Hamburg. Peter Tschentscher (SPD) glaubt an die Verlängerung des Lockdowns und zeigt sich verärgert über den Mangel an Impfstoff.

Anlässlich des Neujahrsempfangs des Hamburger Abendblatts stellte sich Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) im Hotel Atlantic den Fragen von Chefredakteur Lars Haider.

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Norddeutschland in dieser Pandemie so viel besser dasteht als der Rest der Republik?

Peter Tschentscher: Da gibt es verschiedene Theorien, etwa, dass wir etwas kühler sind in der Lebensart, uns nicht so um den Hals fallen Vielleicht hat es auch etwas damit zu tun, dass wir keine Außengrenzen haben, zu Österreich oder Tschechien. Aber im Nachhinein ist es schwierig zu sagen. Ich bin froh, dass wir als zweitgrößte Stadt Deutschlands bisher gut durch diese Pandemie gesteuert sind.

In anderen Ländern mit hartem Lockdown wie Frankreich oder Belgien gingen die Zahlen nach zwei Wochen runter und halbieren sich dann jede Woche. Das ist bei uns nicht der Fall. Warum noch nicht?

Peter Tschentscher: Das haben uns die Epidemiologen, die Modellierer, ja schon zweimal angekündigt. Erst Ende Oktober, da hieß es, wenn wir den November-Lockdown machen, dann können wir zu Weihnachten schon auf Lockerungen gehen. Dann wurde uns das Anfang Dezember ein zweites Mal vorgerechnet, dass es jetzt wichtig wäre, diese Weihnachtszeit zu überstehen. Aber ich glaube, das ist Ausdruck der unklaren Lage. Wie haben sich die Feiertage wirklich ausgewirkt? Es gibt neue Virus-Varianten. Es gibt so viele Unsicherheiten, dass wir auf der sicheren Seite bleiben müssen. Ich gehe davon aus, dass wir den Lockdown um zwei, drei Wochen verlängern.

Warum verlängert man ihn immer nur befristet und nicht einfach, bis die Inzidenz unter 50 liegt?

Peter Tschentscher: Das wäre eine Variante, und das Ziel haben wir uns ja auch diskutiert. Aber wir müssen unsere Verordnungen befristen, das ist durch das Gesetz vorgegeben. Wir können nicht einfach sagen, wir machen jetzt mal zwei Monate Beschränkungen auf alles – das wäre rechtlich gar nicht zulässig.

Die Wahrheit ist also: Solang die Inzidenz nicht unter 50 ist, geht der Lockdown immer weiter?

Peter Tschentscher: Es geht nicht nur um diesen Wert. Wenn wir einmal darunter fallen und dann sofort wieder hochschnellen, bringt uns dieser Wert auch nicht weiter. Wir müssen schon sichergehen, dass wir eine stabile Lage bekommen.

Andere Länder habe abendliche Ausgangssperren verhängt, zum Beispiel von 21 bis 5 Uhr. Warum machen wir das nicht?

Peter Tschentscher: Das ist ein starker zusätzlicher Einschnitt. Auch da muss man wissen, ob es wirklich einen zusätzlichen Effekt bringt. Wir haben ja die Unklarheit, ob das eingetreten ist, was bezweckt wurde. Für Gebiete mit sehr hohen Inzidenzen sind Ausgangssperren eine zusätzliche Möglichkeit, aber bei allem, was wir machen, müssen wir bedenken, dass wir es noch über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten müssen. Wir haben noch drei, vier kalte Monaten vor uns, und in diesen Monaten wird uns die Impfung noch nicht so sehr entlasten, wie wir uns das wünschen.

Wann werden die Hamburgerinnen und Hamburger die ersten Briefe bekommen?

Peter Tschentscher: Es ist ein Problem, dass wir nicht genug Impfstoff haben. Wir als Stadt sind vorbereitet, wir könnten 7000 Impfungen am Tag im Impfzentrum machen …

… und Sie hatten die Ansage des Bundes, am 15. Dezember startklar zu sein.

Peter Tschentscher: Genau. Die ganzen Lieferungen, die jetzt für Januar avisiert werden, hätten eigentlich im Dezember erfolgen sollen. Da ist einfach ganz wenig Impfstoff reserviert und eingekauft worden und die Liefertermine sind nicht eingehalten worden. Deshalb kann man ganz schwer sagen, wann wir mit der ersten Prioritätsstufe fertig sind.

Wieso hat Hamburg so wenig erhalten und Schleswig-Holstein hat schon 15.000 Termine vergeben?

Peter Tschentscher: Bezogen auf die Bevölkerung hat jedes Bundesland seinen Anteil bekommen. Aber wir haben ein besonders stark ausgeprägtes Gesundheitswesen, ein Großteil unserer Patienten stammt ja aus den anderen Bundesländern. Das ist aber nicht gesondert ausgerechnet worden. Gerade für die erste Stufe haben wir natürlich viele Tausend Personen mehr, die auf den Intensivstationen, in Notaufnahmen oder auf Covid-19-Stationen arbeiten. Und deswegen ist es jetzt zu Anfang so, dass wir an allen Stellen gleichzeitig anfangen möchten, aber noch nicht können.

