Kopenhagen. Radschnellwege, Protected Bike Lanes, Cargo-Lastenräder: Hamburgs Grüne wollen von den Dänen lernen. Aber einmal wurd's makaber.
Der erste Eindruck ist irritierend. Wer den Bahnhof in Kopenhagen Richtung Tivoli verlässt, sieht auf der Bernstorffsgade erstmal nur – Autos. Sind wir hier falsch? Ist das gar nicht das „Fahrradparadies“, das der Hamburger Grünen-Fraktionschef Anjes Tjarks bei der Abfahrt versprochen hat? Hmm, mal schauen.
Wir gehen ein paar Schritte nach links, in die Vesterbrogade, auch da vor allem Autos, aber auch – Tusch – der erste Radler. Und da noch einer, und da noch eine und da... Nochmal links abbiegen, was ist das? Es ist bestimmt drei Meter breit, glatt wie ein Babypopo und hat ein überdimensionales Piktogramm: ein Radweg, so ausladend wie die Fahrbahn daneben. Er führt direkt auf einen Parkplatz, nur für Fahrräder.
Kopenhagen – auch Vorbild für Hauptbahnhof Hamburg
Zu Hunderten stehen sie hier, direkt vor dem Bahnhof, zum Teil gestapelt in doppelstöckigen Fahrradständern. Gibt's so etwas am Hauptbahnhof in Hamburg, wo wir vor fünf Stunden gestartet sind? Äh, nee. Jedenfalls nicht in dieser Dimension. Okay, vielleicht ist doch was dran an der Geschichte vom Paradies.
Aber der Reihe nach. Die Grünen wollen Hamburg bekanntlich zur Fahrradstadt machen, das Ziel haben sie formuliert, als sie 2015 in die Koalition mit der SPD eingetreten sind. Und auch wenn die meisten Sozialdemokraten das grün besetzte Wort „Fahrradstadt“ selten bis gar nicht in den Mund nehmen, kommt Rot-Grün doch voran:
An den 14 Velorouten wird gearbeitet, statt acht Kilometer Radweg pro Jahr werden mittlerweile 40 Kilometer jährlich fertig, allerorten entstehen neue Bügel und Abstellplätze, das Leihsystem Stadtrad ist beliebt und expandiert unaufhörlich, und folglich ist der Radverkehrsanteil von gut zehn auf mittlerweile deutlich über 15 Prozent gestiegen.
Bürgerschaftswahl 2020: Grüne kündigen Zeitwende an
Und doch rumpelt und stockt es noch an allen Ecken und Enden, an vielen Straße ist überhaupt kein Radweg vorhanden, von dem Label „Fahrradstadt“ ist Hamburg weiter entfernt ist als der HSV von der nächsten Meisterschaft. Was auch nicht verwundert: Was über Jahrzehnte versäumt wurde, lässt sich mit rund 20 Millionen Euro im Jahr nicht von heute auf morgen aufholen – das ist zwar auch mehr Geld als früher, aber nur ein Bruchteil dessen, was in Straßen fließt.
Das wurmt die Grünen, ihnen geht das nicht schnell genug. Und spätestens seit dem Kantersieg bei den Bezirkswahlen im Mai haben sie so viel Rückenwind, dass sie recht unverblümt für den 23. Februar 2020 eine Zeitenwende ankündigen: Sollte die Partei bei der Bürgerschaftswahl wirklich erstmals stärkste Kraft werden, dann werde aufs Tempo gedrückt beim Umwelt- und Klimaschutz, und zwar speziell bei der Energie- und der Verkehrswende. Und das bedeutet, außer einem Ausbau des ÖPNV, vor allem: mehr Rad-, weniger Autoverkehr.
Und darum sind Anjes Tjarks und Martin Bill, der Verkehrsexperte der Fraktion, und drei weitere Parteifreunde hier in Dänemarks Hauptstadt: Es geht um die Frage, was Hamburg von Kopenhagen lernen kann – der Stadt, die sich mit Amsterdam und Utrecht um den Titel „beste Fahrradstadt der Welt“ streitet. Um es vorweg zu nehmen: eine Menge.
Cargo-Bikes: Auch Särge passen rein
Dass Journalisten aus Hamburg bei allen Treffen und Gesprächen mit ehemaligen und aktuellen Bürgermeistern, mit Stadtplanern und Architekten dabei sein dürfen, ist eher unüblich – aber ein Indiz dafür, wie wichtig es den Grünen ist, die Ernsthaftigkeit ihrer Fahrrad-Pläne nach außen zu tragen.
