Hamburg. Wie arbeitet die Partei? Welches Selbstverständnis hat sie? Das Abendblatt hat sich dem Phänomen der Rechtspopulisten angenommen.

Wer sich in Hamburg auf die Suche nach der AfD macht, landet auf einem kleinen Werkhof in Wilhelmsburg. Direkt neben einem Kanal, am Rande einer Wiesenlandschaft, stehen dort zwei Häuser. In einem davon wohnt Nicole Jordan mit ihrer Familie. Ihr Arbeitszimmer teilt sich die 42-Jährige mit ihrem Mann, und wenn Besuch da ist, schlafen hier auch mal die Gäste. Das Büro hat aber noch eine Funktion: Es ist die offizielle Parteizentrale der AfD in Hamburg. Die Adresse steht als Postanschrift auf der Parteiseite im Internet. Das hat kürzlich auch eine „Antifaschistische Aktion“ herausbekommen und rund 100 Steckbriefe mit Jordans Foto und Adresse und den Namen auch ihres Mannes und ihrer minderjährigen Tochter und der Warnung „Achtung, Rassist_Innen im Viertel“ in Wilhelmsburg aufgehängt.

Da hat sich Nicole Jordan für ein paar Tage gefragt, ob sie ihre Adresse aus dem Netz nehmen soll – sich aber dann dagegen entschieden. Vor so etwas weiche man nicht zurück, hat sie sich gesagt. Auch nicht jetzt, wo die Nachbarn ein Plakat an den Balkon gehängt haben, quasi genau vor Jordans Nase, mit irgendeiner antifaschistischen Parole auf Englisch. Was sollte sie das stören?, hat sich Jordan gefragt – schließlich sei sie weder Faschistin noch Rassistin, sondern Schatzmeisterin der AfD Hamburg, einer demokratischen Partei, früher mal SPD-Mitglied und Betriebsrätin. In ihrem Arbeitszimmer sortiert Jordan auch nur die Post und führt Buch über die Finanzen. Die Mitgliederkartei pflegt der Bürgerschaftsabgeordnete Joachim Körner bei sich zu Hause in Wandsbek.

Es ist symptomatisch, dass die AfD mehr als drei Jahre nach ihrer Gründung noch keine Parteizentrale besitzt, sondern sich verstreut über Hamburg organisiert. Zum einen hat das damit zu tun, dass sich die Partei fortwährend bedroht fühlt – was angesichts derartiger Steckbrief-Aktionen und früherer Anschläge auf Wohnhäuser von AfD-Politikern kaum als reine Paranoia abgetan werden kann. Zum anderen hat die AfD aber auch personell und politisch seit ihrer Gründung kein Zentrum gefunden. Es ist noch immer schwierig festzustellen, für was sie eigentlich genau steht – wohl auch weil so extrem unterschiedliche Menschen für sie sprechen.

Kruse kam wegen der Euro-Krise zur AfD

Da ist auf der einen Seite Fraktionschef Jörn Kruse, der zur Gilde der Gründungsprofessoren gehörte, die wegen der Euro-Krise zur AfD stießen. 2015 warf er den Job des Hamburger Parteichefs hin – weil die wirtschaftsliberale Professorenschaft um Gründer Bernd Lucke aus der AfD gedrängt worden war. Seither lässt Ex-SPD-Mitglied Kruse keine Möglichkeit aus, seine angebliche Liberalität zu betonen und die nun rechtere AfD zu kritisieren. Mittlerweile muss er, weil er Teile des Parteiprogramms als „Schwachsinn“ bezeichnete, Interviewäußerungen vor Veröffentlichung der Parteiführung vorlegen. Eine einmalige Maßregelung für einen Fraktionschef.

Ihm selbst scheint das schnurz zu sein. Kruse betrachtet seinen Ausflug in die Politik sowieso eher spielerisch, quasi als persönliches Experiment. Er führt ein politisches Leben auf Distanz zu allen, außer zu sich selbst und seiner monatlichen Diät von rund 8000 Euro. Wie egal es ihm ist, was andere denken, hat er zu Jahresbeginn bewiesen, als er bei vollen Bezügen einfach für drei Monate mit seiner Frau nach Kalifornien zog. Seit er zurück ist, betont der stets gut gelaunte gebürtige Eutiner, wie sehr ihm das kalifornische „Multikulti“ gefallen habe. Das sei eine prima Sache, wenn sie „interaktiv“ funktioniere. Auch Deutschland habe ja von Zuwanderung profitiert.

