Hamburg. In der Markthalle feiern die Genossen Peter Tschentscher – die meisten glauben, dass es vor allem sein persönlicher Erfolg ist.

„So ein Tag, so wunderschön wie heute“, hallt es durch die Markthalle am Hauptbahnhof. Peter Tschentscher, in diesem Glücksmoment mehr Spitzenkandidat als Erster Bürgermeister, bahnt sich den Weg durch die jubelnde und singende Anhängerschaft: Schulterklopfen, Beifall, aufmunternde Zurufe. Rund 700 Genossen, etliche demonstrativ mit roten Pullovern oder Jacken bekleidet, applaudieren im Takt.

„Peter, Peter!“, schallt es durch den Saal, in dem sonst meist Rockmusik den Ton angibt. Für zuvor oft geschundene sozialdemokratische Seelen sind die Zahlen von 18 Uhr und später nach und nach ein Labsal – fast wie in alten Zeiten. Zwei Minuten später ist Tschentscher oben. Auf der Bühne. Ehefrau Eva-Maria zur linken, die SPD-Landesvorsitzende Melanie Leonhard zur rechten Seite, quittiert der Wahlsieger die Ovationen mit einem entspannten Lächeln. Arm hoch, Daumen hoch; das sind die Zeichen eines Abends, der aus Parteisicht zwar keine Spannung, indes enorme Genugtuung bescherte.

Laute Töne sind auch jetzt seine Sache nicht

Auf dem Riesenmonitor, im Hintergrund des gefeierten Trios, leuchtet das Wahlkampfmotto: „Die ganze Stadt im Blick“. Zuerst ergreift Melanie Leonhard das Wort. „Was für ein wunderschöner Abend“, sagt sie. „Wer hätte uns das im Dezember zugetraut?“ Und wieder stimmt das Volk an: „So ein Tag …“ Zum Schluss ruft die Senatorin für Arbeit und Soziales: „In der Krise beweist sich der Charakter.“

Wort frei für Peter Tschentscher. „Wir haben einen Wahlkampf geführt, den uns noch Anfang des Jahres niemand zugetraut hatte“, spricht er ins Handmikrofon. Auch in der Stunde des politisch größten Triumphes bleibt er seinem bescheidenen, zurückhaltenden Na-turell treu: Laute Töne sind seine Sache nicht. Er dankt den Parteimitgliedern für die Meisterleistung, Aufbruchsstimmung „in der Stadt verbreitet“ zu haben. Es sei eine „großartige Gesamtleistung“ gewesen. Abtritt unter donnerndem Applaus.

„Es war eine große Geste, erst zu uns gekommen zu sein“, meint Genosse Lars Wilbur aus Rahlstedt an der Bar. Plastikbecher mit Astra-Bier für 4 Euro, Kiba-Saft für denselben Tarif oder ein Schoppen Merlot für 3,50 Euro finden starken Absatz. Auch Finanzsenator Andreas Dressel stärkt sich mit einem Getränk. „Wir haben einen furiosen Endspurt hingelegt“, sagt er. „Es war eine geniale Leistung, den Trend von Ende 2019 doch noch umzudrehen.“

Die Bürgerschaftswahlen 2011 und 2015 hatte die SPD in der Fabrik in Altona gefeiert. Doch geht es diesmal besonders losgelöst zur Sache. Die Sekunden bis zur ersten Prognose um 18 Uhr zählen die Gäste unisono: Countdown für den Erfolg. Noch mehr als das eigene Resultat, das der ersten Hochrechnung um 19.13 Uhr zufolge ein kräftiges Minus im Vergleich zu 2015 bedeutet, wird das vorläufige Ergebnis der AfD von 4,7 Prozent bejubelt. „Nazis raus!“, skandieren die Sozialdemokraten.

Olaf Scholz hält sich zurück

Just in diesem Moment betritt der frühere Bürgermeister und aktuelle Vizekanzler die Halle in Hammerbrook: Heimspiel für Olaf Scholz. Dieser steht geduldig vor allen möglichen Fernseh­kameras Rede und Antwort, hält sich ansonsten jedoch betont zurück. Die Bühne betritt Olaf Scholz am Sonntagabend nicht – mit feinem Gespür und aus Respekt vor seinem Nachfolger Tschentscher. Derweil sich die Prozentzahlen nach und nach stabilisieren und die Fortsetzung einer stabilen rot-grünen Regierungskoalition signalisieren, darf gefeiert werden. Diese Versammlung macht der Bezeichnung „Wahlparty“ alle Ehre.

