächst der Widerstand gegen den Vietnam-Krieg, ebenso die Befürchtung in Teilen der Bevölkerung angesichts der geplanten Notstandsgesetze und der NS-Vergangenheit von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) und anderer Amtsträger, es könnte in der Bundesrepublik zu einer Art Restauration kommen. In der Hochschulpolitik wird der Protest gegen die Unterfinanzierung der Ordinarien-Universitäten mit ihren überkommenen Strukturen zum Aufbäumen gegen Autoritäten ganz allgemein.
„Heidschi Bumbeidschi“ steht auf Platz 1 der Musik-Charts
Das Lebensgefühl der Adenauer-Jahre ändert sich rasant: Die Mode wird bunter, die Röcke kürzer, Frauen tragen zunehmend Hosen, auch Jeans – ein Versprechen von Freiheit. Noch finden die Hippies von San Francisco nur vereinzelt Nachahmer in Hamburg oder Berlin, doch der Mini-Rock setzt sich durch. Die Haare der Männer werden länger, die Sexualmoral lockerer. Für die Studentenbewegung ist die bürgerliche Kleinfamilie ein Auslaufmodell, erste Wohngemeinschaften entstehen und antiautoritäre Kinderläden. Gemischte Kommunen werden gegründet, allen voran die „Kommune 1“ als Teil der politischen Bewegung in Berlin.
Die Musik von Bob Dylan, Janis Joplin oder Jimi Hendrix liefert den Soundtrack zur Studentenbewegung. Die Beatles singen „Revolution“. Das neue Lebensgefühl erfasst zunächst allerdings längst nicht alle. Musikalisch gesehen ist es das große Jahr des niederländischen Kinderstars Heintje. Sein Hit „Mama“ wird 1968 zur meistverkauften Single in Deutschland, „Heidschi Bumbeidschi“ steht acht Wochen lang auf Platz 1 der Charts. Dennoch ist sich Peter Lange, 1968 Hamburger Lehrling und später Jura-Student, sicher: „Damals ging die Nachkriegszeit zu Ende. Die Gesellschaft war in Jung und Alt gespalten. Alle Autoritäten, besonders angemaßte Autoritäten, wurden hinterfragt.“
Auch in den Familien. Die jüngere Generation will das Schweigen der Eltern über die NS-Zeit und die damals begangenen Verbrechen nicht mehr hinnehmen. Vielen ergeht es wie dem 22-jährigen Politikstudenten Berend Hartnagel, der schwere Konflikte erlebt, als er die Eltern nach deren Rolle im Dritten Reich fragt. Auch Student Peter Lange findet kein Verständnis. „Es muss doch auch mal Schluss sein mit der Vergangenheit“, bekommt er zu hören. Christel Heineke, die 1962 Abitur macht, erlebt, dass die NS-Zeit selbst in der Schule nur gestreift wurde. „Wir wollten uns einmischen, nicht schweigen. Sagen, was wir für richtig hielten, und das zusammen mit anderen. So entstand das Gefühl, etwas gemeinsam bewirken und verändern zu können, ein Gefühl der Befreiung“, sagt sie.
Schuss auf Benno Ohnesorg für viele ein "Erweckungserlebnis"
Oft unterrichten auch an den Schulen noch Lehrer, die selbst verstrickt waren. Der Hamburger Wirtschaftsstudent Volker Diel zerstreitet sich über dieses Thema so sehr mit seinem Vater, dass der ihn aus dem Haus wirft.
Für Diel ist – wie für viele seiner Generation – der Schuss auf Benno Ohnesorg im Jahr zuvor, am 2. Juni 1967, „ein Erweckungserlebnis“, das ihn politisiert und auf die Barrikaden treibt. Dass der friedliche Student vom Polizisten Karl-Heinz Kurras am Rande des Schah-Besuchs in Berlin getötet wird, die Behörden Kurras’ Schuld aber zu vertuschen versuchen und Bürgermeister Heinrich Albertz (SPD) sogar den Studenten die Alleinschuld am Tod Ohnesorgs gibt, löst Massendemonstrationen in Berlin, aber auch in ganz Westdeutschland aus.
