Hamburg. Zum ersten Mal gab es beim Abitur einen bundesweiten Aufgabenpool. Was die Bildungsreform für Hamburgs Schulen bedeutet. Eine Analyse.
Finn und Nicolaus haben es fast geschafft. Die beiden Niendorfer Abiturienten bereiten sich in diesen Tagen auf ihre mündliche Präsentationsprüfung Anfang Juli vor, danach haben sie ihr Abitur in der Tasche. Finn und Nicolaus sind zwei von rund 10.300 Hamburger Schülern, die in diesem Jahr ihr Abitur machen. Anfang Juli werden die allermeisten von ihren Schulen ins Leben entlassen.
Das Abitur 2017 ist eine Premiere: Zum ersten Mal lösen die Schüler in allen 16 Bundesländern zumindest zum Teil vergleichbar schwere Aufgaben. In der öffentlichen Diskussion hat sich sehr schnell der Begriff Zentralabitur eingebürgert. Für viele ist damit die Hoffnung verbunden, es könnte – endlich – gerechter zugehen beim Erwerb des begehrtesten Schulabschlusses, zum Beispiel zwischen Nord und Süd in der Republik.
Die Schüler nehmen die große Reform cool. Finn Gooßen, der 17-jährige Abiturient vom Gymnasium Ohmoor, fand die schriftlichen Abiturprüfungen einigermaßen leicht. Vor allem deshalb, weil sehr früh ganz klar war, was drankommt. Schon zu Beginn der Oberstufenzeit standen die großen Themengebiete, die in den wichtigen Fächern im Abitur geprüft würden, im Internet. „Da konnte ich mir sehr genau anschauen, worauf ich mich vorbereiten muss“, sagt Finn.
Auch Finns Mitschüler Nicolaus konnte sich beispielsweise in seiner Biologie-Abiturprüfung auf viel Material stützen. „Die Lehrerin hat sich die ganze Oberstufe hindurch am Plan orientiert und uns aufs Abitur vorbereitet“, sagt er. Das Material hat er fürs Abitur aufbereitet wie ein Lexikon.
Gleich schwere Prüfungen – ein fast historischer Durchbruch
Als die Kultusminister im Herbst 2012 beschlossen, 2017 in ganz Deutschland vergleichbar schwere Abiturprüfungen einzuführen, feierten sie dies als fast schon historischen Durchbruch. Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD), unter dessen Leitung als damaliger Präsident der Kultusministerkonferenz der Kompromiss zustande kam, lobte ihn als „großen Schritt für das deutsche Schulwesen“, der so vor wenigen Jahren noch kaum für möglich gehalten worden wäre.
Von Flensburg bis Garmisch-Partenkirchen, von Aachen bis Potsdam, sollen die Prüflinge nicht unbedingt die gleichen, aber gleich schwere Abschlussaufgaben bearbeiten. „Wir schaffen für das Abitur in zentralen Fächern die gleichen Leistungsanforderungen und sorgen für mehr Vergleichbarkeit zwischen den Bundesländern“, sagte Rabe damals.
Herzstück der Reform ist der neu eingeführte Aufgabenpool, aus dem sich alle Länder bedienen können. Das Berliner Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) hat für diesen Fundus, den es zunächst einmal nur für die Fächer Deutsch, Mathematik, Englisch und Französisch gibt, Aufgaben mit vergleichbar schweren Themenstellungen zusammengestellt – zum Teil auf der Basis von Vorschlägen aus den Ländern. Aber: Die Kultusministerien der Länder sind nicht dazu verpflichtet, sich aus dem Pool zu bedienen. Es haben sich in diesem Jahr alle im Prinzip dazu bekannt – nur in welchem Umfang, ist die Frage.
