Hamburg. Soziale Beschäftigungsprojekte wie Suppenküchen und Kleiderkammern standen vor dem Aus – bis zum Donnerstag.
Nein, so hatten sie sich Weihnachten 2018 sicher nicht vorgestellt. Da ist zum Beispiel Hans-Jürgen: Der 55-Jährige hat zwar zwei Gesellenbriefe, kann aufgrund mehrerer Allergien aber weder als Maler noch als Gärtner arbeiten. Doch im Tierhaus Steilshoop hat er eine Beschäftigung gefunden, die zu ihm passt und ihm ein bescheidenes Einkommen sichert. Kindergartenkinder, Schulklassen oder auch Senioren kommen zu ihm, um Kaninchen, Schafe und Papageien zu streicheln, zu füttern oder einfach nur anzuschauen. Doch ob es den Job im Januar noch gibt, ist offen. Hans-Jürgen weiß nicht, wie es weitergeht, wovon er 2019 leben soll.
Oder Wilma, ebenfalls 55 Jahre alt. Sie ist alleinerziehend, hat Probleme mit Gicht und Rheuma und diverse Arbeitsmaßnahmen durchlaufen. Ihr Glück fand sie in der La Cantina in Ottensen: 200 Essen am Tag werden dort gegen kleines Geld für Bedürftige ausgegeben, Wilma schmeißt die Salatbar. Das würde sie auch weiterhin gern tun – aber auch sie weiß nicht, ob es ihren Job und die Cantina Anfang 2019 noch geben wird und fragt sich: „Wo sollen die Leute denn hingehen?“
Projekte am Leben halten
Es gibt Dutzende Schicksale wie die von Hans-Jürgen und Wilma, genau genommen 279, und sie haben alle eines gemeinsam: Ihre Jobs werden bislang im Rahmen des Programms „Soziale Teilhabe“ von Bund und Stadt finanziert – und dieses Programm läuft Ende des Jahres aus. Auch Kalle (61) im Sozialkaufhaus Harburg, Mark (40) aus dem Möbelkeller in Eimsbüttel oder Sabrina (55) und Rainer (50) im Secondhandladen SpendaBel wissen noch nicht, wie es 2019 mit ihnen weitergeht.
Ihre Schicksale werden in einem Kalender geschildert, den das „Aktionsbündnis Stadtteile“ dieser Tage allen Abgeordneten der Bürgerschaft und auch allen Mitgliedern des Senats zukommen ließ – ein weiterer Versuch der Freien Träger, die in der Landesarbeitsgemeinschaft Arbeit (LAG) zusammengeschlossen sind, die Politik dazu zu bringen, die aus ihrer Sicht für die Beschäftigten und die Quartiere gleichermaßen wertvollen Projekte am Leben zu halten. Und tatsächlich sieht es nun nach einem Durchbruch aus, nach einer Nachricht, die für Hans-Jürgen, Wilma & Co. das Weihnachtsfest doch noch retten könnte. Dazu später.
Programm Soziale Teilhabe
Rückblick: Dass das Programm „Soziale Teilhabe“, mit dem der Bund rund 20.000 Langzeitarbeitslose mit insgesamt 750 Millionen Euro fördert, Ende 2018 ausläuft, war allen Beteiligten lange bekannt. Ebenso, dass die Co-Finanzierung der Stadt von rund 1,5 Millionen Euro jährlich an dieses Programm geknüpft war und auslaufen würde. Auch was danach kommen sollte, war keine Überraschung: Der Bundestag hat ein neues „Teilhabechancengesetz“ beschlossen, mit dem Langzeitarbeitslose ab 1. Januar 2019 sogar bis zu fünf Jahre lang gefördert werden können, und das unter weniger strengen Regeln als bislang. So richtet sich das Angebot auch ausdrücklich an gewinnorientierte Unternehmen, nicht nur an soziale und gemeinnützige Träger. Die Intention: Statt die Menschen im „zweiten Arbeitsmarkt“ zu beschäftigen, sollen sie möglichst in den regulären „ersten“ Arbeitsmarkt integriert werden.
Doch so sehr viele Experten diesen Ansatz begrüßen, so schwierig gestaltet sich die Umsetzung. Denn erstens wurde das neue Gesetz erst im November beschlossen – es innerhalb weniger Wochen umzusetzen erscheint nahezu unmöglich. Zweitens stellte sich für die Träger des Tierhauses, der Cantina, des Sozialkaufhauses und vielen anderen die Frage, ob dieses Gesetz überhaupt auf sie passt. Ganz konkret: Können Menschen wie Hans-Jürgen und Wilma auch unter den neuen Bedingungen weiterbeschäftigt werden? Und hinzu kam die Frage: Was wird aus den 1,5 Millionen Euro, die die Träger bislang zusätzlich von der Stadt erhalten haben? Werden die ersatzlos gestrichen? Oder gibt es Mittel aus einem anderen Topf?
