Hamburg. Gerhard Strate wirft Kanzler und Bürgermeister „Beihilfe zur Steuerhinterziehung“ vor – und unterstellt einem von beiden Falschaussage.

Die Aufarbeitung des Cum-Ex-Skandals und der Frage, welche Rolle die Politik dabei spielte, bekommt eine neue Dynamik: Der Hamburger Staranwalt Gerhard Strate hat jetzt Strafanzeige gegen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung sowie – im Falle von Scholz – wegen falscher uneidlicher Aussage gestellt.

Wie aus dem fast 40-seitigen Schriftsatz, der dem Abendblatt vorliegt, hervorgeht, wirft Strate Scholz unter anderem vor, dass seine Aussage vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) der Bürgerschaft, er erinnere sich nicht an den Inhalt von drei Treffen mit hochrangigen Vertretern der Warburg-Bank sowie an ein weiteres Telefonat mit Mitinhaber Christian Olearius in den Jahren 2016 und 2017, völlig unglaubwürdig sei.

Cum-Ex: Staranwalt zeigt Scholz und Tschentscher an

Gegen Tschentscher erhebt Strate den Vorwurf, dass dieser in seiner damaligen Eigenschaft als Finanzsenator die Aufsicht über die Finanzämter hatte und insofern nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, ein gesetzeswidriges Handeln seiner Behörde zu verhindern. Indem er Ende 2016 die gemeinsame Entscheidung von Finanzamt und Finanzbehörde, rund 47 Millionen Euro an Steuern nicht von Warburg zurückzufordern, gebilligt habe, habe der Senator diese Pflicht verletzt und sich insofern der Beihilfe zur Steuerhinterziehung schuldig gemacht, so Strate.

Mithilfe der Cum-Ex-Geschäfte ließen sich Banken Steuern erstatten, die sie nie gezahlt hatten. Experten schätzen den weltweiten Schaden für den Fiskus auf bis zu 150 Milliarden Euro. In Deutschland ermittelt federführend die Staatsanwaltschaft Köln. Auch in Hamburg hatte es bereits Strafanzeigen von Bürgern gegen Scholz, Tschentscher und andere Beteiligte gegeben.

Cum-Ex: Staatsanwaltschaft stellte die Verfahren ein

Die Staatsanwaltschaft hatte jedoch keinen Anfangsverdacht gesehen und die Verfahren eingestellt. Die Anzeige des renommierten Strafverteidigers Strate hat dagegen eine andere Qualität. Der 71-Jährige hatte bereits 2009 mit einer Anzeige gegen Vorstände der HSH Nordbank einen aufsehenerregenden Prozess ausgelöst.

Rückblick: Seit zwei Jahren sehen sich Scholz und Tschentscher mit Vorwürfen konfrontiert, sie hätten auf unlautere Weise in den Steuerfall Warburg eingegriffen. Demnach, so die gängige Lesart der Kritiker, haben die beiden Sozialdemokraten in den Jahren 2016 und 2017 – damals noch als Bürgermeister (Scholz) und Finanzsenator (Tschentscher) – die renommierte Hamburger Bank davor bewahrt, einmal 47 und dann noch einmal 43 Millionen Euro an erstatteten Steuern zurückzahlen zu müssen, die Warburg aus Cum-ex-Geschäften erlangt habe.

Tschentscher und Scholz bestritten Vorwürfe

Einen Beweis dafür gibt es bis heute nicht. Jedenfalls hat der Parlamentarische Untersuchungsausschuss (PUA) der Bürgerschaft auch nach einem Jahr Arbeit und mehr als 25 Sitzungen keinen gefunden. Beide Politiker haben diesen Vorwurf zigfach bestritten, und vor allem Tschentscher verweist immer wieder darauf, dass doch alle Zeugen aus Finanzamt und -behörde, die tatsächlich an der Entscheidung beteiligt waren, im PUA klar ausgesagt haben, dass es diese Einflussnahme nicht gab.

Und doch nimmt die Geschichte kein Ende. Was auch daran liegt, dass der Untersuchungsausschuss eben auch eine Fülle an Indizien zutage gefördert oder im Detail bestätigt hat, die zumindest darauf hindeuten, dass an der Geschichte doch etwas faul war. Allein die Chronologie: Eine Bank sieht sich mit einer hohen Rückforderung des Finanzamtes konfrontiert. Die Inhaber schalten die Politik ein und bekommen mehrfach einen Termin beim Bürgermeister. Der ruft einen der Bankiers zurück und verweist ihn an den Finanzsenator.