Die Vergleichbarkeit ist erst einmal eingeschränkt
In Mathematik haben die Schüler erstmals in 15 Bundesländern sogar am selben Tag, dem 3. Mai, die Prüfung geschrieben, wählen konnten sie nun nicht mehr unter unterschiedlichen Aufgaben. Allerdings haben die Länder die Möglichkeit, Fragestellungen so umzuformulieren, dass sie mit den im Unterricht des Landes gebräuchlichen Begriffen übereinstimmen. Schulsenator Rabe hatte frühzeitig erklärt, Hamburg werde an den Fragestellungen „kein Jota“ ändern. Hamburg hat in Mathematik auch sämtliche Aufgaben aus dem Pool entnommen.
Im Fach Deutsch wurden drei Aufgaben entnommen, von denen die Schüler eine bearbeiten mussten. Hier haben sich mit Hamburg immerhin sieben Länder für die Entnahme derselben Aufgaben entschieden und schaffen so untereinander vergleichbare Bedingungen. Ähnlich ist die Situation in Englisch, wo zwei Aufgaben, die die sieben Länder einsetzten, aus dem Pool stammten.
Von der Euphorie des Anfangs ist vor Ort nicht viel zu spüren; anstelle von Lob hagelt es derzeit Kritik an der Reform. Vor allem geht es darum, dass die Umstellung auf das Zentralabitur zu schnell gekommen ist, sodass die Schulen nicht ausreichend vorbereitet waren. Einmal mehr steht in Hamburg das Krisenfach Mathematik im Brennpunkt. Anfang des Jahres hatte eine Nachricht Eltern, Lehrer und vor allem Schüler schockiert: Die Vorabiturklausur in Mathematik, die nach den Bedingungen des Zentralabiturs geschrieben wurde, war mit einem landesweiten Notenschnitt von 4,1 grottenschlecht ausgefallen. Rabe ordnete daraufhin an, alle Zensuren um eine ganze Note anzuheben, damit die Schüler nicht unverschuldet Nachteile im Abitur erleiden.
Trotz der Pleite bei der Generalprobe hielt Rabe daran fest, alle Abituraufgaben für Mathe aus dem zentralen Pool zu nehmen. „Die Schulbehörde ist dabei, mit einer übereilten Einführung des zentralen Aufgabenpools mehr Probleme zu schaffen als zu lösen“, urteilte die Elternkammer. Möglich wäre auch eine schrittweise Übernahme der zentralen Aufgaben nach dem Vorbild anderer Länder. Auch die Vereinigung der Elternratsvorsitzenden Hamburger Gymnasien, grundsätzlich für ein bundesweit vergleichbares Abitur, kam zu deutlicher Kritik: „Uns drängt sich der Eindruck auf, dass auf dem Rücken der Schüler des Abiturjahrgangs 2017 aus politischem Ehrgeiz heraus ein zu großes Umsetzungstempo vorgelegt wird, ohne dabei die Vorbereitung im Unterricht ausreichend entwickelt zu haben.“
Lehrer erhalten Handzettel mit Hinweisen zur Benotung
Und was sagen die Schulpraktiker? „Die Aufgaben aus dem Pool sollen gleiches Niveau haben, aber das können wir nicht kontrollieren“, so Christian Siegel, bis vor einem Jahr Oberstufenleiter der Stadtteilschule Walddörfer in Volksdorf. Weil Hamburg alle Aufgaben aus dem zentralen Pool übernommen hat, sagt Siegel, der 20 Jahre lang Abiturthemen geprüft hat: „Hamburg hat nichts geändert. Herr Rabe will Primus sein. Damit ist er den zweiten Schritt vor dem ersten gegangen.“
Skeptisch ist auch Gerhard Joohs, bis 2016 Oberstufenleiter an der Heinrich-Hertz-Schule in Winterhude: „Die Aufgaben in Mathematik sind zu lang. Die Schüler müssen auch mal denken dürfen, und dafür brauchen sie Zeit.“ Die Schulbehörde hatte die Bearbeitungszeit für die Abitur-Klausur um eine halbe Stunde verlängert, aber das reicht aus Joohs’ Sicht nicht aus.
