Hamburg. Hamburg würde dem Neustart des Kohlekraftwerks von Vattenfall zustimmen. Das sind die Voraussetzungen dafür.

Der niedersächsische Umwelt- und Energieminister Olaf Lies (SPD) hat das große Dilemma der deutschen Energiepolitik angesichts eines zu allem entschlossenen brutalen Kriegsherrn Wladimir Putin wohl am besten auf den Punkt gebracht. „Kohle wird eine entscheidende Rolle spielen“, sagte Lies im Anschluss an eine Sonderkonferenz der Länder-Energieminister mit Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am Dienstag.

Kohle? Das ist angesichts des hohen CO2-Ausstoßes doch die Energieerzeugungsform von gestern, um nicht zu sagen von vorgestern. Und wie zur Entschuldigung fügte Lies hinzu: „Dass wir diesen Satz noch einmal wählen, ist nicht ganz selbstverständlich, weil wir natürlich den vorgezogenen Kohleausstieg 2030 im Blick haben. Aber wenn wir unabhängig werden wollen, werden wir mit dem Thema Kohle arbeiten müssen.“

Habeck: Vom Netz gehende Kohlekraftwerke als Reserve

Das ist also die Realität im Frühjahr 2022 angesichts des auch für viele Zivilisten tödlichen Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine und einer sich zuspitzenden Lage zwischen den Demokratien des Westens und den autoritären Staaten des Ostens. Wenn Putin den Gashahn zudreht oder die EU ihrerseits beschließt, die Energieimporte aus Russland als weitere Sanktion zu stoppen, dann ist nicht nur guter Rat teuer, dann werden die Preise noch weiter explodieren.

Kurzfristig mögen die Speicher in Deutschland ausreichend gefüllt sein, mittelfristig wird es darum gehen, die Energieerzeugung zu diversifizieren, also auf unterschiedliche Formen zu verteilen. So schnell wird der forcierte Ausbau der erneuerbare Energien, den sich die Ampel-Koalition vorgenommen hat, nicht erfolgen können.

Das Kohlekraftwerk Moorburg ging im Dezember 2020 vom Netz (Archivbild).
Das Kohlekraftwerk Moorburg ging im Dezember 2020 vom Netz (Archivbild). © dpa | Georg Wendt

„Wir werden alle Kohlekraftwerke, die vom Netz gehen, in Reserve halten“, kündigte Wirtschafts- und Klimaschutzminister Habeck, der ein Comeback der Atomkraft ausschloss, auch am Dienstag an. Die Bundesnetzagentur werde dauerhaft überwachen, ob die Versorgungssicherheit gewährleistet ist. „Der Kohleausstieg als solcher wird aber wahrscheinlicher durch die Ausbaugeschwindigkeit, die wir bei den erneuerbaren Energien anstreben“, fügte Habeck hinzu, als wolle er Gleichgesinnten trotz allem Mut machen. Es klang etwas matt.

Moorburg: Kraftwerk-Rückbau wurde gestoppt

Die rot-grüne Koalition im Rathaus ist beim Kohleausstieg besonders ambitioniert. Im Kompromiss mit der Volksinitiative „Tschüss Kohle“ wurde 2019 vereinbart, „den Einsatz von unmittelbar aus Stein- oder Braunkohle produzierter Wärme bereits vor Ablauf der in Satz 1 genannten Frist (31. Dezember 2030, die Red.) möglichst weitgehend zu vermeiden“. Ein großer Schritt wurde mit der Stilllegung des Steinkohlekraftwerks Moorburg 2021 zudem schon erreicht.

Und was nun angesichts der von Putin heraufbeschworenen Eskalation? Moorburg-Eigentümer Vattenfall hat angekündigt, Maßnahmen zur Vorbereitung des Kraftwerk-Rückbaus erst einmal bis Mitte März zurückzustellen. „Sollten politische Entscheidungsträger es für erforderlich halten, dass Vattenfall die Möglichkeiten zur Wiederinbetriebnahme des Kraftwerks prüft, müssen sie diese Forderung an Vattenfall herantragen“, sagte ein Unternehmenssprecher Anfang der Woche. Der Energieversorger plane von sich aus nicht, den Kohlemeiler wieder ans Netz zu bringen.

Das Wiederanfahren des Kraftwerks wäre allerdings eine weitere, beinahe absurde Pirouette in seiner wechselvollen Geschichte. In Kurzform: Dem damaligen CDU-Senat konnte das Kraftwerk 2004 nicht groß genug sein, für die Grünen war Moorburg dagegen schlicht der „Klimakiller“, der nie ans Netz hätte gehen dürfen. Trotzdem musste eine grüne Senatorin 2008 im damaligen schwarz-grünen Bündnis die Betriebsgenehmigung erteilen, weil der Bau rechtlich nicht zu verhindern war. Im November 2015 drückte der damalige Erste Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) schließlich den Startknopf für die Inbetriebnahme.

Moorburg ist das modernste Steinkohlekraftwerk Europas

Doch glücklich wurde Vattenfall mit dem Kraftwerk nie, profitabel war es wohl auch nicht. Scholz-Nachfolger Peter Tschentscher (SPD) sah die Sache pragmatisch und machte den Klimaschutz zu seinem Topthema. Die SPD einigte sich mit den Grünen auf ein rasches Aus für Moorburg, und Vattenfall gab entnervt auf. Am Ende war das modernste Steinkohlekraftwerk Europas, wie es gern genannt wurde, ein drei Milliarden Euro teurer Irrtum.

