Hamburg. Spitzenkandidaten der Wahl am 26. Mai ließen sich selten in der Stadt blicken. Klaffen die Eigen- und die Fremdwahrnehmung auseinander?

Dass Europa in Hamburg – Außenhandelsmetropole, weltoffen und international vernetzt – eine zentrale Rolle spielt, gehört zum Allgemeingut an Alster und Elbe. „Hamburg ist eines der europafreundlichsten Länder Deutschlands“, sagte kürzlich ein Spitzenbeamter der Senatskanzlei und charakterisierte dabei wohl auch das Selbstverständnis vieler in Politik, Verwaltung, Wirtschaft oder Wissenschaft Tätigen.

Nun können die Eigen- und die Fremdwahrnehmung bisweilen bekanntlich auseinanderklaffen. Bei den Parteien, die jetzt bundesweit in den Kampagnen-Schlussgalopp zu den Europawahlen am kommenden Sonntag gehen, fällt jedenfalls auf, dass der Stellenwert der Hansestadt nicht ganz so hoch angesiedelt ist. Anders ausgedrückt: Die Hamburger Bewerber und Bewerberinnen um einen Sitz im Europaparlament müssen in den letzten Tagen vor der Entscheidung an der Wahlurne meist ohne die Unterstützung der Spitzenkandidaten auskommen.

Weber war im Februar in Hamburg

Unions-Spitzenkandidat Manfred Weber (CSU) wird nicht mehr vorbeischauen. Weber, zugleich Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei und damit Anwärter auf den Posten des EU-Kommissionschefs, war einmal, allerdings schon am 13. Februar, in Hamburg. Damals wussten die meisten Wahlberechtigten vermutlich noch gar nicht, dass in diesem Jahr Europawahlen stattfinden.

Dennoch muss der Hamburger CDU-Spitzenkandidat Roland Heintze kurz vor der Wählerentscheidung nicht auf Bundesprominenz verzichten. Am kommenden Dienstag will Heintze mit CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer und möglichst vielen Hamburgern in einem Restaurant in der Europa Passage einen Espresso trinken und über Europa diskutieren – auch wenn AKK nicht auf dem Stimmzettel für die Europawahl steht.

2014 startete die SPD ihren Europawahlkampf in Hamburg

Bei den Sozialdemokraten ist die Lage ähnlich. Zur Schlusskundgebung in der Altonaer Fabrik am Freitagabend (siehe Bericht auf dieser Seite) reiste Martin Schulz zusammen mit dem luxemburgischen Außenminister Jean Asselborn an, um dem Hamburger EU-Abgeordneten Knut Fleckenstein zur Seite zu stehen. Schulz, Ex-Kanzlerkandidat und Ex-EU-Parlamentspräsident, ist selbstverständlich nicht irgendwer. Nur auch er stellt sich nicht zur Wahl. Immerhin: SPD-Spitzenkandidatin Katarina Barley war am 7. Mai in Hamburg, um vorwiegend mit Studierenden an der Bucerius Law School unter anderem über Populismus in Europa zu diskutieren.

Apropos Schulz: Vor fünf Jahren hatte der Würseler als damaliger SPD-Spitzenkandidat seinen (dann recht erfolgreichen) Europawahlkampf in Hamburg auf Kampnagel eröffnet. Die SPD landete am Ende bei heute unerreichbar scheinenden 27,3 Prozent. Barley kommt vor der Wahl nur noch einmal nach Norddeutschland, nach Bremen. Gut, die Bremer Sozialdemokraten können im dortigen Wahlkampf zur zeitlich parallel stattfindenden Bürgerschaftswahl jede Hilfe gebrauchen ...

Martin Schirdewan, EU-Abgeordneter der Linken und auf Listenplatz eins der Partei für den 26. Mai, machte im Wahlkampf einen Bogen um Hamburg. Das ist insofern ein wenig erstaunlich, als der Berliner auf seiner Homepage damit wirbt, als EU-Parlamentarier „Ansprechpartner für Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Bremen“ zu sein. Dagegen war immerhin die Zweitplatzierte auf der Bundesliste der Linken, Özlem Alev Demirel, gleich mehrfach bei ihren Hamburger Parteifreunden im Wahlkampf zu Besuch, unter anderem auf deren Landesparteitag. Auch AfD-Spitzenkandidat Jörg Meuthen war nicht in Hamburg und wird ausweislich des Terminkalenders der Partei auch nicht mehr kommen.