Ist das Versprechen des Zentralabiturs – mehr Gerechtigkeit bei den Leistungsanforderungen in den Ländern – angesichts so vieler Schlupflöcher, die sich den Ländern bieten, nur Augenwischerei? Nachfrage bei Prof. Wilfried Bos vom Institut für Schulentwicklungsforschung der Technischen Universität Dortmund, einem der renommiertesten deutschen Bildungsforscher. „Es gibt eine gewisse Vergleichbarkeit durch den gemeinsamen Aufgabenpool, aus dem sich die Bundesländer bedienen. Das ist der erste Schritt auf einem richtigen Weg“, sagt Bos. „Eine wirkliche Vergleichbarkeit gäbe es aber nur, wenn die Abiturienten in allen Bundesländern am selben Tag dieselben Aufgaben bearbeiten müssen.“
Nun sind die Aufgaben das eine, die Noten das andere. „Die Lehrer erhalten zu den Abi-Klausuren umfangreiche Handzettel mit Hinweisen, wie die Benotung zu erfolgen hat“, erläuterte Michael Just, Leiter der Grundsatzabteilung der Schulbehörde, bereits im November. In Hamburg wird jede Abiturklausur durch einen Fachkollegen an der gleichen Schule als Zweitkorrektor noch einmal benotet. Zudem werden zehn Prozent der Arbeiten nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und an einen externen Korrektor gegeben, also einen Fachlehrer an einer anderen Schule.
Prüfungsverordnungen von Land zu Land unterschiedlich
Allerdings wird nicht untersucht, ob es eine unterschiedliche Benotungspraxis etwa in Bayern und in Hamburg gibt. „Ein Austausch von Klausuren zwischen den Ländern, um sie wechselseitig zu benoten, ist im Moment noch nicht vorgesehen“, sagte Rabe. Zwischenfazit: Eine unterschiedliche Benotungspraxis zwischen den Ländern ist zwar vermutlich nicht gewollt, aber durchaus möglich oder sogar wahrscheinlich.
Und es wird noch vertrackter. Noch einmal Bildungsforscher Bos: „Um das Abitur vergleichbarer zu machen, müsste man auch die Zahl und Anrechenbarkeit der Kursleistungen, die aus den letzten zwei Jahren ins Abitur einzubringen sind, vereinheitlichen. Das wird in den Ländern sehr unterschiedlich gehandhabt.“ In der Tat: Die 16 Prüfungsverordnungen weichen stark voneinander ab, auch wenn die Kultusminister sich bemüht hatten, sie anzugleichen. Es geht um die Frage, wie viele und welche Pflichtkurse fürs Abitur einzubringen sind und wie sie gewichtet werden.
Da ergeben sich riesige Unterschiede: In Hamburg müssen die Schüler 32 Kurse einbringen – weit weniger als bei Spitzenreiter Brandenburg mit 42 Kursen oder Bayern und Baden-Württemberg mit 40 Kursen. Generell gilt: Je weniger Kurse sich ein Schüler anrechnen lassen muss, desto stärker kann er die guten Noten auswählen – und mehr schwache Leistungen fallen aus der Wertung heraus.
Kaum etwas bringt die krassen Unterschiede zwischen den Bundesländern besser auf den Punkt als das Beispiel eines fiktiven Schülers, den ein pensionierter Mathematiklehrer 2013 ersann und der seither durch die Diskussion geistert: Pauls Leistungen schwanken in den einzelnen Fächern stark; in Mathe und Deutsch ist er schwach, in Sport, Geschichte und Kunst hingegen stark. Mit ein und denselben Leistungen aber hätte Paul wegen der unterschiedlichen Prüfungsverordnungen von Land zu Land ganz anders abgeschnitten.
