Hamburg/Berlin. Profilierte Parlamentarier hören auf – oder müssen zittern. Und es zeigt sich: Politik fordert bisweilen einen hohen Preis.

Die 19. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages begann nach der Wahl am 24. September 2017 aus Hamburger Sicht mit einem Beinahe-Rekord: Der Stadtstaat ist seitdem mit 16 Abgeordneten (statt bis dahin mit 13) im Reichstagsgebäude vertreten – nur 1957 waren es mit 19 Frauen und Männern noch mehr. Das Hamburger Gewicht im Hohen Haus ist dennoch nicht nennenswert gewachsen, denn mit 709 Abgeordneten ist dieser Bundestag noch einmal deutlich größer als sein Vorgänger mit 630 Parlamentarierinnen und Parlamentariern.

Verantwortlich für den enormen Zuwachs sind insgesamt 111 Überhang- und Ausgleichsmandate. Bundesweit holte die SPD nur drei Überhangmandate – zwei davon in Hamburg. Die Partei gewann hier fünf der sechs Wahlkreise direkt, obwohl ihr nach dem Zweitstimmenergebnis nur drei Mandate zugestanden hätten. Zum Ausgleich des maßgeblichen Zweitstimmenverhältnisses entfielen zwei weitere Mandate auf Hamburg, sodass die FDP und Die Linke jeweils zwei Abgeordnete nach Berlin schicken konnten.

Nur wenige Hamburger im Bundestag

Trotzdem blieben die Hamburger Parlamentarier im Bundestag eine sehr überschaubare Gruppe – sie stellen nur gut zwei Prozent der Abgeordneten. Um an das Geld der zahlreichen Fördertöpfe des Bundes zu kommen, müssen die Volksvertreter eines kleinen Bundeslandes wie Hamburg Bündnisse schmieden.

Daher spielt im Bundestag neben der Fraktionszugehörigkeit durchaus die Herkunft der Abgeordneten eine Rolle, wenn es darum geht, finanzielle Unterstützung für Projekte in den Bereichen Infrastruktur, Kultur oder Sport ins eigene Land (und nicht zuletzt den eigenen Wahlkreis) zu lenken.

Hamburger Politiker trat von Ämtern zurück

Über mehrere Jahre haben die beiden Hamburger Bundestagsabgeordneten Johannes Kahrs (SPD) und Rüdiger Kruse (CDU) als Mitglieder des mächtigen Haushaltsausschusses geradezu exem­plarisch bewiesen, wie das gehen kann. Der wohl spektakulärste Coup gelang den beiden, als sie allein für den Aufbau des Deutschen Hafenmuseums 120 Millionen Euro an die Elbe lotsten. Mit dem Geld wurde unter anderem die legendäre Viermastbark „Peking“ aus New York nach Hamburg geholt und grundlegend saniert. Seit einem Jahr ist der fertig restaurierte „Flying P-Liner“ an seinem Übergangsliegeplatz im Hansahafen vertäut.

Doch diese finanziell fruchtbare Zusammenarbeit nahm ein jähes Ende, als Kahrs im Mai 2020 Knall auf Fall von allen politischen Ämtern zurücktrat. Der heute 58-Jährige, der dem Bundestag 22 Jahre lang angehörte und den Wahlkreis Hamburg-Mitte stets direkt gewann, war erbost darüber, dass er von seiner Fraktion trotz einer Zusage ihres Vorsitzenden Rolf Mützenich nicht als Wehrbeauftragter nominiert worden war.

Bundestag: Hamburg verlor eine wichtige Stimme

„Ich suche nun außerhalb der Politik einen Neuanfang und melde mich hiermit ab“, sagte Kahrs, der heute geschäftsführender Gesellschafter eines Beratungsunternehmens ist, damals. Der entgangene Posten war der Anlass, aber nicht der einzige Grund für den abrupten Rückzug aus der Politik. Enge Weggefährten berichteten, dass der SPD-Haudegen zuletzt dünnhäutiger geworden sei und ihm die Angriffe namentlich aus der AfD, gegen die er immer klar Stellung bezogen hatte, persönlich sehr zugesetzt hätten.

Mit dem streitbaren und auch umstrittenen Kahrs hat Hamburg eine kaum überhörbare Stimme im Bundestag verloren. Kahrs war als Sprecher des Seeheimer Kreises der SPD-Konservativen und haushaltspolitischer Sprecher seiner Fraktion ein in Berlin einflussreicher Strippenzieher. Falko Droßmann, Bezirksamtsleiter in Hamburg-Mitte, will als SPD-Direktkandidat im Wahlkreis Mitte Kahrs’ Erbe antreten.