Und was machen nun fünf Grüne im Radler-Paradies als erstes? Klar, Räder ausleihen, auch ein Lastenrad fürs Gepäck. Was in Hamburg noch belächelt wird, ist in Kopenhagen längst Alltag: Ein Viertel der Familien mit zwei Kindern besitzt ein Cargo-Bike, Kinder (sitzend und angeschnallt) werden darin ebenso transportiert wie Einkäufe, Möbelstücke oder Särge – kein Scherz: Ein Anbieter hat zwei Cargo-Bikes umgebaut und ermöglicht es nun, den letzten Weg auf zwei Rädern anzutreten.
In Kopenhagen sind die Radwege zwei Meter breit
„So möchte ich auch mal beerdigt werden“, scherzt Morten Kabell. Er war 20 Jahre in der Stadtverwaltung, davon vier Jahre der für Radverkehr zuständige Bürgermeister, vergleichbar mit einem Verkehrssenator in Hamburg. Heute betreibt er das Planungsbüro Copenhagenize, das unter anderem den gleichnamigen Index für fahrradfreundliche Großstädte erstellt. Wir treffen ihn in seinem Büro im Nordhafen, dem angeblich ambitioniertesten Stadtentwicklungsprojekt Skandinaviens – kommt einem als Hamburger irgendwie bekannt vor.
„Hej, I'm Anjes“, sagt Tjarks und meint mit Blick auf Wasserflächen und modern umgestaltete Speichergebäude: „Sieht ja aus wie bei uns in der HafenCity.“ Stimmt, sagt Morten Kabell, der Hamburg gut kennt. „Wir haben uns viel von Euch abgeschaut. Aber nur das Gute.“ Die Radwege kann er nicht meinen.
Schon auf dem 30-Minuten-Weg in den Nordhafen erblassen die Radler aus Hamburg vor Neid. In Kopenhagen sind die Radwege fast durchweg mindestens zwei Meter breit – je Richtung. Sie sind fast immer baulich von der Straße abgetrennt, in der Regel durch eine einfach Kante, und liegen oft etwas erhöht, kurz unter dem Fußweg-Niveau. Die Beschilderung ist sparsam, aber leicht verständlich, der Asphalt ein Gedicht, die gegenseitige Rücksichtnahme groß.
Unsere achtköpfige Delegation erlebt, obwohl sie stundenlang zu jeder Tageszeit durch die Stadt radelt, nicht eine einzige brenzlige Situation. In Hamburg hätten wir x-mal um unser Leben bangen müssen.
Was hat denn Kopenhagen nun anders gemacht, wie ist es zur „City of Cyclists“ geworden, die sogar eine Fahrrad-Botschaft unterhält, in der sich Besucher über die dänische Radpolitik informieren können?
Nun, sagt Kabell. „Kopenhagen hat nichts, wirklich nichts getan, was nicht jede andere Stadt der Welt auch tun könnte.“ Das ist wohl als Trost an den Besuch aus dem Süden gedacht.
Der End-Vierziger mit dem obligatorischen Drei-Tage-Bart klappt seinen Laptop auf und beamt alte Schwarz-Weiß-Fotos an die Leinwand, auf denen innerstädtische Plätze zu sehen sind, vollgestopft mit Autos: „Kopenhagen war mal eine extrem auto-orientierte Stadt“, sagt Kabell. „Wir waren genauso faul wie Ihr, sind am liebsten Auto gefahren.“
Stadt investiert 280 Millionen Euro in Radverkehr
Doch irgendwann hätten die Leute es satt gehabt, die ständigen Staus, Verkehrslärm, Gestank, vergebliche Parkplatzsuche. Es war eine Graswurzelbewegung, berichtet Kabell ebenso wie später andere Gesprächspartner. Nicht die Politik habe den Kurs vorgegeben, sondern die Bürger hätten die Politik aufgefordert, endlich etwas zu tun. Wann genau das begann, ob in den 80ern oder doch etwas früher oder später, darüber gehen die Erinnerungen auseinander. Einigkeit besteht aber darüber, dass der entscheidende Push erst 2006 kam, als die Bürgermeister Ritt Bjerregaard und Klaus Bondam anfingen, das Thema mit Macht voranzutreiben.
Ideologie sei nie ein Motiv gewesen, so Kabell, sondern praktische Erwägungen. So sei die Stadt Kopenhagen mehrfach fast pleite gewesen, habe schlicht kein Geld für große (Auto-)Infrastrukturprojekte gehabt und musste nach günstigen Lösungen für die Verkehrsprobleme suchen. Warum da die Förderung des Radverkehrs nahelag, untermalt er mit zwei einfachen Zahlen: Innerhalb von 16 Jahren habe die Stadt 280 Millionen Euro in den Radverkehr investiert und sei so zur mutmaßlich weltbesten Fahrradstadt aufgestiegen.