Es kommt mehr auf Vornoten als auf Prüfungsklausuren an
In Bayern, Schleswig-Holstein und Sachsen hätte Paul das Abitur mit der Note 2,3 bestanden, in Hessen mit 2,0. In Bremen und Nordrhein-Westfalen würde Paul sogar mit 1,7 und 1,8 ein Einser-Abitur ablegen – in Brandenburg und Sachsen-Anhalt wäre er hingegen nicht einmal zum Abitur zugelassen worden, weil er die nötige Kurspunktzahl nicht erreichen würde. Kaum vorstellbar, aber wahr. Auch die Hamburger Schulbehörde hatte die Berechnungen des Lehrers damals nachgeprüft und keinen Zweifel an der Richtigkeit.
Wozu das konkret führen kann, zeigt das Beispiel eines Schülers, von dem Gerhard Joohs berichtet: „Neun einzubringende Kurse – Deutsch, Mathe, Bio –, davon neun Noten ,Fünf‘, und trotzdem hatte er ausreichend andere Kurse, in denen er genug Punkte holte, und durfte Abitur machen. Das Abitur hat er dann glatt, aber nicht mit gutem Durchschnitt geschafft.“
Die Vornoten, also die Leistungen in den beiden Schuljahren vor der Abiturprüfung, sind für das Abschneiden der Absolventen unterm Strich entscheidend. Die schriftlichen und mündlichen Abiturprüfungen machen nur ein Drittel der Abiturnote aus; zwei Drittel hingegen setzen sich aus den Kursleistungen der elften und zwölften Klasse am Gymnasium beziehungsweise der zwölften und 13. Klasse an der Stadtteilschule zusammen.
Vergleichbarkeit hin oder her – ein bundesweiter Trend hat die Diskussion um das Abitur und seinen Wert in den vergangenen Jahren bestimmt: Die Zahl der Abiturienten ist geradezu sprunghaft angestiegen. Daran schließt sich unmittelbar die Frage nach den Ursachen an, häufig verbunden mit der sorgenvollen Ergänzung, ob der Preis für die rasant gestiegene Abiturquote eine Absenkung des Anforderungsniveaus sei. Mit anderen Worten: Ist das Abitur immer leichter geworden?
Abiturdurchschnittsnote im 20-Jahre-Vergleich leicht gestiegen
Die Antwort, das sei vorweggenommen, fällt auch Experten nicht leicht. Es zeigt sich, dass längst noch nicht alle Phänomene rund um das Abitur plausibel zu erklären sind. Zunächst einmal zu den Fakten: In Hamburg ist die Abiturquote – also der Anteil der Schulabgänger mit allgemeiner Hochschulreife an den Schulentlassenen eines Jahrgangs insgesamt – von 34 Prozent im Jahr 1996 auf 55,5 Prozent 2016 geklettert. Hamburg ist unter den Ländern damit Spitzenreiter, aber auch in den meisten anderen Ländern weist die Abi-Quote deutlich nach oben. Hinzu kommt, dass der Anteil der Einser-Abiture (Notenschnitt 1,0 bis 1,9) in Hamburg – wiederum nicht nur hier – überproportional angestiegen ist: von 16,12 Prozent 1996 auf zuletzt 24,16 Prozent.
Und ein dritter statistischer Befund gehört in diese Reihe: Obwohl deutlich mehr junge Menschen die Reifeprüfung ablegen, sind die Leistungen gemessen an den Ergebnissen auch insgesamt nicht gesunken. Im Gegenteil: Die Abiturdurchschnittsnote ist im 20-Jahre-Vergleich leicht gestiegen: von 2,5 im Jahr 1996 auf 2,44. Angesichts des langen Zeitraums muss man allerdings eher von leichten Schwankungen sprechen.