Und längst gibt es ja andere, klimafreundliche Pläne für das Areal im Hafen. Auf dem Gelände planen Senat und Vattenfall sowie drei weitere Unternehmen eine Elektrolyseanlage, die mithilfe von Strom aus Wind- und Solaranlagen sogenannten grünen Wasserstoff erzeugen soll. Entsprechend reserviert fällt die Reaktion von Senat und Regierungsfraktionen auf Habecks Ankündigung aus.

„Es ist grundsätzlich richtig, ernsthaft alle Optionen zu prüfen. Aber mir fehlt jede Fantasie, wie wir das Kraftwerk Moorburg in einem überschaubaren Zeitraum wieder in Betrieb nehmen können“, sagt Grünen-Fraktionschef Dominik Lorenzen. „Es besteht aus unserer Sicht kein Bedarf, das Kraftwerk Moorburg wieder hochzufahren. Es sind im Strombereich derzeit keine Versorgungsengpässe zu befürchten. Die vorhandenen Erzeugungskapazitäten sind ausreichend, um auch den Strombedarf der Hamburger Wirtschaft zu decken“, sagt SPD-Fraktionschef Dirk Kienscherf.

Moorburg könnte nahezu den gesamten Stromverbrauch Hamburgs decken

„Als kurzfristige Überbrückung könnte eine Laufzeitverlängerung für Kohlekraftwerke helfen, die noch am Netz sind, so wie es Bundesminister Habeck aktuell diskutiert“, sagt Industriekoordinator und Wirtschaftsstaatsrat Andreas Rieckhof (SPD). „Die Wettbewerbsfähigkeit der Hamburger Industrie liegt uns dabei besonders am Herzen, da nur gemeinsam mit ihr die Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaftsweise gelingen wird. Vor diesem Hintergrund halte ich es für richtig, dass Energieimporte bislang von den Sanktionen ausgenommen sind.“

Die vom erkrankten Jens Kerstan (Grüne) geleitete Umweltbehörde wird deutlicher. „Die Reaktivierung von Kohlekraftwerken kann nicht die richtige Strategie sein – zumal wir bei Steinkohle ähnlich abhängig sind von Russland wie bei Erdgas“, hatte die Behörde bereits Anfang der Woche mitgeteilt. Außerdem sei Moorburg nach längerem Stillstand technisch nur sehr schwer wieder in Betrieb zu nehmen.

Zudem gibt es rechtliche Hürden. „Die aktuelle Rechtslage erlaubt keinen Betrieb des Kraftwerks Moorburg mit dem Brennstoff Kohle“, sagt Behördensprecherin Renate Pinzke. „Sollte das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz in der aktuellen Krise ein Wiederanfahren bereits stillgelegter Kraftwerke zur Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit für notwendig erachten, müsste zunächst das Kohleverstromungsbeendigungsgesetz um eine entsprechende Öffnungsklausel erweitert werden“, sagt die Sprecherin. Die Initiative läge damit zunächst bei der Bundesregierung und beim Bundestag.

Genau das fordert CDU-Oppositionschef Dennis Thering. „Moorburg sollte von der Bundesnetzagentur wieder als systemrelevantes Reservekraftwerk eingestuft werden, sodass Vattenfall den Rückbau des Kraftwerks stoppen kann. Dafür benötigt es eine übergeordnete politische Entscheidung aus Berlin“, sagt Thering. Moorburg sei das modernste und effizienteste Kohlekraftwerk Deutschlands, das mit seiner vollen Leistung nahezu den gesamten Stromverbrauch Hamburgs decken könne.

Olaf Scholz schwärmte vom „leistungsstarken Kraftwerk“

„Die Industrie wie die Bürger brauchen gerade jetzt sichere und bezahlbare Energie. Beides ist angesichts der Kostenexplosion und der drohenden Lieferausfälle hochgradig gefährdet. In einer solchen Krisensituation ein modernes Kohlekraftwerk zurückzubauen, das mindestens als Rückfallposition für Notlagen vorgehalten werden könnte, erscheint nicht besonders weitblickend“, sagt auch Nico Fickinger, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Nordmetall.

Und wenn es so kommt? „Wir würden dem Wiederanfahren von Moorburg zustimmen, wenn sich das nach Auffassung der Bundesregierung als notwendig für die Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit erweist“, sagt Behördensprecherin Pinzke. Irgendwie erstaunlich. Dabei: Geht es nach ökologischen Kriterien, läge Moorburg in der Abwägung mit seinen modernen Filteranlagen allerdings wohl wirklich ziemlich weit vor den alten Braunkohlemeilern. Allerdings müsste die Steinkohle, die bislang zu 45 Prozent aus Russland kommt, dann verstärkt aus USA, Chile oder Australien importiert werden.

Wenn es in der Bundesregierung um die Sicherung der Energieversorgung Deutschlands geht, dann wird derjenige ein gewichtiges Wort mitreden, der heute im Kanzleramt sitzt: ausgerechnet jener Olaf Scholz, der 2015 als Erster Bürgermeister das Kraftwerk Moorburg geradezu hymnisch gefeiert hat und eine Laufzeit von „vermutlich 40 oder 50 Jahren“ prophezeite. Das „leistungsstarke Kraftwerk“ sei „ein Ergebnis von Ingenieurskunst und State of the Art“. Und für seine Verhältnisse geradezu schwärmerisch fügte Scholz hinzu: Moorburg sei „ein Tanker mit den Manövriereigenschaften einer Hafenfähre“. Scholz wird sich in diesem Fall an seine Worte erinnern. Für die Grünen wäre ein Neustart von Moorburg dagegen ein Gräuel.