Der spätere Altonaer Bezirksamtsleiter und Justiz-Staatsrat Hans-Peter Strenge ist in diesen Tagen in Berlin, eher zufällig. Der Rissener besucht das Jungengymnasium in Blankenese und kommt am Dienstag, 6. Juni 1967, als Oberprimaner zur damals in dieser Jahrgangsstufe obligatorischen Klassenfahrt nach Berlin. „Während es die meisten Jungen abends in die Disco Showboat und Riverboat an den Fehrbelliner Platz zog, führte ich eine Minderheit nach Dahlem zur Freien Universität“, erinnert sich Strenge. Dort besuchen die Hamburger Schüler Teach-ins im Henry-Ford-Bau mit dem Theologen und Dutschke-Wegbegleiter Helmut Gollwitzer. Sie laufen mit bei Trauerdemonstrationen für Ohnesorg, erleben Studentenführer wie den Bürgermeistersohn Knut Nevermann und beobachten politische Aktionen gegen den Berliner Albertz-Senat auf dem Kurfürstendamm.
Der Schah-Besuch in Hamburg
Oberprimaner Strenge ist bereits ein politisch denkender Kopf; er ist mit einer alleinerziehenden Mutter im Hause einer SPD-Bürgerschaftsabgeordneten aufgewachsen. Für ihn sind diese Tage in Berlin nach dem Tod Benno Ohnesorgs bewegend. „Mir schien, da zeigte sich der alte Polizeistaat, der die Jubelperser, die mit Holzlatten auf Demonstranten losgingen, gedeckt hat“, sagt er. Zwischen den Besuchen im aufgeheizten Berliner Protestmilieu gehört das „Kalte-Krieg-Programm“ des Berliner Senats im Haus der Ostdeutschen Heimat ebenso zum Klassenfahrt-Pflichtprogramm für die westdeutschen Schüler.
Persiens Schah Reza Pahlavi ist mit Ehefrau Farah Diba nach seinem folgenreichen Berlin-Besuch am 3. Juni weitergereist nach Hamburg. Auch hier sind die Sicherheitsvorkehrungen streng, die Polizei steht mit großem Aufgebot vor dem Rathaus bereit, als das Kaiserpaar am Mittag vorfährt. Angesichts der Vorgänge in Berlin haben sich aufgebrachte Studenten unter die Schaulustigen gemischt. Sie rufen „Demokratie ja, Diktatur nein!“ und „Mörder“.
Auch Wirtschaftsstudent Otto Klasing ist an diesem Montag zum Rathaus gekommen, er will den Schah sehen – aus Neugierde. Er kommt gerade vom Bahnhof, hat das Wochenende bei Freunden auf dem Land verbracht und nichts von dem mitbekommen, was in Berlin passiert ist. Das Rathaus ist abgesperrt, am Rande stehen lautstarke Protestierer. Ganz anders sehen die Demonstranten aus, die dem Schah zujubeln; sie tragen Anzüge. „Das sind aber manierliche Demonstranten“, wundert sich Klasing. Erst später wird ihm klar, dass es sich um die berüchtigten „Jubelperser“, vom Schah eingeschleuste Geheimpolizisten, handelt. Klasing beobachtet, wie der Schah mit seiner Frau von der Ecke Johannisstraße zum Rathaus geführt wird, dann muss er gehen – zur Vorlesung.
An der Staatsoper eskaliert die Lage
Während der Schah und seine Frau im Rathaus von Bürgermeister Herbert Weichmann (SPD) mit Büsumer Krabben und getrüffeltem Filetbraten bewirtet werden, löst die Polizei vor der Tür die Demonstration auf. Eine Hafenrundfahrt und ein Besuch der Flugzeugwerft auf Finkenwerder am Nachmittag verlaufen friedlich. Doch als das persische Kaiserpaar um kurz nach 19 Uhr an der Staatsoper vorfährt, eskaliert die Lage. Tausende Menschen, darunter viele Studenten, Lehrlinge und Schüler, haben sich an den Absperrungen am Dammtorwall versammelt. Sie schwenken schwarze Fahnen, rufen: „Nieder mit dem Schah!“ Als der in der Oper ist, lässt die Polizei die Reiterstaffel in die Menschenmenge stieben. Demonstranten und Schaulustige laufen in Richtung Stephansplatz, von den Polizeireitern verfolgt. Menschen werden an Häuserwände gedrückt, Polizisten treten vom Sattel aus in ihre Rücken. Vor der Oberpostdirektion staut sich der Verkehr, Feuerwerkskörper explodieren, ein Pferd scheut. Blutende Menschen irren zwischen den Autos umher. Nur langsam beruhigt sich die Lage, immer mehr Studenten laufen zum Rathaus, dort wird der Schah später noch einmal zum Empfang erwartet. Gegen elf Uhr nachts geht die Polizei auch dort massiv gegen die Studenten vor, die mit Schlagstöcken und Fäusten traktiert werden.