Dieser Trend bestätigt sich auch bei den schriftlichen Abiturprüfungen – mit einer wichtigen Ausnahme. „Parallel zum Anstieg des Abiturientenanteils lässt sich ein Absinken der schriftlichen Prüfungsergebnisse in Mathematik feststellen. In den Kernfächern Deutsch und Englisch bleibt das Notenniveau hingegen relativ stabil“, sagt Norbert Maritzen, Direktor des Hamburger Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ). Bei Maritzen und seinen Kollegen laufen alle Zahlen zusammen, die an und über Hamburger Schulen erhoben werden.
Im Fach Mathematik weist die Kurve deutlich nach unten: Vor fünf Jahren lag die Durchschnittsnote in der Mathe-Abi-Klausur noch bei 2,66, zuletzt bei 3,3. Hier zeigen sich auch erhebliche Unterschiede zwischen den Schulformen: Während die Gymnasiasten im Schnitt eine 2,9 erreichten, lag der Mittelwert der Stadtteilschüler nur bei 4,1. Vergleicht man insgesamt die Abiturleistungen, so zeigt sich auch hier, dass die Gymnasiasten im Schnitt besser abschneiden als die Stadtteilschüler: Bei der Gesamt-Durchschnittsnote kommen die Gymnasiasten auf 2,34, die Stadtteilschüler auf 2,61.
Stadtteilschulen für Anstieg der Abi-Quote verantwortlich
Dabei gibt es ein soziales Gefälle: In Regionen mit dem niedrigsten Sozialindex liegt die Abi-Durchschnittsnote bei 2,69, in den Gegenden mit besonders hohem Sozialindex und einem hohen Anteil sogenannter bildungsnaher Elternhäuser bei 2,21. „Die Ergebnisse zeigen, dass der Sozialindex der Schulen für die Schülerleistungen entscheidender ist als die Schulform“, sagt Maritzen. Stadtteilschulen liegen häufiger in einem sozial schwierigen Umfeld als Gymnasien. Und Gymnasien in Problemgebieten schneiden tendenziell schlechter ab als Standorte in sozial stabileren Gegenden.
Die Stadtteilschüler mögen in den Prüfungen schlechter abschneiden als Gymnasiasten – es sind die Stadtteilschulen, die für den deutlichen Anstieg der Abi-Quote in den vergangenen Jahren gesorgt haben. Seit 2010 hat sich die Zahl der Abiturienten an diesen Schulen von 1613 auf jetzt 3203 praktisch verdoppelt. Christian Siegel, der frühere Oberstufenleiter der Stadtteilschule Walddörfer, sieht das als Erfolg seiner Schulform an. „Von unseren Einser-Abiturienten hatten gut 30 Prozent keine Gymnasialempfehlung“, sagt Siegel. Es werde ja gern behauptet, dass an den Stadtteilschulen besser benotet werde als an Gymnasien. „Das stimmt aber so nicht. Viele Schüler starten in der Mittelstufe durch und machen weiter in der Oberstufe, wenn sie gemerkt haben, dass sie die richtigen Lernstrategien haben.“
Der Pädagoge hat auch eine Erklärung dafür, dass die Differenzen zwischen den (besseren) Vornoten und den (schlechteren) Prüfungsleistungen an den Stadtteilschulen größer sind als an Gymnasien. „Wir haben einen anderen Schülertypus als die Gymnasien. Bei uns sind viele Schüler in der Lage, ihr Kurzzeitgedächtnis so zu trainieren, dass sie die Klausuren gut bewältigen. Aber wenn im Abitur geballt die Anforderungen aus vier Semestern auf sie zukommen, dann brechen einige ein.“
Nicht klar ist, warum es so viel mehr Einser-Abiturienten gibt
Bleibt die Frage nach dem sprunghaften Anstieg der Einser-Abiturienten. Hier fallen die Erklärungen schwer. Noch einmal IfBQ-Direktor Maritzen: „Es gibt drei Möglichkeiten: Wird eine ,Eins‘ leichter vergeben? Für eine flächendeckende Absenkung der Standards spricht allerdings wenig. Ist die Leistungsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler größer geworden? Ist die Lehrerleistung im Unterricht, in der Vermittlung besser geworden? Wissenschaftlich belegbar ist das nicht, vielleicht spielen alle drei Faktoren eine Rolle.“
Prof. Jan Wacker vom Institut für Psychologie der Universität Hamburg plädiert in diesem Zusammenhang dafür, dass im oberen Leistungsbereich differenzierter benotet wird. Noten seien schließlich auch wichtig, um Leistung vergleichbar zu machen; sie erfüllten eine wichtige Funktion als Auswahlkriterium bei Hochschulzugang und Einstellungsverfahren. So habe sich gezeigt, dass eine gute Abiturnote ein Indikator für Studienerfolg sei. Im oberen Spektrum aber gehe diese Funktion verloren, wenn zwischen sehr guten und exzellenten Leistungen kaum noch unterschieden werde. Sprich: Bekommt jeder vierte Abiturient eine Einser-Note, werden die Unterschiede in dieser großen Gruppe nicht mehr richtig abgebildet. Folge: „Die Auswahlentscheidungen von Universitäten und Arbeitgebern werden zufälliger“, so Wacker.
