Hamburg. Schüler verfolgten, wie die Abgeordneten im Rathaus zum Teil ausfällig wurden. Ein AfD-Abgeordneter legte sich am meisten ins Zeug.

Die Schülerinnen und Schüler der 8a, die ihren PGW-Unterricht (Politik, Gesellschaft, Wirtschaft) am Mittwochmittag kurzerhand ins Rathaus verlegten, staunten nicht schlecht, was ihnen für ein (mitunter lautstarkes) Schauspiel geboten wurde. In der Aktuellen Stunde der Bürgerschaft, die von den Achtklässlern aufmerksam von der vollen Zuschauertribüne aus verfolgt wurden, ging es gleich im ersten Programmpunkt um eine Selbstverständlichkeit, einerseits, und andererseits um ein echtes politisches Streitthema.

Kein Mensch ist illegal – Menschenrechte statt Grenzverfahren unter Haft, faire Asylverfahren statt Abschreckung“ hieß die Debatte, die die Fraktion der Linken angemeldet hatte. Und die jungen Zuhörerinnen und Zuhörer mussten sich nicht lange gedulden, ehe die Diskussion, die Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit vorab noch als „ganz wichtig“ angekündigt hatte, so richtig in Fahrt kam.

Flüchtlinge: Hamburger Bürgerschaft diskutiert sehr kontrovers in strittiger Frage

Einen Tag nach dem Weltflüchtlingstag trat zunächst Carola Ensslen, flüchtlingspolitische Sprecherin der Linken, ans Rednerpult und nannte den in der vergangenen Woche verkündeten Kompromiss bei der EU-Reform „eine historische Schande“. Ensslen rief ins Mikrofon: „Den Flüchtlingen soll ein kurzer Asylprozess gemacht werden, der keiner ist. No more Moria!“

Und während die Nachwuchspolitikerinnen und -politiker von ihren Plätzen im ersten Stock eifrig nickten, kamen immer wieder von der rechten Seite des Plenums lautstarke Zwischenrufe aus der AfD-Fraktion. Besonders Krzysztof Walczak verfolgte die Debatte so intensiv wie andere ein Endspiel bei einer Fußball-EM. Der AfD-Abgeordnete wippte mit den Beinen, knetete seine Hände, schaute sich aufgeregt um und rief immer wieder unverständliche Zwischenbemerkungen in Richtung Rednerpult.

Das änderte sich auch nicht, als die Besetzung am Rednerpult wechselte. Ksenija Bekeris (SPD) warb um Geduld für den gerade erst vereinbarten Asylkompromiss, Walczak rief dazwischen. Michael Gwosdz (Grüne) räumte ein, dass der Tag der Entscheidung, den seine eigene Partei mitzuverantworten hatte, kein guter Tag für Europa gewesen sei. Und wieder: Zwischenrufe von Walczak. Und sogar als Dennis Gladiator (CDU) die „maßlose Rhetorik der Linken“ kritisierte, konnte Walczak seine Gedanken nicht für sich behalten.

Mehrere Hundert Geflüchtete ertranken vor einer Woche im Mittelmeer

Die Achtklässler auf der Tribüne schienen überrascht, wie lebhaft, auch lustig, abwechslungsreich, bisweilen aber auch peinlich so eine Bürgerschaftsdebatte ablaufen kann. Dabei war der Anlass alles andere als lustig. So waren exakt vor einer Woche mehrere Hundert Flüchtlinge bei einem Bootsunglück vor Griechenland im Mittelmeer ertrunken, woran gleich mehrere Redner und Rednerinnen erinnerten.

Das Mittelmeer ist weit weg von Hamburg – die Flüchtlingsdebatte aber ganz nah. Auch ohne die zahlreichen Ukraine-Flüchtlinge kamen alleine in diesem Jahr (bis 31. Mai) 4859 Geflüchtete in Hamburg an, von denen 3277 in der Hansestadt blieben. Im gesamten Jahr 2022 registrierten sich 11.754 Geflüchtete, wovon 7869 langfristig in der Stadt unterkamen.

AfD-Chef Nockemann nennt CDU-Chef Thering „Karikatur“

Dirk Nockemann, Fraktionschef der AfD, war es, der angesichts der steigenden Zahlen noch einmal nachdrücklich daran erinnerte, dass der nun abgeschlossene Asylkompromiss schon seit zehn Jahren von seiner Partei gefordert worden sei und längst überflüssig sei. Erstmals auch kein Zwischenruf von Walczak, dafür allerdings von Dennis Thering (CDU), der umgehend sein Fett von Nockemann abbekam: „Herr Thering, Sie sind eine Karikatur eines Oppositionspolitikers.“

Sollten die Schülerinnen und Schüler im Unterricht den fairen Austausch von Argumenten als Form der politischen Debatte behandelt haben, diente die Bürgerschaftssitzung am Mittwoch nicht gerade als passendes Anschauungsmaterial. Das änderte sich auch nicht, als Krzysztof Walczak nach einem Redebeitrag von Insa Tietjen (Linke) schließlich nichts mehr auf seinem Platz hielt und er eine Gegenrede zu Tietjens Behauptung, dass es „keine kindgerechte Internierung“ geben könne, erbat. Tietjen lehnte ab.

Özdemir von der Linken nennt einen Redebeitrag „Bullshit“

Immerhin: Hier und da konnten die staunenden Achtklässler dann doch dem einen oder anderen überlegten Wortbeitrag lauschen. Sören Schumacher (SPD) berichtete, wie er gerade erst mit anderen Schülern über Europa und freie Grenzen diskutiert habe. Und der fraktionslose Abgeordnete Sami Musa setzte sich für realistische Regeln und Entscheidungen ein. Eine unbegrenzte Einwanderung sei wirklichkeitsfern, das sehe man auch in migrantischen Milieus so.

Als Cansu Özdemir von der Linken Musas Worte „Bullshit“ nannte, konnten die Schülerinnen und Schüler sehen, dass derlei Vokabular nicht nur zu Hause oder in der Schule gemaßregelt wird. Auch Bürgerschaftspräsidentin Veit sprach eine Ermahnung aus. Und ganz zum Schluss, als Allerletzter, durfte dann sogar Krzysztof Walczak noch etwas sagen. Ganz offiziell, angemeldet, am Rednerpult. Dass aber die deutsche Regierung die „dümmste Regierung Europas“ sei, weil sie als eine der wenigen wirklich Flüchtlinge aufnehme, hörten viele Achtklässler dann doch nicht mehr. Da waren sie schon wieder auf dem Heimweg, was sie möglicherweise in diesem Fall auch gar nicht so schlimm fanden.