Radweg vs. Autotunnel: Was ist die bessere Investition?
Für die gleiche Summe sei zwischenzeitlich ein einziger Autotunnel in Nord-Kopenhagen gebaut worden. Der sei meistens verstopft. Wo war das Geld wohl besser investiert?
Morten Kabell zeigt noch ein paar Gestern-Heute-Fotos. Auf den einst zugeparkten Plätzen stehen heute zwar noch genauso viele Fahrzeuge, aber es sind Räder, die nur wenig Fläche in Anspruch nehmen. Aus dem Parkplatz ist wieder eine ansprechend gestaltete Fläche geworden, Menschen sitzen auf Parkbänken oder flanieren, Kinder spielen. Oder die Königin-Louise-Brücke: Früher vierspurig von Autos dominiert, heute nur noch zweispurig, dafür mit fünf Meter breiten Rad- und ebenso breiten Fußwegen. Ergebnis: 57 Prozent weniger Autos, 60 Prozent mehr Radfahrer, 165 Prozent mehr Fußgänger.
Auch die Zahlen für ganz Kopenhagen sind beeindruckend: Dem letzten „Modal Split“ für das Jahr 2016 zufolge wurden 29 Prozent der Wege mit dem Rad zurückgelegt – damals doppelt so viele wie in Hamburg. Der Autoanteil lag aber immer noch bei 34 Prozent – die meisten Experten sagen, dass das Verhältnis inzwischen wohl gekippt ist. Die Wege zur Arbeit, Uni oder Schule legen die Kopenhagener schon heute zu 49 Prozent mit dem Rad zurück, sagte eine städtische Statistik – der Copenhagenize-Chef spricht sogar von 62 Prozent.
23.800 Radler nutzen täglich die "Schlange"
Auch hier gilt: Die Kopenhagener radeln nicht mit der Moralkeule durch die Stadt sondern Umfragen zufolge, weil es schnell und einfach geht und – drittens – aufregend ist. Das dürfte auch an Projekten wie der „Schlange“ liegen: Eine neue Hafenbrücke, die ausschließlich Radfahrern vorbehalten ist und sich hoch über dem Wasser zwischen neuen Gebäuden hindurch schlängelt. Mit 3000 Radlern pro Tag hatten die Planer anfangs gerechnet, gezählt wurden zuletzt 23.800 – am Tag.
Wenn Tjarks und Bill so etwas hören, klappt im Geiste sofort die Hamburg-Karte auf: Wo könnte man so eine Brücke bei uns bauen? Als Verbindung in die östliche HafenCity? Zum Kleinen Grasbrook? Oder doch lieber an der Außenalster, wo die Radwege oft Hunderte Meter verschwenken, bevor sie einen Zulauf überbrücken?
Tipps an Hamburg
Tjarks hat zum Abschied noch eine Frage an Morten Kabel: „Wie lange brauchen wir, um so weit zu sein wie Kopenhagen?“ Die Antwort überrascht: „In zehn Jahren seid Ihr auch soweit.“ Ungläubiges Staunen. In zehn Jahren? Wie das denn? „Seid radikal“, sagt Morten Kabell. „Ihr braucht einen guten Plan und müsst den konsequent umsetzen.“ Dass die weiteren Gesprächspartner ähnliche Ansichten haben, ist aufgrund ihrer Affinität zu dem Thema vielleicht nicht überraschend, aber doch bemerkenswert. Auch sie raten Hamburg:
- Stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Kopenhagen analysiere ständig sehr genau, was die Menschen wollen, was sie gut finden, und was sie nervt. Die Stadt sei keineswegs aufs Rad fixiert, sondern auf die Wünsche der Menschen, sagt die ehemalige Stadtarchitektin Tina Saaby. Auch Morten Kabell rät, zunächst die Bürger einzubeziehen und dann erst zu bauen: „Das dauert zwar etwas länger, ist aber sehr erfolgreich.“
- „Wenn Ihr Radfahren zum Mainstream machen wollt, braucht Ihr geschützte Radwege“, sagt nicht nur Architekt Andreas Roehl aus dem weltbekannten Büro Jan Gehl. Auch die Stadtplanungs-Professorin Malene Freudenthal-Petersen, die Hamburg aus ihrer Zeit als Dozentin an der HafenCity-Universität kennt, sieht den entscheidenden Unterschied in diesen „Protected Bike-Lanes“. Laut dem Grünen-Verkehrsexperten Martin Bill plant Hamburg, dieses Konzept an der Tangstedter Landstraße zu testen – in einigen Jahren.