Dafür, dass das Abitur in Hamburg im Laufe der Jahre nicht einfach leichter geworden ist, indem die Anforderungen abgesenkt wurden, spricht ein verblüffender Befund aus einer wissenschaftlichen Erhebung, die in der öffentlichen Debatte über den Wert des Abiturs ein wenig untergegangen ist: die KESS-12-Studie. KESS steht für Kompetenzen und Einstellungen von Schülerinnen und Schülern.
Zweimal – 2005 und 2011 – wurden allen damaligen Abiturienten an den Gymnasien kurz vor den schriftlichen Prüfungen exakt dieselben Aufgaben in Englisch, Mathematik und den Naturwissenschaften vorgelegt. Das Ergebnis: Die Leistungen des Abi-Jahrgangs 2011 waren sogar leicht besser als die ihrer Vorgänger, obwohl die Zahl der Abiturienten in diesem Zeitraum um 33 Prozent gestiegen war. Und: 2011 machte der erste G8-Jahrgang Abitur – ein Jahr früher als seine Vorgänger. „Die Leistungsspitze ist besser geworden, es erwerben mehr Schülerinnen und Schüler das Abitur, und trotz der deutlich höheren Abiturientenzahlen ist das Leistungsniveau nicht gesunken“, sagte Studienleiter Ulrich Vieluf damals.
Schulleiter: Früher waren Prüfungsaufgaben vom Lehrer abhängig
Allerdings – das ist der Wermutstropfen – sind seitdem sechs Jahre vergangen, und neuere Vergleichsstudien liegen nicht vor. Die Erfahrungen mit zentralen Prüfungen sind seitdem größer geworden. Nachdem Hamburg bereits 2005 für erste Fächer das landesweite Zentralabitur eingeführt und seitdem ausgebaut hat, gibt es seit 2014 das sogenannte Sechs-Länder-Abitur, dem sich 2016 zwei weitere Länder angeschlossen haben.
„Früher konnte jeder Lehrer seine eigenen Steckenpferde reiten“, sagt Christian Siegel. „Es gab zwar einen Rahmenplan, aber ob der Lehrer nur die darin vorgeschlagenen Themen behandelte oder auch eigene Schwerpunkte setzte, war relativ egal.“ Und Gerhard Joohs ergänzt: „Mit dem Zentralabitur in seinen unterschiedlichen Formen werden die Prüfungen vergleichbarer, weil es früher Auswüchse gab. Es gibt eben auch Unterschiede in der Lehrerschaft. Ein schlechtes Niveau fiel damals erst am Tage der Themenprüfung für das Abitur auf.“ Dann sei es zu spät gewesen. „Zum Schutz der Schüler sagte man dann immer, dass man das niedrigere Niveau hinnehmen muss, denn die Schüler können ja nichts dafür.“
Diese Beobachtung teilt auch Egon Tegge, über viele Jahre Schulleiter des Goethe-Gymnasiums in Lurup: „Früher waren die Prüfungsaufgaben wesentlich vom Lehrer abhängig. Es gab Kollegen, die einen sehr anspruchsvollen Unterricht mit Prüfungsaufgaben auf hohem Niveau machten, während es sich andere mitunter recht einfach machten.“ Und wie bewerten die Lehrer das Niveau der Aufgaben generell?
