Hamburg. Verein hat mit Bündnispartnern eine Volksinitiative für verbindliche Bürgerentscheide gestartet. Der Senat hat Verfassungsbedenken.
Der Satz aus der Pressemitteilung des Senats ist von so erhabener Schnörkellosigkeit, dass einem die Brisanz auf den ersten Blick glatt durchgehen kann: „Aufgrund der gesamtstädtischen Bedeutung des Vorhabens und zur Verhinderung von Preissteigerungen durch Verzögerungen zieht der Senat das Verfahren zur Schaffung von Planrecht an sich.“ Preissteigerungen verhindern, Verzögerungen vermeiden – wer wollte da widersprechen? Das sehen die Politiker im Bezirk Bergedorf ganz anders. Die sind parteiübergreifend auf Zinne und wollen „klare Kante“ gegen den Senat zeigen. David gegen Goliath also.
Darum geht es: Der rot-grüne Senat will neben dem Gelände der Justizvollzugsanstalt (JVA) Billwerder im Bezirk Bergedorf eine neue Jugendanstalt gewissermaßen auf der grünen Wiese bauen. Unterstützt wird das Projekt von SPD, Grünen, CDU und FDP in der Bürgerschaft. Die Bezirkspolitiker sehen dagegen den weiteren Verlust von landwirtschaftlichen Nutzflächen in den Vier- und Marschlanden, nachdem bereits nicht weit entfernt mit Oberbillwerder ein neuer Stadtteil mit 15.000 Einwohnern gebaut werden soll.
Bergedorfer fühlen sich vom Senat hintergangen
Vor allem aber fühlen sich die Bergedorfer vom Senat übergangen und berufen sich auf eine alte Zusage, nach der das Gelände der JVA Billwerder nicht erweitert werden soll. „Ich fühle mich von Anfang an aufs Kreuz gelegt“, sagte Peter Gabriel, Vorsitzender der Bezirksversammlung Bergedorf, Sozialdemokrat und damit Parteifreund von Bürgermeister Peter Tschentscher. Die Bergedorfer, so Gabriels weitreichender Vorwurf, seien von der Justizbehörde belogen worden, weil nicht alle Alternativen zum Standort Billwerder für das Jugendgefängnis ernsthaft geprüft worden seien.
Den Senat, Tschentscher eingeschlossen, scherten die Proteste im Südosten in diesem Fall wenig. Das rot-grüne Rathauskabinett hat beschlossen, den Fall an sich zu ziehen und damit der bezirklichen Einflussnahme zu entziehen. Das ist immer dann möglich, wenn es um ein Projekt von gesamtstädtischem Interesse geht, was immer das im Einzelfall genau heißt. Dahinter steht das im Verwaltungsbehördengesetz verankerte Evokationsrecht (evocatio, lat. Aufruf) – ein Eckpfeiler der sogenannten Einheitsgemeinde Hamburg mit weitreichenden Befugnissen von Senat und Bürgerschaft und relativ schwachen Bezirken. Der Senat kann Entscheidungen der Bezirksversammlungen evozieren, in Wahrheit also annullieren. Das Gleiche gilt für Bürgerbegehren und Bürgerentscheide, den bezirklichen Pendants zu Volksbegehren und Volksentscheiden auf Landesebene. Die Macht, man kann es nicht anders sagen, ist in Hamburg klar zugunsten der oberen Ebene verteilt.
Verein Mehr Demokratie startet Volksinitiative
Es sind Fälle wie der Streit um das Jugendgefängnis in Bergedorf, die der Verein Mehr Demokratie bei seiner Volksinitiative vor Augen hat, die in dieser Woche gestartet wurde. Zusammen mit mehr als zehn Bündnispartnern will Mehr Demokratie erreichen, dass Bürgerbegehren und Bürgerentscheide verbindlich werden, also dem Zugriff der Landesebene entzogen sind. „Senat und Bürgerschaft unternehmen unverzüglich alle notwendigen Schritte, damit in Bezirksangelegenheiten rechtlich für Bezirk und Senat Bürgerentscheide bindend sind. Bürgerbegehren dürfen ab dem Tag ihrer Anmeldung nicht mehr be- bzw. verhindert werden“, heißt der erste Satz des Abstimmungstextes der Volksinitiative. Mehr Demokratie stellt – wieder einmal – die Machtfrage.