Um sich die Frage zu beantworten, warum viele Genossen die gut 39 Prozent – immerhin gut sechs Punkte weniger als 2015 – als großen Erfolg empfinden, muss man zwei Jahre zurückblicken. Es war im Februar 2018, als Scholz ankündigte, als Vizekanzler und Finanzminister nach Berlin zu wechseln, und damit seine Partei in Hamburg in ein Führungs­vakuum stürzte. Denn Scholz war nicht nur seit sieben Jahren Bürgermeister, sondern auch seit neun Jahren Parteichef – eine Kombination, die ihm eine enorme Machtfülle beschert hatte, die er selbstbewusst zu nutzen wusste.

Der Abgang einer derart dominanten Führungsfigur hatte das Zeug, die Hamburger SPD in eine veritable Krise zu stürzen – und damals ahnte selbst unter den Genossen wohl kaum jemand, dass vor allem Peter Tschentscher das verhindern würde. Als klarer Favorit auf die Nachfolge als Bürgermeister galt SPD-Fraktionschef Andreas Dressel. Doch der verzichtete ebenso aus familiären Gründen auf den Karrieresprung wie Sozial­senatorin Melanie Leonhard.

Zu Beginn wurde Tschentscher noch verspottet

Und so richteten sich die Augen der SPD-Führung plötzlich auf Peter Tschentscher. Der hatte sich in sieben Jahren als Finanzsenator zwar einen glänzenden Ruf erworben, aber nie weitergehende Ambitionen erkennen lassen. Doch Tschentscher traute sich den Job zu, und die SPD ihm auch – am 28. März 2018 wählte ihn die Bürgerschaft zum Bürgermeister. Leonhard übernahm stattdessen den Parteivorsitz, und Dressel wurde Finanzsenator.

„Peter wer?“, fragten einige Medien hämisch, und die Opposition verspottete den neuen Senatschef wenig hanseatisch als „dritte Wahl“. Tatsächlich brauchte der habilitierte Mediziner mit seiner unaufgeregten und zurückhaltenden Art einige Zeit, um in das Amt hineinzuwachsen. Hinzu kam eine auch inhaltlich herausfordernde Lage: Der heikle Verkauf der HSH Nordbank musste ebenso noch über die Bühne gebracht werden wie der Rückkauf der Energienetze.

Tschentscher bekannte später, dass es ihm erst mal darum ging, keine Fehler zu machen – und so agierte er zunächst auch. In der SPD kamen vereinzelt erste Zweifel auf, ob man mit diesem vergleichsweise blassen Bürgermeister eine Wahl gewinnen kann. Doch im Jahr 2019 vollzog sich – langsam, aber spürbar – ein Wandel: Während die Bundes-SPD sich immer weiter zerlegte und keinerlei Rückenwind lieferte, fand der Hamburger Bürgermeister sichtbar Gefallen an seinem Amt, nutzte zunehmend die Freiheiten eines Senatschefs, wurde lockerer – und immer beliebter. Im Herbst 2019 erreichten seine Zustimmungswerte ein Niveau wie zu besten Scholz-Zeiten.

Der Bürgermeister performte wie noch nie

Das war auch nötig. Denn mittlerweile hatte sich ein neuer Hauptgegner für die SPD etabliert: die Grünen. Der kleine Koalitionspartner, den Scholz 2015 noch spöttisch als „Anbau“ am Rathaus begrüßt hatte, hatte die Bezirks- und Europawahlen im Mai klar gewonnen und näherte sich im Sog der Klima-debatte nun auch in Umfragen zur Bürgerschaftswahl der SPD. Nachdem Wissenschaftssenatorin Katharina Fegebank Ende Oktober verkündete „Ich will Bürgermeisterin werden“, hatte Hamburg ein nie da gewesenes Duell: Erster Bürgermeister gegen Zweite Bürgermeisterin, Mann gegen Frau. Als die Grünen im November erstmals in einer Umfrage vor der SPD lagen (26 zu 25 Prozent), befürchteten viele Genossen Schlimmes.

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Doch Tschentscher blieb nach außen stets cool, und mit Beginn des heißen Wahlkampfes vollzog sich abermals ein Wandel: Der Bürgermeister performte plötzlich, als hätte er nie etwas anderes gemacht. Nicht er wirkte in den vielen Duellen mit seiner Herausforderin blass, sondern eher hatte Fegebank Mühe, sich gegen den zunehmend selbstbewussten und schlagfertigen Bürgermeister zu behaupten. Nun kippten die Umfragen in Richtung SPD – was auch daran lag, dass immer mehr Anhänger von CDU und FDP offen mit dem wirtschaftsfreundlichen Tschentscher sympathisierten. Selbst die Schlagzeilen um den vermeintlichen Cum-Ex-Skandal konnten diesem Trend nichts mehr anhaben. Und so feierten die Genossen bei der SPD-Wahlparty den Mann, der nun endgültig aus dem großen Schatten von Olaf Scholz getreten ist.