Ein Transparent, das deutsche Geschichte schreibt
Bürgermeister Weichmann verurteilt später die „Krawalle“ und das „Rabaukentum“ der Demonstranten – die Härte des Polizeieinsatzes beim Schah-Besuch aber nicht. Diese Linie belastet in der Folge das Verhältnis zur studentischen Jugend. Zwar sind die Fronten in Hamburg nicht so verhärtet wie in Berlin. Doch die Proteste nehmen zu. Die Verhaltensgrundsätze, die Weichmanns Innensenator Ruhnau der Polizei für Einsätze bei Demonstrationen mit auf den Weg gibt – nicht provozieren lassen, Besonnenheit und Selbstdisziplin zeigen –, sollten den Praxistest nicht bestehen.
Im November 1967 entrollen zwei Studenten im Audimax der Universität Hamburg beim jährlichen Festakt zum Rektoratswechsel ein Transparent, das später deutschlandweit zum Symbol für den Aufstand der Studenten gegen verkrustete Strukturen an den Hochschulen des Landes werden soll, für die Zeitenwende an den deutschen Universitäten Ende der 60er-Jahre – und für die 68er-Bewegung schlechthin. Die Jura-Studenten Detlev Albers und Gert Hinnerk Behlmer, 23 und 24 Jahre alt, haben ihren Coup gut vorbereitet. Und auch wenn mehrere Studentengruppen zuvor angekündigt haben, die ungelösten Probleme der Universität bei der Feierstunde thematisieren zu wollen, können die anwesenden Zivilpolizisten in dem mit 1700 Menschen bis auf den letzten Platz gefüllten großen Hörsaal nicht verhindern, was dann geschieht: Als der bisherige Rektor Karl-Heinz Schäfer und sein Nachfolger Werner Ehrlicher in ihren Talaren mit einem Tross von Professoren einziehen, schieben sich Albers und Behlmer vor den Zug und entrollen das Transparent, auf dem der Slogan steht, der zum bekanntesten der westdeutschen Studentenbewegung werden sollte: „Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren“. „Die Professoren konnten das Tuch von hinten natürlich nicht lesen und gingen daher nach kurzem Zögern feierlich hinter uns her“, erinnert sich Behlmer später im Abendblatt.
Das Banner wird entrollt – ein historischer Moment
Wirtschaftsstudent Otto Klasing sitzt kaum drei Meter daneben, als das Banner entrollt wird. Auch er sieht zunächst nicht, was darauf geschrieben steht. „Aber ich bemerkte die große Unruhe, die entstand“, erinnert er sich. „Bis zum Ende der Veranstaltung gab es immer wieder Zwischenrufe aus der Zuhörerschaft.“ Albers, später SPD-Chef in Bremen, und Behlmer, später Staatsrat in der Hamburger Senatskanzlei, haben ihren Slogan mit Leukoplaststreifen auf ein Stück Trauerflor von der Beerdigung Benno Ohnesorgs geklebt. Der Spruch verbindet den Protest gegen die autoritären Universitätsstrukturen jener Tage in Anspielung auf das „Tausendjährige Reich“ mit der Kritik an der bis dahin, wie der Hamburger Historiker Rainer Nicolaysen schreibt, kaum und schon gar nicht selbstkritisch thematisierten NS-Vergangenheit vieler Professoren.
Immer mehr Studenten rufen „Freiheit“, „Demokratie“ und „Diskussion“, erinnert sich der damalige Wirtschaftsstudent Volker Diel. „Ich brüllte die Parolen mit und fühlte mich dabei sehr wichtig, ahnte irgendwie, bei einem historischen Moment dabei zu sein.“
Die Ordinarien verstehen die Protestaktion als respektlose Entgleisung und „Majestätsbeleidigung“; das Hamburger Abendblatt titelt „Studenten schockieren die Professorenschaft“ und schreibt von „der wohl ungewöhnlichsten Feierstunde in der fünfzigjährigen Geschichte der Hamburger Universität“.
Die folgt trotz der Störungen weitgehend dem geplanten Ablauf des dreistündigen Programms, auch wenn der AStA-Vorsitzende Björn Pätzoldt in seiner Rede über überfüllte Lehrveranstaltungen, Raumnot an der Uni sowie das gestörte Vertrauensverhältnis zwischen Studenten und Professoren spricht und eine Demokratisierung der Hochschule fordert. Die Rede stößt auf große Resonanz. Das Abendblatt druckt am Tag nach der Rektoratsfeier „wegen der Gewichtigkeit der hart, aber fair vorgetragenen Argumente“ lange Auszüge aus der „fundierten Rede“. Auch Bürgermeister Weichmann findet den Protest, von der Form mal abgesehen, legitim. Beim Auszug der Ordinarien ruft einer der Professoren, der Orientalist Bertold Spuler, den Studenten zu, sie gehörten alle ins KZ – eine Entgleisung, für die er später einen förmlichen Verweis erhält.