Man weiß nicht so genau, wie man das mit den Thesen etwa von Hamburgs Parteivize Alexander Wolf zusammenbringen soll. Der kurzzeitige „Republikaner“ und CSU-Mann bezeichnet die AfD und sich selbst als „nationalliberal“ und bemüht gern die These von einem drohenden „Volksaustausch“, die bei Rechten hoch im Kurs steht. „Es gibt ja Intellektuelle, die sprechen schon von einem großen Austausch des Volkes“, erläutert Wolf in seiner kargen Wirtschaftskanzlei an der Moorweide. „Das Volk ist auch durch die Masseneinwanderung nach Jahrzehnten in seiner Zusammensetzung ein anderes als zuvor.“ Derzeit passiere das, „was Thilo Sarrazin so plastisch genannt hat: Deutschland schafft sich ab. Dagegen stehen wir auf.“

Der Chef der AfD-Jugendorgani­sation „Junge Alternative“, Krzysztof Walczak, bleibt beim Treffen im Café Paris trotzdem erst mal sitzen. „Ich habe ein sehr großes Problem mit einer multi-kulturellen Gesellschaft“, sagt der redegewandte, blässliche 21-Jährige. „Aber ich habe kein Problem mit einer multi-ethnischen Gesellschaft.“ Das hört sich nach Ideen der „Identitären Bewegung“ an, die sich als Reaktion auf das Buch von Thilo Sarrazin gründete und der es „nicht mehr in erster Linie um eine ethnische, wohl aber um eine kulturelle Homogenität“ gehe, wie Politikwissenschaftler Kai-Uwe Schnapp erklärt. „Wie die definiert wird, ist offen – über Kirchgang und Essen von Schweinefleisch dürfte es kaum funktionieren. Vielleicht über das Singen der Nationalhymne.“

Die AfD ist Teil einer Bewegung

Vermutlich hat auch Bernd Baumann nichts gegen das Singen der Hymne. Der wohlhabende Investor, der im Herbst als Nachfolger Kruses zum Parteichef gewählt wurde, tummelt sich aber lieber auf der Metaebene und bemüht die großen Linien der Welt­geschichte. Wenn man mit dem stets akkurat gescheitelten Endfünfziger beim Kaffee auf der Terrasse seines Hauses in Othmarschen sitzt, dann wird erst einmal alles in seine historische Dimension getunkt – fast so, als säße der Weltgeist persönlich neben einem in der trüben Mittagssonne. Die AfD ist dann Teil einer großen „Bewegung“ gegen die 68er (was wiederum AfD-Innenpolitiker Dirk Nockemann nicht nachvollziehen will, schließlich hätten die 68er auch viel alten Muff vertrieben). So interessant man Baumanns Welterklärungen finden kann: Vermutlich nützen sie aber nicht besonders viel, wenn man sich in der Bürgerschaft über Klohäuschen und Radwege auseinandersetzen soll.

Genau das ist es, was die anderen der AfD vorwerfen: Immerzu fordere sie, man solle sich mit ihr auseinandersetzen, aber dann sei sie in der Bürgerschaft quasi nicht präsent (siehe Artikel links). Der Vorwurf ist nicht völlig falsch – aber auch ein wenig unfair. Denn wenn die AfD-Fraktion auch mit vier Doktoren bei sieben Abgeordneten den höchsten Promotionsgrad aller Fraktionen aufweist: Parlamentserfahrung hat mit Ex-Schillianer Nockemann (er war auch mal in der SPD und CDU und holte 2008 mit der Zentrumspartei 646 Stimmen bei der Bürgerschaftswahl) nur ein Abgeordneter. Natürlich müssten die Neulinge sich erst einarbeiten, betont die AfD – wenn sie, wie etwa die Abgeordnete Andrea Oelschläger, aus dem eigenen Steuerberaterbüro kommend, nun in der Bürgerschaft wegweisende Reden über die Rettung der HSH Nordbank halten sollen.

Die FDP hat im Frühjahr ausgewertet, wie oft sich die AfD-Abgeordneten in Ausschusssitzungen zu Wort gemeldet haben. Das war erstaunlich selten, in manchen Ausschüssen haben die Parlamentsneulinge über Monate nicht ein einziges Mal den Mund aufgemacht. Auch ein aktueller Blick in die Parlamentsdatenbank zeigt, dass die AfD-Abgeordneten nicht zu den fleißigsten gehören. Nimmt man die schriftlichen Kleinen Anfragen an den Senat, bisweilen als „schärfstes Schwert der Opposition“ verulkt, dann liegt sie mit bisher 257 in dieser Wahlperiode gegenüber der CDU mit 1609, der FDP mit 1141 und der Linken mit 629 weit hinter den anderen Oppositionsfraktionen. Auch wenn man einberechnet, dass die AfD die kleinste Fraktion stellt, kommt sie nicht gut weg. Bei den Bürgerschaftsanträgen liegt sie mit 49 ebenfalls klar am Ende.

Allerdings hat es die rot-grüne Parlamentsmehrheit bisher auch nicht für nötig befunden, nur einen einzigen AfD-Antrag zumindest zur weiteren Diskussion in einen Ausschuss zu überweisen. Sie haben alles, was von der AfD kam, abgelehnt. Die Grünen sagen, das liege daran, dass die Anträge sämtlich absurd seien „wie der, die restriktive Feuerwaffenpolitik der EU zu lockern“. Zuletzt aber stellte die AfD Anträge zur Kapazitätsausweitung des Hauptbahnhofs, zur „besseren Überwachung salafistischer Moscheen“ oder forderte eine „Untersuchung zur Situation von Obdachlosen“. All das als Provokation abzutun, dürfte schwerfallen. Auch verweigern die anderen Fraktionen der AfD bis heute einen Platz in der Härtefallkommission, die sich aus humanitären Gründen für ein Bleiberecht ausreisepflichtiger Ausländern einsetzen kann. Bei den Wahlen bekommen die AfD-Kandidaten stets zu wenig Stimmen. Die anderen Fraktionen betonen, dass man Abgeordnete nicht zwingen könne, jemanden zu wählen. „Wir werden ausgeschlossen“, beklagt dagegen Fraktionschef Kruse.