Kurz nachdem das Anliegen dort schriftlich vorgetragen wird, wird auf die Rückforderung verzichtet. Wieder einige Monate später gehen Spenden über mehr als 45.000 Euro aus dem Umfeld der Bank bei der Partei des Bürgermeisters ein. Und als die Stadt wieder kurz darauf vom Bundesfinanzministerium unmissverständlich aufgefordert wird, zumindest die zweite Summe zurückzufordern (der erste Fall ist inzwischen verjährt), wehrt sich die Stadt mit Händen und Füßen dagegen.

Alles nur Zufall? Nur ein fachliche Auseinandersetzung unter Behörden? Gerhard Strate glaubt nicht daran. Und daher hat der bekannte Hamburger Anwalt jetzt Strafanzeige gegen Scholz und Tschentscher gestellt, Vorwurf: Beihilfe zur Steuerhinterziehung. Dem heutigen Bundeskanzler Scholz wirft Strate zudem „uneidliche Falschaussage“ vor, weil er ihm nicht abnimmt, dass der sonst für sein gutes Gedächtnis bekannte Politiker sich überhaupt nicht mehr an die Inhalte der Treffen mit den Bankiers Christian Olearius und Max Warburg erinnert – wie er bei seiner Vernehmung im PUA Ende April 2021 mehrfach beteuert hatte.

Scholz beteuerte mehrmals Erinnerungslücken

„Im Laufe der Anhörung durch den Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses und seiner Mitglieder bekräftigte Herr Scholz wenigsten 40-mal, dass er keine Erinnerung habe“, führt Strate in seiner Anzeige aus. Auch auf die Frage, ob das Schicksal der Warburg Bank bei irgendeiner Senatsvorbesprechung Thema gewesen sei, habe Scholz erklärt, das erinnere er überhaupt nicht. „Diese Aussage ist falsch“, legt sich der bundesweit bekannte Jurist fest.

Denn zur Vorbereitung auf das erste Gespräch am 7. September 2016 mit den Vertretern der Warburg-Bank sei der damalige Bürgermeister durch ein anderthalbseitiges Papier aus der Wirtschaftsbehörde instruiert worden. Darin sei auch auf Medienberichte verwiesen worden, wonach Warburg in „kriminelle Aktiengeschäfte“ verwickelt sei und die Kölner Staatsanwaltschaft deshalb die Hamburger Zentrale der Bank habe durchsuchen lassen.

Er halte es für „ausgeschlossen“, dass Scholz dieses Papier nicht zur Kenntnis genommen hat und dass die dort angeführten Punkte nicht auch Thema des Gesprächs waren, schreibt Strate in seiner Anzeige. Dieses Treffen müsse zudem aufgrund des Gewichts der gegen die Warburg-Bank erhobenen Vorwürfe „einen sehr viel höheren Aufmerksamkeitswert“ als sonstige Gespräche des Bürgermeisters gehabt haben.

Dass die Beschuldigten eines Ermittlungsverfahrens, bei dem es um Steuerhinterziehung in vielfacher Millionenhöhe ging, dreimal vom Bürgermeister empfangen werden und diese Gespräche bei ihm keinerlei Erinnerung hervorrufen, sei „nicht ansatzweise glaubhaft“, schreibt Strate und fügt süffisant hinzu: „Eine völlige Erinnerungslosigkeit – wie sie Olaf Scholz für sich in Anspruch nimmt – ist eine Erscheinung, die in der Aussage- und Gedächtnispsychologie nur im Rahmen einer sog. Posttraumatischen Belastungsstörung gelegentlich diagnostiziert wird. Dafür gibt es hier keine Anhaltspunkte.“

Strate verwendet Tschentschers Argument gegen ihn

Im Bundeskanzleramt wollte man die neuen Vorwürfe nicht groß kommentieren. „Olaf Scholz hat sich in der Angelegenheit mehrfach umfassend geäußert und seinen Ausführungen nichts hinzuzufügen“, teilte ein Regierungssprecher auf Anfrage mit. „Folgerichtig sieht er allem Weiteren gelassen entgegen.“ Das könnte auch an der Einschätzung liegen, dass es juristisch nahezu unmöglich sein dürfte, Scholz nachzuweisen, woran er sich tatsächlich erinnert.