65 Millionen Euro für Bornplatz-Synagoge

Dass die überparteiliche Zusammenarbeit zum Wohle der Stadt weiterhin funktioniert, liegt auch an dem SPD-Bundestagabgeordneten Metin Hakverdi, der Kahrs im Haushaltsausschuss nachgefolgt ist. CDU-Mann Kruse und Hakverdi hatten maßgeblichen Anteil daran, dass der Bund Ende 2020 rund 65 Millionen Euro für den Wiederaufbau der Bornplatz-Synagoge bereitstellte, die die Nationalsozialisten zerstört hatten – der wohl größte Erfolg der beiden, wenngleich daran mehrere mitgewirkt haben.

Die Wahl am kommenden Sonntag bedeutet aus Hamburger Sicht in jedem Fall eine Zäsur, denn neben Kahrs treten drei weitere profilierte Abgeordnete nicht wieder an. Bemerkenswert ist dabei, dass sie der Politik in einem Alter den Rücken kehren, in dem politische Karrieren üblicherweise noch nicht beendet werden. Mit Anja Hajduk verlässt eine der profiliertesten Hamburger Grünen die politische Bühne.

Anja Hajduk verkündet Rücktritt

„Ich habe nach so vielen Jahren in Ämtern und mit Mandaten gemerkt, dass für mich ein Rollenwechsel dran ist“, sagt die 58-Jährige, die bis zum Ende der Legislaturperiode stellvertretende Fraktionschefin der Grünen im Bundestag ist. Hajduk war von 2002 bis 2008 und wiederum seit 2013 Abgeordnete in Berlin. Von 2008 bis 2010 war die ausgebildete Opernsängerin Senatorin für Stadtentwicklung und Umwelt in der schwarz-grünen Koalition. Nicht nur bei den Grünen wird die Kompetenz der Haushaltsexpertin geschätzt.

Konkrete Pläne, wie es weitergeht, hat Hajduk nach eigener Aussage nicht. „Ich lasse erst mal alles offen und habe noch keine Entscheidung getroffen, was ich machen werde“, sagt Hajduk, fügt aber angesichts der spannenden Wochen nach der Wahl hinzu: „Wenn mich Parteifreunde aufgrund meiner Erfahrung um Rat fragen, stehe ich bereit.“ Eine lange Urlaubsreise wird Hajduk nach dem 26. September jedenfalls nicht antreten.

Auch Katja Suding verließ Politik

Als die langjährige Hamburger FDP-Landesvorsitzende Katja Suding, zweifache Spitzenkandidatin der Liberalen bei der Bürgerschaftswahl, vor einem Jahr ihren Verzicht auf eine erneute Bundestagskandidatur verkündete, waren fast alle Parteifreunde überrascht und manche schockiert. „Für mich ist Schluss mit der Politik. Ich gehe aus ganz persönlichen Gründen, ich habe in meinem Leben noch anderes vor“, sagte Suding lächelnd in die Kameras. Sie gehe „ohne Groll, ganz im Frieden und im Einklang mit mir“.

Ungewöhnlich: Die 45-Jährige hatte „erst“ vor zehn Jahren Politik zu ihrem Beruf gemacht und saß erst seit 2017 im Bundestag. Mit einem frischen, ganz auf sie zugeschnittenen Wahlkampf führte sie die FDP nach außerparlamentarischen Jahren 2011 zurück in die Bürgerschaft und konnte den Erfolg 2015 wiederholen. Nebenbei gelang ihr auch noch das Kunststück, den notorisch zerstrittenen Landesverband weitgehend zu einigen. Suding hatte in der Bundes-FDP längst auf sich aufmerksam gemacht, so war der Wechsel in den Bundestag die logische Karrierefolge.

Hoher Preis für Aufstieg von Katja Suding

Nach der Wahl 2017 galt Suding als „Shootingstar“ und eines der künftigen Gesichter der Bundes-FDP. Sie war bereits stellvertretende Bundesvorsitzende und wurde Vize-Fraktionschefin im Bundestag. Aber der schnelle Aufstieg hatte seinen Preis. „Ich frage mich, wie ich das so lange durchgehalten habe“, bekannte Suding kürzlich im „Spiegel“ und fügte die Erklärung hinzu: „Ich habe mir mit der Zeit einen Schutzpanzer aufgebaut, ohne den ich den Job nie hätte machen können. Ich wäre kaputtgegangen. Innerparteilich kann es besonders ruppig zugehen.“

Auch die Auseinandersetzung mit den politischen Gegnern und der permanente Blick der Medien und der Öffentlichkeit seien hart. Suding hat sich noch nicht festgelegt, wie es beruflich für sie weitergehen soll. Sie macht erst mal einen Motorradführerschein und plant einen Bootsführerschein.