Der Verein hat in den vergangenen 20 Jahren die Demokratie im Stadtstaat stark verändert. Über Volksinitiativen wurden das Wahlrecht reformiert, die Verbindlichkeit von Volksentscheiden erreicht sowie Bürgerbegehren und -entscheide auf Bezirksebene eingeführt. Zeitweise kooperierte die Bürgerschaft – namentlich SPD, Grüne und CDU – von vornherein mit Mehr Demokratie, um einen kaum zu gewinnenden Volksentscheid zu verhindern. Aber es gab auch herbe Niederlagen für die Erfolgsverwöhnten. Zuletzt stoppte das vom Senat angerufene Verfassungsgericht die Volksinitiative „Rettet den Volksentscheid!“ von Mehr Demokratie.
Dressel verhandelte bereits mehrfach mit Mehr Demokratie
Auch diesmal stehen die Zeichen nicht auf Kooperation. Das Evokationsrecht würde durch die Verbindlichkeit von Bürgerentscheiden ausgehebelt. Nicht nur aus Sicht des Senats wäre damit die Regierungsfähigkeit Hamburgs infrage gestellt. „Mehr Demokratie versucht, die Axt an das Prinzip der Einheitsgemeinde zu legen“, sagt Finanzsenator Andreas Dressel (SPD), der auch Bezirkssenator ist und damit im Senat fachlich zuständig. Dressel hat als Fraktionschef zusammen mit Grünen-Fraktionschef Anjes Tjarks mehrfach mit Mehr Demokratie verhandelt.
Zweimal hat Dressel die Vertrauensleute der Volksinitiative mit dem neuen starken Mann von Mehr Demokratie, Gregor Hackmack, zu Gesprächen in seiner Behörde begrüßt. Dabei soll es auch um mögliche Kompromisse gegangen sein. So können sich SPD und Grüne durchaus mehr Verbindlichkeit vorstellen – jedenfalls auf Bezirksebene. Allerdings nur mit einem festen Quorum, also einer vorgeschriebenen Mindestzahl von Teilnehmenden und/oder Zustimmenden bei einem Bürgerentscheid.
Rot-Grün will die Initiative rechtlich prüfen lassen
Ein solches Quorum fehlt bislang. Theoretisch ist ein Bürgerentscheid angenommen, wenn bei drei Abstimmenden zwei dafür sind. Aus Dressels Sicht ist es eine „absurde Vorstellung“, dass wenige Tausend Teilnehmer eines Bürgerentscheids über eine Frage von gesamtstädtischer Bedeutung entscheiden, über die sonst mehr als eine Million Wahlberechtigte auf Landesebene abstimmen könnten. Dressel schlug eine Verfassungsänderung vor, nach der es möglich wäre, von einem Bürgerbegehren auf ein Volksbegehren zu springen, wenn ein Thema tatsächlich gesamtstädtische Bedeutung hat. Doch Mehr Demokratie wollte weder die Einführung eines Quorums noch den Spurwechsel von Bürger- zu Volksbegehren akzeptieren.
Skeptisch reagierte auch Tjarks. „Wir werden die Volksinitiative zunächst einmal rechtlich prüfen lassen. Dabei ist auch die Frage interessant, ob es sich hier um eine intendierte Verfassungsänderung handelt, die mit einfacher Mehrheit durchgeführt werden soll, obwohl eine Zweidrittelmehrheit nötig ist“, sagte der Grüne. Nur in den Fällen, in denen die Entscheide gesamtstädtische Fragen betreffen, könne die Abstimmung von Senat und Bürgerschaft an sich gezogen werden. „Und das ist auch gut so. Denn über solche Fragen sollten alle Hamburgerinnen und Hamburger abstimmen können.“
Mehr Demokratie hat mit dem Thema schlechte Erfahrung. Der Verein wollte 2014 per Volksinitiative die Einheitsgemeinde auflösen und die Bezirke zu eigenständigen Gemeinden oder Städten machen. Auch hier gab es erhebliche Verfassungsbedenken. Letztlich wurde die Initiative abgesagt.