Bleibt der Vorwurf der Beihilfe zur Steuerhinterziehung. Hier wendet Strate Tschentschers Argument, er habe sich grundsätzlich nicht in Einzelfall-Entscheidungen der Finanzämter eingemischt, gegen den heutigen Bürgermeister. Denn als Finanzsenator habe er die Dienst- und Fachaufsicht über alle Finanzämter gehabt und damit „die Pflicht, auf ein gesetzmäßiges Handeln seiner Behörde zu achten“, so Strate. Mit anderen Worten: Tschentscher hätte eingreifen müssen, um eine Schonung Warburgs zu verhindern.

Sachverhalt hätte sich „aufdrängen“ müssen

Es sei davon auszugehen, dass der Senator angesichts der hohen Summen darüber informiert worden sei, dass das Finanzamt für Großunternehmen noch am 5. Oktober 2016 in einem gut 25-seitigen Papier dafür plädiert habe, die 47 Millionen Euro zurückzufordern. Aufgrund dieser ausführlichen Darstellung habe es sich Tschentscher „aufdrängen“ müssen, dass mit dem am 17. November 2016 beschlossenen Verzicht auf die Rückforderung etwas nicht stimme.

Dem dazu angelegten Vermerk, der dem Senator zur Kenntnis gegeben wurde, sei „die Rechtswidrigkeit der an diesem Tage angestellten Überlegungen auf die Stirn geschrieben“ gewesen, so Strate, der auf Ausführungen im Strafgesetzbuch verweist: „Auch für den Straftatbestand des Geschehenlassens einer Straftat durch einen Untergebenen ... wird eine Pflichtenkette bis zum Minister gespannt“, schreibt der Anwalt.

Strate beruft sich auf Aussagen von Staatsanwältin

Eine der heikelsten Punkte: Während die acht Mitarbeiter aus Finanzbehörde- und Finanzamt damit argumentiert hatten, dass in jenem Herbst 2016 eben nicht hundertprozentig rechtssicher nachzuweisen war, dass die Bank sich die Steuern zu Unrecht erstatten ließ – inzwischen ist das höchstrichterlich geklärt und Warburg hat die Summen samt Zinsen zurückgezahlt – , ist Strate anderer Meinung.

Dabei beruft er sich unter anderem auf Aussagen der Kölner Staatsanwältin Anne Brorhilker, die die Federführung bei den bundesweiten Ermittlungen in Sachen Cum ex hat: Sie hatte im PUA im Dezember ausgesagt, dass auch 2016 schon erkennbar gewesen sei, dass es sich bei den betreffenden Transaktionen der Warburg-Bank um illegale Cum-ex-Geschäfte gehandelt habe.

Cum-Ex: Tschentscher will im PUA aussagen

Das Finanzamt für Großunternehmen sei über die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Köln informiert gewesen, führt Strate aus. Ebenso sei bekannt gewesen, dass auffällig hohe Millionen-Honorare an Berater der Bank gingen und dass es sich bei diesen Beratern um Personen handelte, „die schon damals als die kriminellen Inspiratoren und Projekteure von Cum-Ex-Geschäften galten“, so der Anwalt. Sein Fazit: Es gab „für die Finanzverwaltung in Hamburg keinen rechtlich haltbaren Grund, von dem Erlass eines Rückforderungsbescheids abzusehen“. Die in dem Vermerk vom 17. November 2016 aufgeführten Begründungen seien „bemerkenswert abwegig“.

Im Rathaus wollte man sich zu der Strafanzeige nicht äußern. Ohnehin hatte der Bürgermeister immer wieder darauf hingewiesen, dass er sich aufgrund des Steuergeheimnisses gar nicht im Detail zu dem Fall äußern dürfe. Der Aufforderung, am 6. Mai im PUA auszusagen, werde Tschentscher aber gern nachkommen, sagte Senatssprecher Marcel Schweitzer: „Der Erste Bürgermeister hat die Einladung zur Zeugenvernehmung erhalten und wird ihr folgen.“

In der SPD ist man über Strates Vorstoß nicht erfreut, bemüht sich aber, den Vorgang nicht zu hoch zu hängen. „Diese Strafanzeige reiht sich ein in eine Vielzahl älterer Strafanzeigen“, sagte Milan Pein, SPD-Obmann im PUA, dem Abendblatt. „Sie enthält keinerlei neue Fakten oder Erkenntnisse. Zwei Staatsanwaltschaften in Hamburg und in Köln haben unabhängig voneinander einen Anfangsverdacht gegen Olaf Scholz oder Peter Tschentscher bereits verneint.“