Forscher: Schwierigkeitsgrad durch Zentralabitur nicht abgesenkt
„Die Abituraufgaben sind heute komplexer und zugleich allgemeiner formuliert, früher ging es mehr in die Tiefe, und es wurde mehr spezielles Fachwissen verlangt“, sagt Tegge und bringt als ehemaliger Erdkundelehrer ein Beispiel. „Früher mussten in Erdkunde Gesteinsformationen auswendig gelernt werden. Heute müssen Schüler im Abitur zum Beispiel beim Thema Tourismus und wirtschaftliche Entwicklung ihr Wissen auf eine Region anwenden, die im Unterricht nicht durchgenommen wurde.“ Tegge hält diese Form der Kompetenzorientierung für die zeitgemäße Form der Bildung.
Skeptischer ist Gerhard Joohs. „Die Aufgaben im Zentralabitur sind sehr textlastig. Der Vorwurf ist berechtigt, dass man den Text manchmal nur verstanden haben muss, und man hat die Lösung.“ Damit tue man denen, die zu Hause kein Deutsch sprechen, keinen Gefallen. „Im Matheabitur sind Schüler mit Migrationshintergrund durchgefallen, weil sie nicht genug Deutsch konnten“, so Joohs.
Kinder sind heute intelligenter als früher
Norbert Maritzen kommt aus dem Blickwinkel des Wissenschaftlers zu folgendem Ergebnis: „Der Schwierigkeitsgrad der Abituraufgaben ist durch das Zentralabitur nicht abgesenkt worden. Die Qualität der Aufgaben der anderen Länder im bisherigen Sechser- bzw. Achter-Abitur entspricht der Qualität der Hamburger Aufgaben.“
Christian Siegel sieht das anders. „Beim Zentralabitur für alle muss man sich auf ein inhaltliches Minimum einigen. Meines Erachtens hat sich der Mittelwert im Anspruch bei den Aufgaben gesenkt, seitdem wir das Zentralabitur haben“, sagt Siegel. Dabei schließt er Mathematik aus, weil sich das Prüfungsformat mehrfach geändert habe.
Schüler in Hamburg hatten ein Jahr weniger Mathe als Bayern
Für den Einbruch bei den Mathematikleistungen hat Siegel, der Informatik und Mathematik unterrichtet hat, eine einleuchtende Erklärung: „Ein Problem ist die unterschiedliche Stundenzahl. Vor der jetzigen Mathematik-Initiative in Hamburg hatten die Bayern, ganz lapidar gesagt, ein Jahr mehr Mathe-Unterricht als die Hamburger, wenn man die verpflichtenden Stundenzahlen zusammenzählt.“ Mit der von Senator Rabe gestarteten Mathe-Initiative wird unter anderem die Zahl der Unterrichtsstunden in dem Fach in der Mittelstufe erhöht.
Zahlen helfen manchmal, Vorurteile zu entkräften. Auf jeden Fall sind es nicht die viel gescholtenen Präsentationsprüfungen, die den Hamburger Schülern das Abitur erleichtern. Wer will, kann anstelle einer mündlichen Abi-Prüfung zu Hause eine Präsentation zu einem vorher genau vorgegebenen Thema vorbereiten, wobei nicht kontrolliert werden kann, wer dabei hilft. Der Abiturient hält dann eine Viertelstunde einen Vortrag und muss anschließend 15 Minuten lang Fragen zum Vortrag beantworten. Laut Schulbehörde machen 82,2 Prozent der Abiturienten eine Präsentationsprüfung und erreichen im Schnitt die Note 2,6. Die restlichen 17,8 Prozent durchlaufen die klassische mündliche Prüfung. Notenschnitt: 2,6. Geschenkt ist die Präsentationsprüfung also offensichtlich nicht.
