Hamburg. Jeder erwachsene Deutsche darf wählen – auch demente und geistig behinderte Menschen. Wie diese ihr Wahlrecht wahrnehmen können.

Sie müssen mindestens 18 Jahre alt sein und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen: Voraussetzungen, die 60,4 Millionen Menschen erfüllen und somit am Sonntag wählen dürfen. Das klingt jetzt nicht aufregend neu, und doch hat sich seit der vorigen Bundestagswahl etwas geändert. Denn die Menschen, die unter sogenannter Vollbetreuung stehen, haben nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts nun automatisch das Wahlrecht.

Bundesweit sind das etwa 84.000 Bürger mit schweren Demenzerkrankungen beispielsweise oder geistigen Behinderungen, aber auch Straftäter, die wegen Schuldunfähigkeit in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurden. Die Zahl der Menschen mit solchen Einschränkungen ist natürlich ungleich höher, sehr viele haben aber dennoch keinen gesetzlich bestellten Betreuer und durften ohnehin wählen. Wie aber funktioniert das in der Praxis – und wie kann Missbrauch ausgeschlossen werden?

Bundestagswahl: Beeinflussung verboten

„Rein rechtlich ist das klar geregelt“, sagt Oliver Rudolf, der Hamburger Landeswahlleiter. „Entscheidend ist, dass der klare Wahlwunsch eigenständig artikuliert wird.“ Dabei darf niemand beeinflusst werden – Hilfestellung ist aber ausdrücklich erlaubt, man spricht dann von „Wahl-Assistenz“. Rudolf nennt als Beispiel einen Patienten mit fortgeschrittener Parkinson-Erkrankung, der nicht mehr in der Lage ist, den Wahlschein selbst auszufüllen.

Dann kann jede andere Person dies als „menschliches Werkzeug“ übernehmen, muss aber eine eidesstattliche Versicherung unterschreiben, dass der eindeutige Wille des Wählers ausgeführt wurde. Als Gegenbeispiel führt Rudolf einen Koma-Patienten an, der „keine Chance hat, seinen Willen zu artikulieren“. Sollte jemand für ihn oder sie Briefwahl beantragen und den Schein ausfüllen, wäre das ein klarer Fall von Wahlbetrug.

12.000 geistig behinderte Hamburger wahlberechtigt

Zu den Wahlberechtigten gehören auch rund 12.000 Hamburger mit geistigen Behinderungen. Wie viele von ihnen tatsächlich wählen, wird nicht erfasst, „aber ich gehe von ungefähr 50 Prozent aus“, sagt Axel Graßmann, Geschäftsführer des Vereins Lebenshilfe, der sich um diese Menschen kümmert. Graßmann gehörte zu den Unterstützern der erfolgreichen Verfassungsklage und organisierte in den vergangenen Wochen mehrere Wahlveranstaltungen für seine Klientel.

„Viele Parteien stellen sich mittlerweile auf diese Wählergruppe ein und haben auch vermehrt Broschüren in einfacher Sprache“, sagt er. Das Interesse bei geistig behinderten Menschen sei definitiv vorhanden. „Wir hatten etwa zwei verliebte junge Männer, die jeden Politiker gefragt haben, ob sie etwas gegen Homosexuelle haben“, berichtet Graßmann. Die hätten sich das sehr genau angehört und wollen auf jeden Fall wählen gehen.

Demenzkranke: Angehörige kümmern sich um Wahl

Die Mitarbeiter der Lebenshilfe seien gut vorbereitet und wüssten genau, wann Hilfe aufhört und Beeinflussung anfängt, betont Graßmann. „In den Wohngruppen etwa machen unsere Mitarbeiter am Sonntag darauf aufmerksam, dass Wahltag ist.“ Die Entscheidung müsse aber eigenständig sein.

Das gilt natürlich auch für Demenzkranke. Hier seien es meist die Angehörigen, die sich um die Wahl kümmerten, sagt Petra Winkler. Sie ist Heimleiterin in der zur Diakonie gehörenden Stiftung Altenhof in Winterhude, in der es 118 Pflegefälle gibt. „Wir haben Info-Broschüren zum Wahlrecht, die wir auf Anfrage verteilen“, sagt sie. Winkler schätzt, dass „gut 50 Prozent“ sich an der Wahl beteiligten. „Ich kenne die meisten Angehörigen und bin mir sicher, dass sie verantwortungsvoll damit umgehen.“

Landeswahlamt hat keine Informationen über Wähler

Allerdings lauert hier ein Graubereich. Es reicht zum Beispiel nicht zu wissen, dass ein Demenzkranker sein Leben lang eine bestimmte Partei gewählt hat, vielleicht sogar Mitglied ist. „Es muss klar und eindeutig gesagt werden, ob und wer gewählt werden soll“, sagt Landeswahlleiter Rudolf. Schon ein Satz wie „Du willst doch bestimmt wieder Partei xy wählen, Papa“ sei eine nicht zulässige Beeinflussung.

Das Landeswahlamt hat keinerlei Erkenntnisse darüber, wie hoch die Beteiligung etwa in der Gruppe der Dementen oder geistig Behinderten ist. „In den Wahllisten steht ein Name ohne weitere Informationen“, sagt Rudolf. Indizien für unzulässige Beeinflussungen oder gar systematischen Wahlbetrug hat er natürlich ebenfalls nicht, sagt aber, dass „ein gewisses Missbrauchsrisiko natürlich vorhanden ist“.

Bundestagswahl: Wahlrecht kann entzogen werden

Eine Regelungslücke gebe es nicht, die Vorschriften seien eindeutig. „Wir stellen den entsprechenden Einrichtungen alle Informationen zur Verfügung.“ Gleichwohl wäre es wünschenswert, wenn mehr Sicherheit geschaffen werden könnte. Rudolf: „Ohne irgendjemandem etwas unterstellen zu wollen, ist hier schon eine gewisse Problematik gegeben.“ Er könne sich vorstellen zu prüfen, ob es rechtlich möglich und sinnvoll sei, stichprobenartig die Beteiligung an der Wahl zu kontrollieren – also festzustellen, ob jemand, der gewählt hat, diese Entscheidung tatsächlich eigenständig getroffen hat.

Ausschlüsse von der Wahl gibt es übrigens auch noch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Die betrifft aber nur noch eine verschwindend kleine Gruppe: Bundesweit rund 120 Menschen, denen per Gerichtsurteil das Wahlrecht entzogen wurde. Das ist aber nur bei wenigen Delikten möglich, etwa Landesverrat, Angriffe auf staatliche Institutionen – oder Wahlbetrug.