Sozialverbände auf den Barrikaden
Seit Monaten waren die Behörde für Arbeit und Soziales (BASFI) und das Jobcenter (das für die Umsetzung der Maßnahmen des Bundes verantwortlich ist) auf der einen und die Träger und ihre Dachverbände auf der anderen Seite darüber im Gespräch. Noch in dieser Woche – zehn Tage vor Auslaufen der Beschäftigungsverhältnisse – gab es über den Stand der Verhandlungen völlig unterschiedliche Auffassungen.
Während es aus Regierungskreisen hieß, dass die meisten Projekte sich keine Sorgen machen müssten und nur noch für zwei von ihnen die Perspektive unklar sei, hatten Träger und Sozialverbände eine andere Sichtweise: „Traurig, aber wahr“, schrieb die LAG Arbeit in einer Pressemitteilung: Während der Bund eine neues Förderprogramm auflege, streiche die BASFI die Hamburger Mittel und gefährde so nicht nur die Beschäftigungsverhältnisse, sondern auch die „besondere Unterstützung für arme Menschen“ in den Stadtteilen. Und so gingen in dieser Woche fast alle großen Sozialverbände noch einmal verbal auf die Barrikaden.
Gewinne seien illusorisch
Sandra Berkling von der Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (AGFW) verwies auf die Anforderung des neuen Teilhabegesetzes, wonach die Einrichtungen angehalten sind, Gewinne zu erwirtschaften, damit die Unterstützung des Bundes schrittweise abnehmen kann: „Das ist eine illusorische Vorstellung. Eine Kiezküche für arme Menschen wirft einfach keinen Profit ab.“ Klaus Wicher, Landesvorsitzender des Sozialverbands Deutschland (SoVD), zeigte sich „entsetzt“ über die Ankündigung des Senats, keine eigenen Mittel mehr zur Verfügung zu stellen. Das könne für soziale Anbieter „der Anfang vom Ende sein“.
Auf Regierungsseite kamen diese Stimmen gar nicht gut an. Man könne doch nicht einerseits über die Zukunft der Projekte verhandeln und andererseits öffentlich Brandbriefe schreiben, schimpfte einer. Statt auf vorweihnachtliche Besinnlichkeit standen die Zeichen auf Konfrontation.
Die Wende kam per Mail aus der Sozialbehörde
Doch das änderte sich am Donnerstagabend urplötzlich: Da verschickte die Sozialbehörde eine Mail an die in der LAG vereinten Träger, in der sie nun doch „finanzielle Unterstützung“ für die betroffenen Einrichtungen zusagte. Offensichtlich war die Aussicht, ein halbes Jahr vor den wichtigen Bezirkswahlen mit Schlagzeilen über Sozialabbau in den Stadtteilen konfrontiert zu werden, vor allem für die SPD wenig attraktiv – zumal diese Darstellung aus ihrer Sicht auch nicht gestimmt hätte.
Interessant am Rande: Während die Grünen schon in den Koalitionsverhandlungen 2015 darauf gedrängt hatten, Beschäftigungs- und Stadtteilförderung stärker gemeinsam zu betrachten, hatte die BASFI auf einer strikten Trennung der Bereiche bestanden. In ihrer Mail an die Träger kündigte sie nun aber genau das an: Mitte 2019 soll es eine neue Förderrichtlinie geben, mit der die „Teilhabe“-Projekte zusätzlich aus anderen Töpfen wie dem Quartiersfonds unterstützt werden können. „Das begrüßen wir“, sagte Antje Möller (Grüne), „und sehen uns bestätigt.“
Lang erhoffter Durchbruch
Und während die Träger noch rätselten, ob die diversen Bedingungen, die in der BASFI-Mail als Voraussetzung für eine Unterstützung genannt wurden, nun annehmbar sind oder eher nicht, schob SPD-Fraktionschef Kienscherf weiteren Spekulationen einen Riegel vor: „Es gab von uns immer das Signal, dass bei keinem der Projekte am 1. Januar das Licht ausgeht“, sagte er dem Abendblatt. „Dazu stehen wir. Wie das gelingen kann, darüber führen wir nun Gespräche.“
Aus Sicht von Petra Lafferentz, die als LAG-Sprecherin den Protest gegen das mögliche Aus der Angebote angeführt hatte, war das der lang erhoffte Durchbruch: „So eine politisch klare Äußerung gab es bislang nicht. Daher freuen wir uns darüber sehr.“ Das dürfte wohl auch für Wilma, Hans-Jürgen und all die anderen gelten, die nun zumindest eine Perspektive haben – und vielleicht doch noch ein schönes Fest.