Sit-ins vor Dammtor-Bahnhof, Protest auf Theaterbühnen
Otto Klasing, der frisch von der Bundeswehr an die Uni gekommen ist, kehrt nach der Veranstaltung „sehr aufgewühlt“ in seine kleine Studentenbude zurück – ein möbliertes Zimmer, das er bei einer Witwe gemietet hat. Auch Berend Krüger, damals Wirtschaftsstudent und später 21 Jahre lang (bis 2006) Chef der Hamburger Stadtreinigung, ist bei der „Muff“-Veranstaltung dabei. Er ist zusammen mit Klasing auf Spiekeroog aufgewachsen und hat den Jugendfreund an der Uni wiedergetroffen. „In dem Moment, als das Plakat entrollt wurde, habe ich das als Tabubruch empfunden“, sagt er. Zurück in seinem Studentenwohnheim an der Bieberstraße wird die Aktion sogleich heftig diskutiert. „Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es von Albers und Behlmer doch richtig war, so etwas zu machen“, sagt Krüger. „Es war gerechtfertigt, weil es eine Bewegung ausgelöst hat, die die Hochschule entstaubt hat.“
Und tatsächlich: An der Universität geht es in den folgenden Monaten und Jahren turbulent zu. Regelmäßig ist das Audimax bei Vollversammlungen auf den letzten Platz gefüllt, stundenlang diskutieren die Studenten über eine Erneuerung der universitären Strukturen und fordern mehr Mitbestimmung; es geht aber auch um den Vietnam-Krieg und eine neue Gesellschaftsordnung. Der SDS ist im Keller des heutigen Abaton-Kinos am Allende-Platz untergebracht, dort werden Flugblätter gedruckt und Teach-ins organisiert. Tatsächlich, schreibt Historiker Nicolaysen, bieten die Ordinarien Angriffsfläche: „Nicht wenige aufgrund ihrer NS-Vergangenheit, fast alle wegen ihres Habitus und Alleinvertretungsanspruchs in universitären Angelegenheiten. Patriarchales Gehabe und große Machtfülle schienen wie selbstverständlich zum (Selbst-)Bild des Ordinarius zu gehören.“ Professoren lassen bisweilen ihre Assistenten Vorlesungen halten oder ganze Bücher schreiben, setzten Studenten schon mal privat zum Rasenmähen, Einkaufen oder Kinderhüten ein.
Der Protest ist in der ganzen Stadt sichtbar
„Die Inhalte waren veraltet und die Methoden autoritär“, sagt Gisela Pick, die 1965 anfängt, Geschichte und Anglistik zu studieren. Sie will – wie viele Studenten – stärker mitreden bei dem, was sie an der Uni lernt. Zusammen mit anderen gründet Gisela Pick 1968 den ersten Fachschaftsrat Anglistik an der Universität Hamburg. Sie organisiert Studentenstreiks und steht an der Tür, um ihre Kommilitonen daran zu hindern, in die Vorlesungen zu gehen. „Doch viele reagierten sauer“, erzählt sie. Auch wenn gerade nicht offiziell gestreikt wird, gehen Studentengruppen mitunter in Vorlesungen und „sprengen“ die Lehrveranstaltungen.
Der Protest der Studenten, Lehrlinge und Schüler ist in der ganzen Stadt sichtbar: Auf der Kreuzung vor dem Dammtor-Bahnhof werden Sit-ins abgehalten, Protestler unterbrechen Theateraufführungen, um über eine neue Gesellschaftsordnung zu diskutieren. Konspirativ organisiert der SDS die Flucht vor dem Vietnam-Krieg desertierter amerikanischer Soldaten über Hamburg nach Dänemark.
Auch in den Vollversammlungen im Audimax wird über den Imperialismus diskutiert, die Freiheitsbewegungen in Lateinamerika, die Grenzen des Kapitalismus. Es gibt Marxismusschulungen, orientiert am humanistischen Menschenbild des jungen Marx, wie Gisela Pick betont. „Wir wollten eine andere Gesellschaft“, sagt sie. „Aber für einen Umsturz waren wir zu brav.“ Sie wohnt im Studentenheim an der Hagenbeckstraße, dort gibt es noch Hausdamen; Männer und Frauen wohnen noch strikt getrennt.
