Hamburg. Die Linke kritisiert „schlechte“ Rahmenbedingungen für schulische Inklusion. Die Hamburger Schulbehörde macht eine andere Rechnung auf.
Der Trend ist eindeutig: Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit einer Behinderung, die an den allgemeinen Schulen unterrichtet werden, ist im Laufe der vergangenen Jahre gesunken. Besuchten im Schuljahr 2016/17 noch 1177 Jungen und Mädchen mit Behinderungen der geistigen Entwicklung, der körperlich-motorischen Entwicklung, des Sehens und Hörens eine Regelschule, sind es im aktuellen Schuljahr 2022/23 lediglich 1024.
Das ergibt sich aus den Senatsantworten auf mehrere Kleine Anfragen der Linken-Bürgerschaftsfraktion. Die Inklusionsquote, die den prozentualen Anteil der inklusiv beschulten Kinder mit diesem speziellen Förderbedarf angibt, sank im gleichen Zeitraum von 45,9 auf 38,9 Prozent – bei insgesamt deutlich steigenden Schülerzahlen.
Schule Hamburg: Senatsbericht zu Inklusion weist auf gravierende Mängel hin
Der aktuelle Wert ist der niedrigste seit dem Start des Konzepts der inklusiven Beschulung im Schuljahr 2011/12. Seitdem gilt in Hamburg wie sonst nur noch in Bremen, dass Eltern uneingeschränkt entscheiden können, ob sie ihr behindertes Kind auf eine allgemeine oder eine spezielle Förderschule schicken.
„Nur 38,9 Prozent von Schülern und Schülerinnen mit Behinderungen gehen auf eine Regelschule – die Mehrheit von 61,1 Prozent wählt die speziellen Sonderschulen. Das zeigt, dass die Eltern zwar die Wahlfreiheit haben, sich aber letztendlich gegen die Inklusion entscheiden, weil sie den Regelschulen angesichts schlechter Voraussetzungen zunehmend misstrauen“, sagte Linken-Bürgerschafts-Fraktionschefin Sabine Boeddinghaus.
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- 295 Lehrerstellen für bessere Inklusion an Hamburgs Schulen
Der aktuelle 3. Fortschrittsbericht des Senats zur Umsetzung der Inklusion habe klar gezeigt, so die Linken-Politikerin, dass es gravierende Mängel gebe. So sei eine Doppelbesetzung mit Lehrkräften im Unterricht nicht durchgängig gewährleistet, und es gebe keine zuverlässige und qualifizierte Schulbegleitung für die Inklusionskinder. „Selbst die sogenannten Schwerpunktschulen, die zu allererst die Verantwortung für diese Schülerinnen und Schüler tragen, verfügen nicht alle über einen barrierefreien Zugang“, kritisierte Boeddinghaus.
Volksinitiative „Gute Inklusion“ konnte Verbesserungen durchsetzen
Bereits vor einem halben Jahr hatte die Volksinitiative „Gute Inklusion“ Schulsenator Ties Rabe (SPD) „Schönfärberei“ vorgeworfen, weil die Versorgung mit Therapie und Pflege in der Inklusion an den allgemeinen Schulen schlechter sei als an den Sonderschulen. „Die Doppelbesetzung wird in den inklusiven Schulen häufig für Vertretungsunterricht zweckentfremdet eingesetzt“, sagte Pit Katzer von der Volksinitiative. Bei der Schulbegleitung für behinderte Schülerinnen und Schüler fehlten „Verlässlichkeit, Kontinuität und ausreichende Qualifikation“.
Seit Inkrafttreten des Rechtsanspruchs auf inklusive Beschulung gibt es die Diskussion darüber, ob die Schulen ausreichend ausgestattet sind. Die Volksinitiative „Gute Inklusion“ hatte sich gegründet, um vor allem die personelle Ausstattung der Schulen deutlich zu verbessern. Nachdem die Initiative die ersten beiden Hürden der Volksgesetzgebung genommen hatte, einigte sich die rot-grüne Koalition zur Abwendung eines Volksentscheids mit der Initiative im Dezember 2017 auf einen Kompromiss.
Bis 2027 sollen 100 Millionen Euro in barrierefreie Schulen investiert werden
Vereinbart wurde, dass in mehreren Stufen 295 zusätzliche Stellen für Lehrkräfte, Sozialpädagogen und Erzieher für die Inklusion geschaffen werden. Kosten: rund 25 Millionen Euro. Rund zwei Drittel des zusätzlichen pädagogischen Personals sollen für den Unterricht der Kinder mit Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache und emotionale Entwicklung (LSE) eingesetzt werden. Außerdem sieht der Kompromiss vor, dass der Unterricht durchgängig mit zwei Lehrkräften besetzt wird, wenn mindestens drei Kinder mit einer Behinderung in einer Klasse sind.
Im Prinzip sollen allgemeinbildende Schulen, die mindestens fünf Schüler mit dem Förderschwerpunkt körperlich-motorische Entwicklung haben, genauso viele Therapie- und Pflegestunden erhalten wie Sonderschulen. Die Vereinbarung sieht außerdem vor, dass 100 Millionen Euro bis 2027 in barrierefreie Schulen investiert werden, wovon mindestens 35 Millionen Euro für Umbauten bestehender Gebäude vorgesehen sind.
Schulbehörde Hamburg rechnet anders, mehr Kinder mit Förderbedarf
Die Schulbehörde macht hinsichtlich der Entwicklung der Inklusion eine andere Rechnung auf und bezieht die große Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich LSE in die Betrachtung ein. „Gingen im Schuljahr 2013/14 noch 64 Prozent dieser Schülerinnen und Schüler auf eine allgemeine Schule, sind es im aktuellen Schuljahr 78 Prozent“, sagte Albrecht. In absoluten Zahlen ausgedrückt: ein Anstieg von 6010 auf 7112 LSE-beschulte Kinder.
Das hat auch Auswirkungen auf die Gesamtzahl der Schülerinnen und Schüler, die an der Inklusion teilnehmen. Die Gesamt-Inklusionsquote stieg nach Angaben der Schulbehörde von 58,1 Prozent (7480 Kinder) im Schuljahr 2013/14 auf 66 Prozent (8680 Kinder) im aktuellen Schuljahr. „Somit werden in Hamburg zwei von drei Schülerinnen und Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf inklusiv beschult. Die Sonderschulen weisen hingegen seit Jahren sinkende Schülerzahlen auf“, sagte Albrecht.
Schule Hamburg: Wahlrecht der Eltern besteht in Hamburg seit 2012
Rechnet man alle Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allgemeinen und Sonderschulen zusammen, dann ergeben sich im Laufe der Jahre nur geringe Schwankungen. Die Zahl aller Kinder und Jugendlichen stieg von 12.857 (Schuljahr 2013/14) auf 13.145 (2022/23). Das bedeutet ein Plus von lediglich 2,2 Prozent, obwohl im gleichen Zeitraum die Gesamtzahl aller Schülerinnen und Schüler an Hamburger Schulen um 14 Prozent deutlich gestiegen ist.
In der Schulbehörde wird ein Absinken der Inklusionsquote mit Hinweis auf das Wahlrecht der Eltern nicht als problematisch angesehen. „Ein Schulsystem, das diese Wahlfreiheit eröffnet, sollte diese Wahlfreiheit auch ernst nehmen und nicht zugunsten der einen oder anderen Entscheidung einschränken. Deshalb achtet die für Bildung zuständige Behörde die neu justierte Balance zwischen den beiden Bildungswegen“, schreibt der Senat in seiner Antwort auf die aktuelle Kleine Anfrage der Linken-Fraktion.