- Wenn Fahrradspuren auf der Straße, dann immer auf der Beifahrerseite der Autos. Während man in Hamburg zwischen Straßenverkehr und geparkten Fahrzeugen radeln muss (und die „Dooring-Unfälle“ schon die Bürgerschaft beschäftigen), ist in Kopenhagen die Reihenfolge stets so: Straße, Parkstreifen, Radstreifen, Fußweg. Tatsächlich fühlt man sich auf diesen Streifen als Radler sehr sicher, da man physisch vom motorisierten Verkehr getrennt ist und nie von einer Autotür vor einen Lastwagen geschubst werden kann. „Das könnt Ihr sofort machen, und es kostet fast nichts“, sagt Roehl. Morten Kabell wird wie immer etwas drastischer: „Ein Radstreifen auf der Fahrerseite der Autos ist der sicherste Weg, um Radfahrer zu töten.“
- Lösungen testen! Tina Saaby und Malene Freudenthal-Petersen radeln mit uns in die Amagerbrogade, eine vierspurige Hauptverkehrsstraße. Hier wurden zunächst mit ein paar Pinselstrichen Rad- und Gehwege deutlich verbreitert. Dann wurde beobachtet, wie sich das bewährt – und erst als Anlieger, Verkehrsteilnehmer und Geschäftsleute Zufriedenheit signalisierten, wurde die Maßnahme endgültig umgesetzt. „Das spart viel Geld, wenn man Dinge nicht später zurückbauen muss, weil sie den Menschen nicht gefallen“, sagt Saaby.
- Auf Sicherheit setzen! Kopenhagen hat mit einer Vielzahl überwiegend kleiner Maßnahmen die Sicherheit im Radverkehr erhöht. Beispiel eins: Früher seien acht bis zehn Radler jährlich durch rechtsabbiegende Autos oder Lkw getötet worden. Dann habe man an Kreuzungen einfach mal die Haltelinie für Autos um fünf Meter zurückverlegt. Ergebnis: Heute gebe es nur noch maximal einen Toten pro Jahr, erzählt Morten Kabell. „Wir hatten erst Zweifel, weil die Maßnahme so simpel ist, aber sie wirkt.“ Beispiel zwei: Vor großen Kreuzungen sind rechts Geländer mit Fußstützen, sodass die Radler nicht vom Sattel absteigen müssen. Das sollte ursprünglich nur komfortabel sein, aber vor allem junge Männer finden die Fußstützen offensichtlich so cool, dass sie seltener in die Kreuzung hineinfahren. Klingt alles banal, wirkt aber offenbar: In Kopenhagen kommt es nur alle 4,9 Millionen Radfahr-Kilometer zu einem schweren Unfall.
- Die Stadt als Vorbild. „Bei uns gibt es wenig Distanz zwischen Politik und Bürgern, auch Bürgermeister fahren Fahrrad“, erzählt Tina Saaby. Die Stadtverwaltung erstatte daher ihren Angestellten auch keine Kosten für Auto- oder Taxifahrten, stelle aber bei Bedarf Diensträder zur Verfügung. Das plant Hamburg auch, doch wie so oft in Deutschland ist es kompliziert – vor Ende 2020 werden die ersten Diensträder für Beamte nicht rollen.
Protected Bike Lanes schwierig bei Straßenbäumen
Was nimmt man nun mit aus Kopenhagen? „Das war sehr inspirierend. Und die Erwartung, ins Fahrrad-Paradies zu kommen, wurde durchaus erfüllt“, sagt Anjes Tjarks, der nach dem offiziellen Programm noch bis in die Nacht mit einem Cargo-Bike durch die Stadt geradelt ist. „Wir haben viel darüber gelernt, wie man eine Stadt zu einer Fahrradstadt umgestalten kann. Das motiviert uns. Wir müssen jetzt sehen, was man davon auf Hamburg übertragen kann.“
Dass das Plädoyer der Dänen für geschützte Radwege eine Watsch'n für die Hamburger Grünen ist, die seit Jahren für Radstreifen auf den Straßen kämpfen, weisen er und Bill zurück. Die Streifen seien immerhin besser als das was vorher da war – nämlich oft nichts, sagen beide. Im Übrigen habe Rot-Grün ja schon angekündigt, künftig verstärkt auf die „Protected Bike-Lanes“ setzen zu wollen. Die seien in Hamburg aber schwerer umzusetzen, da die Hansestadt viel mehr Straßenbäume habe als Kopenhagen.
Wie sehr Hamburg zu einer Fahrradstadt à la Kopenhagen wird, hänge im Übrigen vor allem von einem Ereignis ab: der Bürgerschaftswahl.