Vollversammlungen in der Kritik
Mit dem Fachschaftsrat Anglistik erreicht sie, dass die Studenten selbst Seminare abhalten dürfen. Doch das Ganze wird zum Reinfall: Es kommen kaum Teilnehmer, denn für die Veranstaltung gibt es keinen Schein als Leistungsnachweis. Auch bekommen Gisela Pick und ihre Mitstreiter Gegenwind von Studenten, die der Dauerprotest stört und die sich den normalen Vorlesungsbetrieb zurückwünschen – sie werden im Fachschaftsrat abgewählt.
Lehramtsstudent Wolfgang Pelzer gehen die SDSler und ihre Intoleranz gegen den Strich. Die stehen oft vor ihrem Hauptquartier und diskutieren, berichtet er. „Erwünscht waren aber nur Meinungen, die in die Richtung des SDS gingen. Als ich dort einmal eine gegensätzliche Meinung äußerte und unbequeme Fragen stellte, wurde mir sogleich von einem der SDS-Leute, deren Gesichter man von diversen Aktionen her kannte, Prügel angedroht.“ Bei einer Vollversammlung erlebt er, dass nach stundenlanger Diskussion nur noch wenige Teilnehmer da sind, die dann Beschlüsse fassen, von denen es am nächsten Tag auf Flugblättern heißt, sie seien „mit großer Mehrheit“ gefällt worden. Auch Otto Klasing findet, dass bei den Vollversammlungen oft „ziemlicher Blödsinn“ geredet wird – dennoch fühlt er sich verpflichtet, hinzugehen, wenn er schon mehr demokratische Rechte fordert. „Meist gehörte ich zu den fünf Gegenstimmen.“
Politikstudent Berend Hartnagel gründet mit anderen am Institut für Sozialwissenschaft eine eigene Gruppe, die „Demokratische Alternative“. „Wir hatten das Gefühl, wir mussten den Aufbruch an unsere persönlich erlebte Umgebung anpassen und nicht nur auf SDS und SHB gucken“, sagt er. „Wir hatten das Gefühl, es beginnt etwas Neues. Demokratie fordert auch aktive Bürger.“
Nicht nur die Diskussion, auch das Leben an der Uni wird bunter. Klasing und Krüger wohnen im Studentenheim an der Bieberstraße. In der dritten Etage leben eher konservative Studenten, im fünften Stock ist eine Gruppe zu Hause, die sich selbst als Kommune bezeichnet. Bei den Heim-Versammlungen kommt es manchmal zu Auseinandersetzungen. Wird im fünften Stock eine rote Flagge aus dem Fenster gehängt, flattert prompt in der dritten Etage ein weißes Unterhemd im Wind. Trotzdem wird zusammen Volleyball gespielt oder im Partykeller in der Tiefgarage Bier getrunken. Hat jemand nichts vor, stellt er sich ins Treppenhaus und ruft laut: „Wer kommt heute Abend mit ins Kino?“ Irgendjemand findet sich immer.
Demokratisierung der Hochschule schreitet nun schnell voran
Als das Jahr 1968 zu Ende geht, bricht ein harter Winter an mit viel Schnee. Studenten haben den Philosophenturm besetzt, die Polizei hat ihn zurückerobert, beleuchtet den Vorplatz aber vorsichtshalber mit Flutlicht – für die Studenten wiederum eine Provokation. Berend Krüger ist abends unterwegs und versucht, die Lampen mit Schneebällen auszuwerfen. Prompt wird er erwischt. Die Polizei hält ihn mehrere Stunden lang fest. Als er nach Hause ins Studentenheim kommt, wird er wie ein Märtyrer gefeiert.
Nachdem die Pläne für ein neues Universitätsgesetz jahrelang nicht vorangekommen sind, schreitet die Demokratisierung der Hochschule nun schnell voran. Detlev Albers gilt als Schöpfer der „Drittel-Parität“, jener dann auch bundesweit verbreiteten studentischen Forderung, nach der Professoren, akademischer Mittelbau und Studenten jeweils ein Drittel der Stimmen in allen Gremien erhalten sollen. Im April 1969 verabschiedet die Bürgerschaft das neue Universitätsgesetz, das als Erstes seiner Art in der Bundesrepublik mit den alten Strukturen bricht. Ohne die Studentenbewegung, so Historiker Nicolaysen, wäre es nicht denkbar gewesen. Das Banner mit der Aufschrift „Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren“ landet im Hamburger Staatsarchiv, es ist zum Zeugnis eines Stücks Zeitgeschichte geworden.