Zwischenfazit: Es gibt keine belegbaren Fakten für die These, dass das Hamburger Abitur im Laufe der Jahre immer leichter geworden ist. Eine andere Frage ist, ob die Reifeprüfung alles in allem leichter ist als in anderen Ländern – die Kernfrage nach dem Wert des Hamburger Abiturs. Seit Jahrzehnten hält sich der Vorwurf, in Hamburg seien die Ansprüche niedriger.
Niedrigere Anforderungen und mehr Anerkennung
„Damit muss man offen umgehen: Es ist in Hamburg und einigen norddeutschen Ländern leichter, Abitur zu machen. Für einen Notenschnitt von 1,0 muss man in Bayern viel mehr Einsen haben als in Hamburg. Die unterschiedlichen Belegauflagen sind ungerecht. Das ist schief“, sagt Gerhard Joohs.
Eine überraschend klare Einschätzung kommt auch von Bildungsforscher Bos. „Ich kenne anschauliche Praxisbeispiele aus dem eigenen Bekanntenkreis. In zwei Fällen besuchten Schüler Münchner Gymnasien und waren – man muss es so sagen – grottenschlecht“, erzählt Bos. Dann wechselten sie ein Jahr vor dem Abschluss in ein nördliches Bundesland und machten Abitur mit einer eins vor dem Komma. „Das lag aber nicht nur daran, dass es im Norden leichter war, auch wenn dies objektiv der Fall war, sondern hing auch damit zusammen, dass die Kinder sich zum ersten Mal in ihrer Schullaufbahn nicht als Versager fühlten. Niedrigere Anforderungen und mehr Anerkennung – dieser Doppelschlag hat es gebracht“, so Bos.
Aber einen wissenschaftlichen Vergleich der Abiturientenleistungen gebe es nicht. „Man darf übrigens Hamburg bei Abiturleistungen und -noten nicht mit Bayern insgesamt vergleichen, sondern mit der Großstadt München; ländliche Regionen schneiden in Bezug auf die Schülerleistung oft besser ab“, sagt der Wissenschaftler. Doch – Daten aus München rückt der Freistaat nicht heraus.
Alles in allem ist das Abitur in Hamburg leichter als in Bayern
IfBQ-Direktor Maritzen hofft auf die langfristige Wirkung des Zentralabiturs mit gemeinsamen Anforderungen, vergleichbaren Inhalten und einheitlichen Bewertungsschemata: „Das Zentralabitur ist auch ein konkreter Schritt zu mehr Verteilungsgerechtigkeit. Das bedeutet letztlich, dass das Abitur zum Beispiel in Hamburg und in Bayern gleich viel wert ist.“
Fazit: Das Abitur ist in Hamburg leichter zu erreichen als in den meisten anderen Ländern. Das hängt vor allem mit den Vornoten, die zwei Drittel der Abiturnote ausmachen, und den Belegauflagen für die Abi-Zulassung zusammen, weniger mit den Prüfungen selbst.
In der kommenden Woche wird Finn wissen, wie seine Abiturnote ausfällt. Er hofft auf einen Schnitt von 1,6. Der 17-Jährige möchte gern Jura studieren, am liebsten in Münster, weil die dortige Universität in diesem Fach einen sehr guten Ruf genießt; am liebsten gleich vom Herbst an. Ob das tatsächlich klappt, darüber entscheidet seine Abiturnote. Mit 1,6 bekäme er gleich einen Studienplatz in Münster. Klar, Schüler lernen fürs Leben und nicht fürs nächste Zeugnis. Aber Abiturnoten haben eben auch fürs Leben eine Bedeutung.