Hamburg. Einen Abendblatt-Beitrag von Götz Wiese interpretierten viele als Bewerbung. Und doch gilt ein anderer als Favorit.

„Was passierte in Jesteburg?“ Diese Frage trieb schon vor 20 Jahren die Hamburger Politik um. Im Mai 2002 stellte die SPD-Bürgerschaftsabgeordnete Britta Ernst, damals wie heute Ehefrau eines gewissen Olaf Scholz, eine Kleine Anfrage mit diesem Titel an den Senat. Konkret wollte die Bildungspolitikerin wissen, was die damalige Koalition aus CDU, FDP und Schillpartei auf ihrer Sparklausur am Rande der Lüneburger Heide zum Thema Erhöhung der Lehrerarbeitszeit beschlossen hatte. Die Antwort fiel mager aus: Das Treffen der Senatsmitglieder und der Fraktionsvorsitzenden habe lediglich „der politischen Willensbildung innerhalb der Koalition“ gedient.

Zwei Jahrzehnte später drängt sich die Frage, was in Jesteburg geschah, erneut auf. Am vergangenen Wochenende war die Hamburger CDU, die sich nach 2002 noch mehrfach in dem versteckt gelegenen Tagungszentrum in Klausur begeben hatte, erstmals seit vielen Jahren wieder in großem Kreis dort zu Gast, und wieder wurden „wichtige Weichen gestellt“, wie der Landesvorsitzende Christoph Ploß im Nachgang verkündete. Allerdings blieb unklar, welche Weiche da in welche Richtung gestellt wurde. Auf Nachfrage hieß es, dass etwa bedeutende organisatorische Fragen geklärt worden seien: Bis Jahresende soll ein neues Grundsatzprogramm stehen. Die Mitglieder sollen daran mitwirken können. Und für den vakanten Posten des Landesgeschäftsführers werde demnächst ein Nachfolger präsentiert.

Klare inhaltliche Ausrichtung und ein überzeugendes personelles Angebot

Dennoch schwebte über der Veranstaltung natürlich die alles entscheidende Frage: Wie kann der einstige CDU-Express, der unter Ole von Beust zehn Jahre lang die Hamburger Politik gezogen und Ergebnisse jenseits der 40 Prozent eingefahren hatte, bevor er immer weiter zerlegt wurde und 2020 als 11-Prozent-Bimmelbahn auf einem Nebengleis landete, die Weiche wieder in Richtung Erfolg stellen?

Die Antwort, das ist den Christdemokraten bewusst, muss aus zwei Teilen bestehen: einer klaren inhaltlichen Ausrichtung, die den Schlingerkurs der vergangenen Jahre beendet. Und einem personellen Angebot, das die Hamburgerinnen und Hamburger überzeugen könnte, ihr Kreuz mal wieder bei der Union zu machen. Idealerweise sollte beides zusammenpassen. Nicht nur daran hatte es vor der letzten Wahl gehapert, als zunächst eine Rückbesinnung auf konservative Werte propagiert wurde, um dann mit Marcus Weinberg einen langjährigen Vertreter der liberalen Großstadtpartei zum Spitzenkandidaten zu machen.

Götz Wiese hielt ein flammendes Plädoyer für die liberale Großstadtpartei

Das musste schiefgehen. Gleichwohl lehnen es viele Führungsfiguren der Partei ab, künftig einer Strömung Vorrang zu gewähren. Selbst Christoph Ploß, der seinerseits klar das konservative Element vertritt und sich unter anderem bundesweit als oberster Gender-Gegner der Union profiliert hat, appelliert zu einem ausgewogenen Sowohl-als-auch. So hatte er zwar mit dem Mainzer Historiker Prof. Andreas Rödder einen konservativen Vordenker nach Jesteburg eingeladen und machte sich dessen Plädoyer, als Union auf Themen wie Eigenverantwortung, Freiheit, Recht und Ordnung und Wettbewerb zu setzen, im Nachgang zu eigen. Doch Ploß zitierte auch Rödders Satz, wonach die CDU immer dann erfolgreich sei, „wenn sie in ihrer ganzen inhaltlichen Breite sichtbar“ werde.

Was das konkret bedeuten könnte, wurde am ersten Tag der Klausur deutlich. Da erschien im Abendblatt ein Gastbeitrag des CDU-Bürgerschaftsabgeordneten Götz Wiese, in dem dieser den Konservatismus zwar als „eine der drei Quellen“ der Union nannte. Unterm Strich hielt der Jurist aber ein flammendes Plädoyer für die liberale Großstadtpartei. „Erst eine liberale, moderne und soziale CDU in Hamburg macht Lust auf Zukunft“, analysierte der 56-Jährige und betonte: „Hier spielt die Musik!“ Die Partei müsse sich selbstkritisch fragen: „Hören wir den Sound der Großstadt?“

War Wieses Beitrag eine Bewerbung?