FDP-Spitzenkandidatin Beer kommt noch nach Hamburg

Ganz anders ist die Lage bei den Liberalen: Die bundesweite Spitzenkandidatin der FDP, Ex-Generalsekretärin Nicola Beer, kommt am Donnerstag zum „Chancen-Talk“ in einen Club auf der Reeperbahn. Beer trifft dann nicht nur die FDP-Landesvorsitzende Katja Suding, sondern auch Svenja Hahn. Die junge PR-Frau steht auf Platz zwei der bundesweiten FDP-Liste und wird als einzige Hamburger Bewerberin so gut wie sicher ins EU-Parlament einziehen.

Die Grünen-Spitzenkandidatin Ska Keller fand im Wahlkampf bislang noch nicht den Weg nach Hamburg. Aber das soll sich auf den letzten Drücker ändern. Am kommenden Sonnabend wird Keller für eine Stunde in Altona die Wahlkampftrommel rühren. Die Europa-Abgeordnete düst mit dem an Nummer zwei platzierten Sven Giegold und den Parteivorsitzenden Annalena Beerbock und Robert Habeck an den beiden letzten Tagen vor der Wahl durch alle 16 Bundesländer. Keller wird in Hamburg an einer Aktion in Sachen Klimaschutz teilnehmen, bei der auch als Eisbären verkleidete Menschen auftreten sollen. Hoffentlich reist das grüne Quartett wenigstens mit der Bahn durch die Repu­blik, damit die Ökobilanz stimmt ...

Dass manche EU-Spitzenkandidaten Hamburg die kalte Schulter im Wahlkampf zeigen, ist das eine. Die Hamburger Präsenz im neuen EU-Parlament könnte auch in Zukunft mager ausfallen. Mit Knut Fleckenstein vertritt derzeit nur ein Hamburger die europafreundliche Stadt im Parlament von Brüssel und Straßburg. Und Fleckenstein muss um den Wiedereinzug zittern: Der 64 Jahre alte außenpolitische Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion steht auf Platz 18 der bundesweiten SPD-Liste. Nach Lage der Dinge muss die SPD mindestens 18 Prozent bei der Europawahl holen, damit Fleckenstein erneut den Sprung nach Brüssel schafft. Die Umfragen geben das für die krisengeschüttelte SPD derzeit nicht her.

CDU-Kandidat Heintze muss erneut um den Einzug zittern

Auch für CDU-Mann Heintze ist das Rennen völlig offen. Aber der 46 Jahre alte Unternehmer hat Erfahrung mit der Ungewissheit am Wahlabend. Auch bei der vorangegangenen Europawahl war Heintze Hamburger Unions-Spitzenkandidat. Erst am frühen Morgen nach der Wahl wusste er, dass er knapp gescheitert war. Da die CDU als einzige Partei mit getrennten Landeslisten zur Europawahl antritt, kommt es hier auf die Ergebnisse der Union in den Ländern und die Höhe der Wahlbeteiligung an. Das bedeutet, dass Heintze gewissermaßen aus eigener Kraft den Sprung nach Europa schaffen kann, während sich Fleckensteins europapolitisches Schicksal in Wahrheit eher im bevölkerungsreichen Nordrhein-Westfalen entscheidet.

Die Hamburger Landesverbände von Grünen, Linken und AfD werden mit ziemlicher Sicherheit keinen Kandidaten nach Europa schicken. Cristina Schwarzwald, die erste Hamburger Grüne, kandidiert auf Platz 31 der Bundesliste. Für 31 Prozent wird der demoskopische Höhenflug dann vermutlich doch nicht reichen. Die hiesigen Grünen haben allerdings aus der Not eine Tugend gemacht: Ihr Berliner Parteifreund Sergey Lagodinsky kandidiert auf Platz zwölf und hat damit gute Chancen, erneut ins EU-Parlament gewählt zu werden. Der 44 Jahre alte Rechtsanwalt hat bereits angekündigt, sich im Falle seiner Wiederwahl auch um Hamburg kümmern zu wollen. Lagodinsky lebte nach seiner Übersiedelung aus Russland Anfang der 90er-Jahre mit seiner Familie in einem Flüchtlingsheim nahe Hamburg und besuchte kurze Zeit ein Norderstedter Gymnasium.

Vertritt den Hahn den Stadtstaat allein in Brüssel?

Wie die Grünen konnten auch die Hamburger Linken keinen eigenen Kandidaten auf einen chancenreichen Platz der Europawahlliste hieven. Mit Florian Wilde folgt der erste Hamburger erst auf Platz 20. Und auch der AfD-Bürgerschaftsabgeordnete Detlef Ehlebracht, der auf Platz 29 der AfD-Liste steht, kann nicht ernsthaft mit einem Wechsel auf die europäische Ebene rechnen.

In einer Woche wird sich zeigen, ob die Liberale Svenja Hahn den Stadtstaat allein in Brüssel vertritt. Falls Fleckenstein und/oder Heintze auch gewählt werden, wäre das Hamburger Gewicht auf EU-Ebene am Ende sogar gestärkt.