Hamburg. Ehemaliger RAF-Terrorist Dellwo und SPD-Fraktionschef Dressel streiten um G20-Aufarbeitung. Ausschuss prüft geschwärzte Akten.
Es war ein besonderes Aufeinandertreffen in der Patriotischen Gesellschaft: Ganz links auf dem Podium der ehemalige RAF-Terrorist Karl-Heinz Dellwo, ganz rechts der amtierende SPD-Fraktionschef Andreas Dressel. Auch beim G20-Gipfel vor fast 100 Tagen nahmen beide Männer grundverschiedene Perspektiven ein. Entsprechend kontrovers verlief ihre Diskussion am Mittwochabend mit Thalia-Intendant Joachim Lux und dem Staatsrechtler Hans Peter Bull.
Für Dellwo war der G20-Gipfel vor allem eines: Machtdemonstration des Polizeiapparates gegen sehr unterlegene Demonstranten. „Ich bin in den Tagen überall unterwegs gewesen. Es ging von Seiten der Polizei darum, jeden Protest einzuhegen und an den Rand zu schieben“, sagte der 65-Jährige, der einen kleinen Verlag und ein Restaurant im Schanzenviertel betreibt. Eine so „hochgerüstete“ Präsenz der Polizei habe er noch nie erlebt. „Die politische Kaste möchte nicht mehr von Protest gestört werden“.
Dressel verteidigt Vorgehen der Polizei
Dem widersprach SPD-Fraktionschef Andreas Dressel energisch. Selten hätten bei einem G20-Gipfel friedliche Demonstrationen so zentral stattfinden können, etwa 50 Aufzüge und Kundgebungen seien ohne Zwischenfälle abgelaufen und von der Polizei gesichert worden. „Unser Ordnungsrahmen ist das Grundgesetz.“ Gewalt jeder Art könne nicht geduldet werden. „Warum ist das so schwierig?“, fragte Dressel. Er hoffe, dass als „Lernprozess“ aus den G20-Krawallen am Ende ein breiterer Konsens gegen Gewalt in der Gesellschaft stehen werde. Karl-Heinz Dellwo wollte sich nicht von den Ausschreitungen distanzieren – man müsse vielmehr die Frage stellen, „was in einer Gesellschaft passiert, dass sich Widerstand nur in so einer Eruption entladen kann“.
Theaterchef Joachim Lux reicht dieser Ansatz nicht. Zwar sei es sogar notwendig, „geschlossenen Systemen“ wie der Polizei ein gesundes Misstrauen entgegenzubringen. Protest müsse jedoch auch politisch sein. „Was sie betreiben, ist keine Abwehr von Gewalt“, sagte Lux in Richtung Dellwo. Und zu den Vorwürfen in Richtung der Polizei: „Wenn schon vorher massiv Gewalt angedroht wird, und zwar nicht von der Polizei, dann kann man später die Beweislast nicht ständig umdrehen.“
Der frühere schleswig-holsteinische Innenminister Hans Peter Bull lobte zwar den Einsatz der 31.000 Polizisten beim G20-Gipfel ausdrücklich, stellte aber auch einige Entscheidungen der Führung infrage. „Möglicherweise hätte es bei einem anderen Vorgehen bei der Demonstration ,Welcome to Hell‘ weit geringere Schäden gegeben“, sagte Bull. In seiner Amtszeit habe er „mit Deeskalation sehr gute Erfahrungen gemacht“. Er maße sich aber kein endgültiges Urteil an: „Besserwisserei ist eine große Gefahr.“ Die Verantwortung für die Aufklärung liege nun beim Sonderausschuss in der Bürgerschaft.
Linke: Polizei verschweigt systematisch Informationen
Der Streit um geschwärzte Akten überschattet aber weiter die inhaltliche Arbeit in dem Gremium. Wie die Linke-Innenexpertin Christiane Schneider kritisiert, wurden auch bei einer neuerlichen Charge von Dokumenten wichtige Details vorab von der Polizei unkenntlich gemacht oder sogar komplett entnommen. Als Beispiel führte sie zwei Ordner an, in denen 73 von 88 beziehungsweise 60 von 87 Seiten entfernt worden seien. „Es drängt sich der Verdacht auf, dass etwas systematisch verschwiegen wird. Auf dieser Grundlage ist keine wirkliche Aufklärung möglich“, sagte Schneider.
Ein Polizeisprecher hatte bereits eingeräumt, dass „unter Zeitdruck“ mehr Stellen als nötig geschwärzt worden seien und ein „einheitlicher Qualitätsstandard“ gefehlt habe. Dies betreffe auch die zweite Charge von Dokumenten, die in der vergangenen Woche in den Lesesaal des Rathauses geliefert worden war. Generell sei die Polizei aber durch die Verfassung dazu verpflichtet, persönliche Daten und Informationen zur allgemeinen Polizeitaktik unkenntlich zu machen. „Wir wollen keineswegs etwas vertuschen“, sagte der Polizeisprecher.
Schwärzungen sollen hinterfragt werden
Nach Abendblatt-Informationen haben sich die Obleute darauf verständigt, die Schwärzung bestimmter Passagen zunächst einzeln zu hinterfragen. „Der naheliegende Schritt ist, eine genaue Erklärung für eine Schwärzung einzufordern“, sagt der Vorsitzende des Ausschusses, Milan Pein (SPD). „Bislang sind aber keine weiteren solcher Anliegen von Obleuten bei mir eingegangen – auch nicht von Frau Schneider“, sagte Pein dem Abendblatt.
In Ausschusskreisen heißt es, dass angesichts des „Dokumentenberges“ die Gefahr groß sei, eine geschwärzte Stelle nicht als entscheidend einzustufen, nicht weiter zu hinterfragen – und so ein wichtiges Detail in der Aufarbeitung zu versäumen. Andererseits würde die Überprüfung aller geschwärzten Stellen wohl Monate dauern. „Ich schließe eine generelle Überprüfung aber nicht aus“, sagt Milan Pein.