Das war als deutlicher Kontrapunkt zum Profil des Landesvorsitzenden gemeint, und so wurde es innerparteilich auch positiv aufgenommen. Denn nicht wenige Mitglieder sind leicht angesäuert, dass die Hamburger CDU als stockkonservativ gilt, nur weil ihr Vorsitzender in Talkshows das Gendern verteufelt. „Das nervt viele“, bekennt einer.

Aus Wieses Beitrag wurde aber noch etwas anderes herausgelesen: eine Bewerbung. Dazu trug zum einen bei, dass er sich als Abgeordneter entgegen sonstiger Gepflogenheiten nicht zu seinem Fachgebiet Wirtschaft äußerte, sondern zur Lage der Partei – und das am Tag eines wichtigen Strategietreffens.

Im Parlament zeigt sich der Anwalt als routinierter Redner

Wiese hat es darüber hinaus geschafft, in den nur zwei Jahren, die er der Bürgerschaft angehört, sich in der Hamburger Politik einen Namen zu machen. Das einstige Vakuum im Bereich Wirtschaft, unter dem die CDU noch in der vergangenen Wahlperiode gelitten hatte, hat er geschlossen. Im Parlament zeigt sich der selbstständige Anwalt und Honorarprofessor an der Bucerius Law School als routinierter Redner, und sein sympathisch-einnehmendes Wesen weiß er ebenfalls einzusetzen. Kurzum stellt sich die Frage: Könnte nicht jener Prof. Dr. Götz Wiese aus dem bürgerlichen Winterhude der geeignete Kandidat sein, um die CDU bei der Wahl 2025 zu besseren Ergebnissen zu führen? „Ja, er könnte das“, sagt ein prominentes Mitglied – und steht damit nicht allein.

Allerdings schränken alle, die das so sehen, ein, dass dieser Weg nur über den Fraktionsvorsitzenden Dennis Thering führt. Der 37-Jährige hat mit seinem ein Jahr jüngeren Weggefährten Ploß ein klares Agreement: Der Parteivorsitzende, der die Union seit 2017 im Bundestag vertritt, kümmert sich um die Bundespolitik und die Parteiarbeit, und Thering, der die Fraktionsführung nach der Wahlschlappe 2020 übernommen hatte, beackert die Hamburger Themen – mit der Perspektive, die Spitzenkandidatur zu übernehmen. Dass er sich das zutraut, verhehlt er nicht. Seine Lust, Spitzenkandidat zu werden, sei „sehr ausgeprägt“, sagte er im vergangenen Sommer-Interview mit dem Abendblatt.

Dennis Thering profiliert sich vor allem als Kümmerer

Der junge Familienvater aus dem Alstertal profiliert sich vor allem als Kümmerer, der unermüdlich durch die Stadt tourt und dem kein Thema zu piefig ist, um es anzupacken. Links-rechts, konservativ oder liberal – das sei den Menschen egal, sie wollten, dass die Politik ihre Probleme löse, ist Therings Mantra. Mit diesem Profil, seiner unkomplizierten, kommunikativen Art und einem Altersunterschied von knapp 20 Jahren könnte er gut als Gegenentwurf der Marke Daniel Günther zum eher spröde-intellektuellen Bürgermeister Peter Tschen­tscher (SPD) präsentiert werden.

Allerdings ist der Fraktionschef zum Teil mit für den inhaltlichen Schlingerkurs der vergangenen Jahre verantwortlich und hat es bislang nicht geschafft, ein Thema herauszuarbeiten, mit dem er oder die Partei klar verbunden werden. „Er muss sich weiter steigern“, sagt daher ein Fraktionsmitglied, das es zumindest noch nicht für ausgemacht hält, wer denn nun Spitzenkandidat wird. Auch über Frauen wie die Bundestagsabgeordnete Franziska Hoppermann oder die aus Hamburg stammende schleswig-holsteinische Bildungsministerin Karin Prien, so sie denn nach der Wahl im Mai ihren Posten räumen muss, müsse man nachdenken, meint ein anderer.

Will Wiese seinem Fraktionsvorsitzenden überhaupt Konkurrenz machen?

Bei Wiese wiederum stellt sich die Frage, ob er überhaupt bereit wäre, seinem Fraktionsvorsitzenden Konkurrenz zu machen. In Jesteburg wurde das klar verneint. Mehrfach wurde Wiese dort auf seinen Gastbeitrag angesprochen, und stets habe er versichert, dass dieser weder als Bewerbung noch als Affront gegen Ploß oder Thering gemeint war. Beide hätten seine volle Unterstützung.

Dass dem so ist, dafür spricht ein einfaches Indiz: Wiese hatte sowohl Ploß – der ihn vor einigen Jahren in die Politik geholt hatte – als auch Thering vorab über seinen Text informiert. Insofern ist zumindest klar, was nicht in Jesteburg passiert ist: eine Revolution.