Hamburg. Rot-Grün will Verzicht auf Grundstücksverkäufe an Private ins „Grundgesetz“ schreiben – CDU kritisiert auch Verfahren.
Otto von Bismarck ist nicht die beste Quelle, wenn es um Fragen der Demokratie geht. Aber selbst Bismarck hat als damaliger Reichskanzler 1887 im Reichstag diesen Satz gesagt: „Keine Verfassung kann ohne Kompromiss existieren.“ Es geht bei den Festlegungen der politischen Grundordnung eines Gemeinwesens, das soll der Satz wohl bedeuten, immer auch um die so weit mögliche Einbindung der Andersdenkenden, der politischen Gegner.
Verfassung: Rot-Grün hat sich zur Stärkung der Kontrollfunktion der Opposition verpflichtet
Dass aus einer großen Regierungsmehrheit zudem besondere Verpflichtungen zum Schutz der Minderheitenrechte in einem Parlament erwachsen, wissen auch SPD und Grüne, die seit 2020 mit einer, wenn auch knappen Zwei-Drittel-Mehrheit regieren, mit der die Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg jederzeit in ihrem Sinne geändert werden könnte.
„Mit der breiten Mehrheit unserer rot-grünen Koalition in der Bürgerschaft werden wir verantwortungsbewusst und fair umgehen“, haben die beiden Parteien in ihren Koalitionsvertrag geschrieben und sich zur Stärkung der Kontrollfunktion der Opposition verpflichtet.
Und ganz konkret Wort gehalten: Bereits 2020 wurde zum Beispiel das erforderliche Quorum zur Einsetzung von Parlamentarischen Untersuchungsausschüssen von einem Drittel der Abgeordneten auf ein Fünftel abgesenkt. Aber der Satz vom verantwortungsbewussten und fairen Umgang mit der breiten Regierungsmehrheit darf auch so interpretiert werden (und wurde auch so interpretiert), dass Rot-Grün diese Überlegenheit nicht zu Korrekturen der Verfassung nutzen wird, die ausschließlich in ihrem Sinne sind.
Gegen diesen Grundsatz haben die Senatsfraktionen jedoch bereits einmal verstoßen: Im Juni 2020 strichen SPD und Grüne mit ihrer Zwei-Drittel-Mehrheit die traditionellen Deputationen als bürgerliche Mitwirkungsorgane in den Behörden aus der Verfassung – gegen die Stimmen von CDU und der Linken.
Die Präambel soll um ein Bekenntnis gegen Antisemitismus ergänzt werden
Nun stehen in der Bürgerschaft zum Anfang des neuen Jahres erneut Beratungen und Abstimmungen über zwei Änderungen der Hamburgischen Verfassung an, deren politische Ausgangslage unterschiedlicher kaum sein kann: Einmal soll die Präambel der Verfassung um ein Bekenntnis zur Bekämpfung von Rassismus, Antisemitismus und der Verklärung des Nationalsozialismus ergänzt werden. Hier haben sich SPD, Grüne und CDU auf einen Text geeinigt. Auch die Linke will zustimmen.
Bei der zweiten geplanten Änderung des Hamburger „Grundgesetzes“ wird es genau diesen breiten Konsens jedoch erneut nicht geben. Durchaus spektakulär hatten sich die Fraktionen von SPD und Grünen Anfang November mit zwei Volksinitiativen, unterstützt von den Mietervereinen, auf eine Kursänderung in der Wohnungsbaupolitik verständigt.
Verzicht der Stadt auf Verkauf von städtischen Wohnungen an Private
Kernpunkt ist ein weitgehender Verzicht der Stadt auf den Verkauf von Grundstücken für den Wohnungsbau sowie von städtischen Wohnungen an Private. Stattdessen sollen Flächen nur noch im Wege des Erbbaurechts vergeben werden. Pro Jahr sollen zudem 1000 Sozialwohnungen gebaut werden, für die eine Mietpreisbindung für 100 Jahre gelten soll.
Die Wohnungswirtschaft läuft Sturm gegen die Planungen – besonders, was das Erbbaurecht angeht, und prophezeit, dass sie künftig kaum mehr Wohnungen in Hamburg bauen werde. Die CDU-Stadtentwicklungspolitikerin Anke Frieling sprach von einem „Einstieg in ein sozialistisches Wohn- und Wohnungsbaukonzept“. Die 100-jährige Mietpreisbindung und der Verzicht auf den Verkauf städtischer Flächen würde den dringend benötigten Wohnungsbau „massiv gefährden“.
Bezahlbarer Wohnraum in Hamburg soll erhalten bleiben
SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf will die Aufregung nicht so recht verstehen. Der Kurs, möglichst keine städtischen Flächen mehr zu verkaufen, sei bereits mit den gesetzlichen Änderungen der Bodenpolitik („Bodendrucksache“) vor zwei Jahren eingeschlagen worden. Er sieht dagegen die gestiegenen Baupreise als entscheidenden Grund für die Probleme der Wohnungswirtschaft an. „Die Unternehmen ächzen unter den veränderten Rahmenbedingungen“, sagt der SPD-Politiker. Jetzt müsse es darum gehen, die Förderbedingungen zu verbessern.