Vorwurf, nur Empörung und Wut zu schüren

Die Neulinge treibt noch anderes um. „Ich bin ein wenig desillusioniert, wie Politik im Alltag funktioniert“, sagt etwa Detlef Ehlebracht. Der 53-Jährige ist Fachinformatiker bei Tesa, und wenn er mit Ohrring und Jeans per Fähre und Faltrad von Finkenwerder zur Arbeit nach Norderstedt fährt, wirkt er nicht, wie man sich einen AfD-Mann vorstellt. Vielleicht haben die anderen Fraktionen ihn deshalb zum Bürgerschafts-Vizepräsidenten gewählt. Enttäuscht von den Politikmechanismen ist er dennoch: „In Plenum und Ausschüssen geht es oft nur um Show“, sagt er. „Alles Argumentieren bleibt ohne Wirkung, weil die Mehrheit sowieso das durchzieht, was sie vorher schon entschieden hat.“

Die anderen Fraktionen werfen der AfD dagegen vor, sie benutze das Parlament nur, um draußen Empörung und Wut zu schüren. Draußen heißt in der Regel: im Internet, wo die AfD auch in Hamburg stärker aufgestellt ist als alle anderen – und jederzeit Hass- und Pöbelattacken gegen die Konkurrenz lostreten kann (siehe Artikel unten). Auch hier zeigt sich, wie disparat die AfD funktioniert: Die Doktoren aus der Bürgerschaft setzen über Facebook gern mal den Internetmob in Gang, die digitale Pegida, die im weltweiten Netz bekanntlich in keiner Hinsicht Grenzen kennt.

Dabei kann die AfD auch anders und analog. Die Veranstaltungsreihe „Fraktion im Dialog“ etwa ist meist gut besucht. Hier trifft nicht nur der Wutbürger auf die Parlamentsdoktoren. Es kommen auch Vortragsgäste und ehrlich Interessierte, und die Diskussionen sind keinesfalls nur platt oder polemisch. Zuletzt ging es um die Drogenszene am Hansaplatz, um Medien oder Islamismus. Dabei setzte sich Hamburgs Verfassungsschutzchef Torsten Voß im gut gefüllten Kaisersaal des Rathauses aber auch dem Zorn des Volkes aus. „Die Imame in den Moscheen leisten eine ausgezeichnete Präventionsarbeit“, sagte Voß, oder: „Wir leben Gott sei dank in einer demokratischen Gesellschaft, sodass man es auch begründen muss, wenn man jemanden festnimmt.“ Das führte immer wieder zu unwilligem Geraune, er rede alles schön, sagte eine Frau, und schließlich nahm sich ein aufgebrachter älterer Herr das Mikro und raunzte, er fühle sich von so einem Verfassungsschutz nicht beschützt. Wie solle das auch gehen, wo doch „unsere Noch-Kanzlerin sämtliche Grenzen offenhält“. Antwort Voß: „Der Verfassungsschutz schützt die Verfassung vor Extremisten. Ich habe nicht den Auftrag, und das ist auch nicht nötig, Sie vor Flüchtlingen zu schützen.“

Es ist nicht bekannt, ob der Frager erleichtert nach Hause ging. Für die AfD wäre es womöglich besser, wenn er wütend bliebe. Immerhin räumt auch Fraktionschef Kruse ein, dass sie eine „Protestpartei“ ist. Ob das zum Überleben reicht, kann auch er nicht wissen. „Wir stecken als Partei noch im Geburts­kanal“, sagt der Abgeordnete Ehlebracht. „Ähnlich wie bei den Grünen in den Jahren nach ihrer Gründung zwischen Realos, Fundis und anderen Splittergrüppchen. Wir werden sehen, welche Positionen sich bei der AfD durchsetzen.“

Auch das könnte ein Grund dafür sein, dass man die Partei in Hamburg nicht wirklich dingfest machen kann. Dass sie noch immer eine Partei ohne Zentrale und Zentrum ist. „Die AfD ist ein sehr fragiles Gebilde“, hat ein Insider der Partei, der nicht genannt werden will, zuletzt immer wieder betont. „Sehr fragil. Ich würde auf ihren Bestand nicht wetten. Oder jedenfalls nicht viel.“

Ein Hamburger Politikwissenschaftler dagegen wettet durchaus auf den Bestand der AfD. Ein Interview mit ihm über die Partei lesen Sie am Montag im Abendblatt und auf abendblatt.de.

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