Auch Linken-Abgeordneter Fabio De Masi geht

Auch der Linken-Abgeordnete Fabio De Masi verlässt nach nur vier Jahren im Bundestag die Berliner Bühne. Der 41-Jährige, der zuvor drei Jahre im Europaparlament saß, hat sich in der kurzen Zeit als wichtige Stimme der Linken für die Themenfelder Finanzen und Wirtschaft profiliert. Ob Panama Papers, die Besteuerung von Digitalkonzernen, der Cum-Ex-Skandal um die Warburg-Bank oder der Wirecard-Skandal – stets meldete sich De Masi streitbar und häufig spitzzüngig zu Wort und trieb die Aufklärung zum Teil voran.

Als stellvertretender Fraktionschef gehört der Sohn eines italienischen Gewerkschafters und einer deutschen Lehrerin zudem zur Führungsspitze der Linken im Bundestag. Wie Suding gab auch De Masi „persönliche Gründe“ für seine Entscheidung an, nicht erneut zu kandidieren.

De Masi an der „maximalen Belastungsgrenze“

„Ich habe in den letzten sieben Jahren immer an der maximalen Belastungsgrenze gearbeitet. Insbesondere mein Sohn musste daher häufig zurückstehen“, erklärte De Masi im Februar. Die hohe Belastung habe auch damit zu tun gehabt, dass es in der Linken lange Zeit zu wenig Menschen gegeben habe, die sich „für die ökonomischen Debatten unserer Zeit“ interessieren.

Doch der Linke hadert auch aus anderen Gründen mit seiner Partei, der er „strategische Fehler“, ein schwaches Erscheinungsbild und fehlenden „gemeinsamen Spirit“ vorwarf. „Ich möchte in meiner jetzigen Lebensphase meine Energie nicht in eingeübten Ritualen und Machtkämpfen verausgaben“, sagte De Masi.

„Es gab ein Bedürfnis nach neuen Gesichtern“

Der FDP-Abgeordnete Wieland Schinnenburg, der 2017 als letzter Hamburger über ein Ausgleichsmandat in den Bundestag kam, hätte gern weitergemacht, aber die Mitglieder des Landesverbandes stellten ihn nicht wieder auf. Der 62-Jährige konnte sich auf den beiden ersten Plätzen der Landesliste nicht gegen Landeschef Michael Kruse (37) und die Vize-Landeschefin Ria Schröder (29) durchsetzen. Schinnenburg kämpft nun den aussichtslosen Kampf des FDP-Direktkandidaten im Wahlkreis Hamburg-Wandsbek.

„Es gab ein Bedürfnis nach neuen Gesichtern. Meine Arbeit in der Politik ist bald nach der Bundestagswahl beendet“, konstatierte der Zahnarzt und Rechtsanwalt betont nüchtern nach seinem innerparteilichen Wahldebakel. Mit dem Gesundheitspolitiker geht einer der bekanntesten Elbliberalen. Schinnenburg war mehrere Jahre lang Bürgerschaftsabgeordneter, zeitweise Vize-Fraktionschef und auch Landesvorsitzender.

Weinberg muss um Einzug in Bundestag bangen

Zwei weitere profilierte und auch langjährige Bundestagsabgeordnete müssen um den Wiedereinzug bangen: Marcus Weinberg, seit 2005 im Bundestag, versucht, als Direktkandidat der CDU im Wahlkreis Altona erneut ein Ticket nach Berlin zu lösen. Das gelang der Partei dort zuletzt 1987. Der Landesverband wollte den 54 Jahre alten gescheiterten CDU-Spitzenkandidaten bei der Bürgerschaftswahl 2020 nicht auf einen aussichtsreichen Listenplatz wählen. Mit Weinberg, der familienpolitischer Sprecher der Unions-Fraktion ist, würde der Bundestag einen über die Fraktionsgrenzen hinaus angesehenen und erfahrenen Fachpolitiker verlieren.

Die Lage des Finanz-, Haushalts- und Umweltpolitikers Rüdiger Kruse ist nur unwesentlich besser. Der 60-Jährige versucht, gegen starke Konkurrenz von SPD und Grünen das Direktmandat im Wahlkreis Eimsbüttel zu erringen. Zwar steht Kruse, der seit 2009 im Bundestag sitzt, auf Platz vier der CDU-Landesliste. Angesichts der demoskopischen Schwäche der Union wird jedoch nicht damit gerechnet, dass der Platz „zieht“.

Bundestag: Viele Hamburger Abgeordnete fehlen

Kruse ist nicht nur Mitglied im Haushaltsausschuss des Bundestages, sondern auch maritimer Koordinator der Unions-Fraktion. Der Eimsbüttler hat ein enges Verhältnis zu Unions-Kanzlerkandidat Armin Laschet, der zu seinem einzigen öffentlichen Wahlkampfauftritt in Hamburg in Kruses Wahlkreis kam.

Es könnte also sein, dass sieben der 16 Abgeordneten des Jahres 2017 dem nächsten Bundestag nicht mehr angehören. Das wäre dann nicht nur eine Zäsur, sondern ein Generationswechsel, weil ihnen zum Teil deutlich jüngere Frauen und Männer folgen würden.