Das Ziel von Rot-Grün und den Initiativen ist, dass langfristig gewährleistet ist, dass bezahlbarer Wohnraum in Hamburg geschaffen wird und erhalten bleibt. SPD und Grüne wollen ein entsprechendes Bekenntnis zugleich auch in die Verfassung schreiben. „Zur Gewährleistung der Wohnraumversorgung soll das Eigentum an Grundstücken der Freien und Hansestadt, die für den Wohnungsbau bestimmt sind, grundsätzlich nicht an Dritte übertragen werden“, heißt der zentrale Satz der neuen Fassung des Artikels 72 Absatz 6 der Verfassung, der mit den Volksinitiativen bereits so abgestimmt wurde. Nur in bestimmten Fällen, in denen die Bürgerschaft darüber abstimmen muss, soll es Ausnahmen geben.
Die Änderung soll ergänzt werden durch einen neuen Artikel 73a, dessen Kernsatz lautet: „Die Freie und Hansestadt Hamburg fördert und unterstützt im Rahmen ihrer Möglichkeiten die Schaffung, Erhaltung und die Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum.“
Kienscherf räumt „ungewöhnlichs“ Vorgehen von Rot-Grün ein
Es gibt nicht nur den inhaltlichen Streit, sondern Kritik auch daran, dass Rot-Grün den Wortlaut der Verfassungsänderungen mit den Volksinitiativen vorab abgestimmt und sich somit unter Zugzwang gesetzt hat. „Das ist ein absolut ungewöhnlicher Vorgang“, sagt der CDU-Verfassungspolitiker André Trepoll. Dass nur 14.000 Menschen, die die Volksinitiativen mit ihrer Unterschrift unterstützt hätten, „Zugriff auf die Hamburger Verfassung haben ist einmalig“, kritisiert Trepoll.
Sogar Kienscherf räumt ein, dass das Vorgehen von Rot-Grün „ungewöhnlich“ ist. Dass nun schon ein fertiger Text für die Verfassungsänderungen vorliege, sei auch durch die schwierigen Verhandlungen mit den Volksinitiativen bedingt. Aber, so der SPD-Fraktionschef lakonisch, die rot-grüne Mehrheit sei nun einmal „zu dem Ergebnis gekommen, es so zu machen“. Immerhin haben sich die Fraktionen darauf geeinigt, Ende Januar eine Expertenanhörung zu den geplanten Änderungen im Verfassungsausschuss durchzuführen.
Die Opposition spricht von einem „absolut ungewöhnlichen Vorgang“
Auch die Vorsitzende des Verfassungsausschusses, Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD), sieht es als„schwierig“ an, dass der Vorschlag gewissermaßen von außen an das Parlament herangetragen wurde. „Aber wir werden das im Verfassungsausschuss sorgfältig beraten“, sagt Veit. Wenn die Abgeordneten Veränderungsbedarf sähen, dann müssten die Regierungsfraktionen das mit den Volksinitiativen eben noch einmal besprechen.
Die Konfrontation in der Bürgerschaft ist absehbar. Ein anderer Streit konnte gerade noch abgeräumt werden. SPD-Fraktionschef Kienscherf hatte nach Abendblatt-Informationen bei der CDU vorgefühlt, ob sie einverstanden sei, beide Verfassungsänderungen in denselben Sitzungen der Bürgerschaft zu beraten. Offiziell ging es darum zu vermeiden, dass bei vier oder mehr aufeinanderfolgenden Bürgerschaftssitzungen auf der Tagesordnung Korrekturen der eigentlich als relativ sakrosankt geltenden Verfassung stehen.
Hinter vorgehaltener Hand war jedoch auch zu hören, die SPD erhoffe sich von einer parallelen Behandlung in der Bürgerschaft, dass der Protest gegen die Verfassungsänderungen beim Wohnungsbau von der positiven Signalwirkung der Präambel-Ergänzung überlagert werde. Doch die CDU-Opposition lehnte die Koppelung erbost ab. Es kommt hinzu, dass die Einigung über die Formulierung des Bekenntnisses gegen Rassismus, Antisemitismus und die Verherrlichung des Nationalsozialismus seit November vorliegt. Eine Koppelung hätte eine weitere Verzögerung der Entscheidung bis in den März hinein bedeutet.
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Verfassung: Bei der Präambel haben sich SPD, Grüne und CDU geeinigt
„Es gibt keinen Grund, mit der Präambel-Ergänzung zu warten. Das ist gut durchberaten“, sagt Carola Veit. Zwar könne man es einerseits als politisch elegant ansehen, die Verfassungsänderungen in einem Durchgang zu beraten. „Aber manchmal ist es eben gut, jedes Thema für sich abzuwickeln“, sagt Veit mit Blick auf die unterschiedlichen Mehrheitsverhältnisse bei beiden Themen. So wird die Bürgerschaft das Bekenntnis gegen Rassismus und Antisemitismus und gegen die Verherrlichung des Nationalsozialismus voraussichtlich in erster Lesung am 1. Februar und in zweiter und abschließender Lesung am 15. Februar beschließen.
„Mir ist es wichtig, dass sich bei Verfassungsänderungen möglichst viele Fraktionen anschließen“, sagt die Präsidentin noch. Das ist jedenfalls bei der Präambel-Ergänzung der Fall, bei der sich SPD, Grüne und CDU im Laufe von eineinhalb Jahren auf einen Kompromiss verständigt hatten. Ganz wie Otto von Bismarck es einst für richtig gehalten hatte...