Aber wann kommen denn nun die ersten Briefe an die Über-80-Jährigen? Noch im Januar?

Peter Tschentscher: Das kann ich noch nicht terminieren. Wir müssen ja erst mal die 20.000 Bewohner von Senioren- und Pflegeheimen berücksichtigen. Das sind ja die mit dem größten Risiko, schwer zu erkranken. Dazu kommen noch die Beschäftigten, sowie die in den Krankenhäusern. Und wir bekommen pro Woche ein paar Tausend Impfdosen – das ist einfach viel zu wenig. Wenn der Impfstoff von Moderna, der am 6. Januar zugelassen werden soll, hinzukommt, muss zwar auch die Lieferung erst mal anlaufen, kommen wir schon auf andere Zahlen.

Haben wir im Sommer das Schlimmste überstanden, wie das Gesundheitsminister Jens Spahn und der Virologe Christian Drosten sagen?

Peter Tschentscher: Wenn Herr Drosten das sagt, bin ich froh. Aber wir sind keine Hellseher. Es ist noch so viel offen. Es muss zum Beispiel erst noch untersucht werden, ob eine Impfung nicht nur vor der Erkrankung schützt, sondern auch vor der Weitergabe des Virus. Das ist eine ganz wichtige Frage. Insofern ist es zu früh für Überlegungen, ob jemand, der geimpft ist, sich anders verhalten darf.

Ein Riesenthema in Hamburg sind die Schulen: Die einen wollen sie geöffnet halten, die anderen schließen. Was sagen Sie?

Peter Tschentscher: Das ist die heikelste Frage überhaupt. Wir müssen sicherstellen, dass die Menschen, die im Krankenhaus oder in anderen wichtigen Berufen arbeiten, die Möglichkeit haben, ihre Kinder in die Betreuung zu geben. Deshalb haben wir die Präsenzpflicht aufgehoben, bieten aber eine Betreuungsmöglichkeit. Das haben gar nicht so viele wahrgenommen – wir hatten vor Weihnachten unter 15 Prozent Schüler in den Grundschulen, unter fünf Prozent an den weiterführenden Schulen. Man kann den Druck auf die Familien nicht noch dadurch erhöhen, indem man zumacht und sagt: Ist uns egal, was passiert. Trotzdem ist das eine sehr schwierige fachliche Frage.

Eine pauschale Schließung der Schulen in Hamburg wird es also nicht geben? Andere Bundesländer fordern das.

Peter Tschentscher: Es gibt vor allem die, die eine vollständige Öffnung fordern …

Baden-Württemberg zum Beispiel.

Peter Tschentscher: Genau. Wir haben dagegen entscheiden, dass wir den Status quo erst mal bis zum 17. Januar verlängern. Und ich bin sicher, dass wir auch darüber hinaus den Präsenzunterricht nicht überall einführen können. Die Jahrgänge sind unterschiedlich betroffen, deshalb kann ich mir vorstellen, dass es gestaffelte Regelungen gibt: dass man in Kindergärten und Grundschulen etwas anders vorgeht als in höheren Jahrgängen. Aber erst einmal gilt: Bevor wir keine Sicherheit haben, wo wir stehen, müssen wir unseren bisherigen Zustand aufrechterhalten.

Anderes Thema: Wir sind im Jahr der Bundestagswahl, und es könnte zum zweiten Mal nach Helmut Schmidt ein Hamburger Bundekanzler werden. Wie sehen Sie die Chancen von Olaf Scholz?

Peter Tschentscher: Wir alle kennen Olaf Scholz und wissen, dass er ein hochprofessioneller und erfahrener Politiker ist, der nicht nur die Möglichkeiten, sondern auch die Ambitionen hat, dieses wichtigste Amt in Deutschland zu übernehmen. Vieles wird sich in den letzten Wochen vor dem Wahltermin entscheiden – das haben wir in Hamburg auch gesehen. Wir wissen ja noch gar nicht, wen die anderen Parteien so aufstellen. Und eines ist klar: Die Amtsinhaberin, die auch Verlässlichkeit bietet, tritt nicht mehr an.

Die Beiträge des 33. Abendblatt-Neujahrsempfangs

Es heißt, Sie hätten ein besonders gutes Verhältnis zu Angela Merkel.

Peter Tschentscher: Vielleicht ist dadurch, dass wir ständig in den Ministerpräsidentenkonferenzen miteinander zu tun hatten, der Eindruck einer besonderen Nähe entstanden. Aber die Ministerpräsidenten aller Länder und die Bundeskanzlerin sind in einem sehr stetigen Austausch in diesen Corona-Zeiten. An vielen Stellen habe ich gedacht: Gut, dass da eine Wissenschaftlerin die richtigen Fragen stellt – auch wenn ich nicht mit allen Antworten, die sie gegeben hat, einverstanden bin.

(Aufgezeichnet von Andreas Dey)