Bürgermeister Scholz’ Pokerspiel um die neue Sozialsenatorin ging auf. Das Ergebnis ist jedoch ein wenig paradox.

Am Ende war es nur ein Anruf. Als Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) am Freitagnachmittag der vergangenen Woche aus dem Zug stieg – hinter ihm lagen drei Tage in Berlin mit dem Flüchtlingsgipfel bei Kanzlerin Angela Merkel (CDU) –, wählte er die Telefonnummer von Melanie Leonhard, der SPD-Bürgerschaftsabgeordneten, Kita- und Jugendpolitikerin. Die 38 Jahre alte Historikerin wusste natürlich sofort, worum es ging, oder besser gesagt: was die Stunde geschlagen hatte.

Seit Wochen, seit Monaten war es eine offene Frage, wer Nachfolgerin von Arbeits- und Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) werden würde. Scholz hatte sich frühzeitig festgelegt, dass eine Frau den Knochenjob mit Dienstsitz im schmucklosen Bürogebäude an der Hamburger Straße übernehmen sollte, damit die schlechte Frauenquote im rot-grünen Kabinett etwas aufgebessert würde. Die Namen von drei Sozialdemokratinnen standen zur Diskussion: Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit, Kita-Expertin auch sie, die stellvertretende Landesvorsitzende Inka Damerau und eben Leonhard, die sich unter anderem als SPD-Obfrau im Sonderausschuss zum Methadon-Tod des elfjährigen Mädchens Chantal einen Namen gemacht hatte.

Scholz hatte die Spekulationen lange laufen lassen. Doch nun drängte die Zeit mächtig. Am Mittwoch dieser Woche würde Scheele, der als Vorstandsmitglied zur Bundesagentur für Arbeit nach Nürnberg wechselt, seinen letzten Arbeitstag haben. Am Tag darauf, dem gestrigen Donnerstag, sollte die neue Senatorin gewählt werden. So sah es die Rathaus-Strategie vor, und so ist es ja auch gekommen. Nur fehlte am Freitag eben noch die Kandidatin.

Leonhard: „Wie stellst du dir das vor?“

Scholz, der auch Hamburger SPD-Chef ist, erkundigte sich telefonisch bei Vize-Parteichefin Leonhard, ob sie kurzfristig Zeit hätte. Als die beiden bald darauf zusammen saßen, eröffnete Scholz Leonhard, dass er sie als Senatorin berufen wolle. Schon einmal, im Sommer, hatte Leonhard Nein gesagt – auch mit Blick auf ihren einjährigen Sohn. Das hat sie am Montag eingeräumt, als sie den Abgeordneten der Grünen-Fraktion Rede und Antwort stand. Doch jetzt war der Druck auf die junge Abgeordnete sehr hoch.

Kommentar: Leonhard ist eine mutige Entscheidung

„Wie stellst du dir das vor?“, fragte sie Scholz. Nicht einmal eine Woche Zeit bis zur Wahl. Das bedeutete, innerhalb weniger Tage die Kinderbetreuung komplett umzustellen. Das ist die familiäre Seite. Die Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration, wie sie offiziell heißt, zu leiten, ist ein verzehrendes Amt. Die Dimension der Flüchtlingsthematik allein sorgt schon für genug Arbeit. Aber die Behörde ist ein Bauchladen: Da gibt es den krisengeneigten Bereich der Jugendhilfe, die Kita-Sparte mit den protestgeübten Erzieherinnen und Eltern und darüber hinaus die Felder Arbeitsmarkt, Rehabilitation und Eingliederungshilfe.

Scheele empfahl Leonhard

Am Sonnabendmorgen traf sich Leonhard zum Kaffee mit Noch-Senator Scheele. Die Historikerin aus Harburg war auch Scheeles erste Wahl, er hatte sie Scholz ausdrücklich empfohlen. Jetzt ging es darum, Überzeugungsarbeit zu leisten. Er würde ihr, so Scheele zu Leonhard, eine sehr gut funktionierende und krisengestählte Behörde übergeben. Entscheidend dafür, dass sich Leonhard doch noch in die Pflicht nehmen ließ, war nicht zuletzt, dass vor allem Staatsrat Jan Pörksen wie auch die Mitarbeiter der Senatorenetage an Bord bleiben würden.

So passierte etwas, womit viele gar nicht mehr gerechnet hatten. Am Freitagmittag hatte man sich in der Sozialbehörde schon darauf eingerichtet, dass die neue Senatorin Inka Damerau heißen würde. Und die stellvertretende SPD-Landeschefin wäre wohl bereit dazu gewesen. Auch in der SPD sickerte durch, dass die Wahl auf Damerau hinauslaufen werde. So wäre es auch gekommen, hätte nicht Leonhard im letzten Moment doch noch zugestimmt.

Mit einer Einschränkung: Die Akzeptanz von Damerau in der SPD wäre vermutlich deutlich geringer gewesen. Es hätte durchaus das Risiko für Scholz bestanden, bei der Wahl seiner Senatorin in der Bürgerschaft eine Schlappe zu erleiden. Schon Tage zuvor war in der SPD die Devise ausgegeben worden, dass die geheime Wahl nicht als Chance zur Begleichung alter Rechnungen genutzt werden dürfe. Viele verstanden das als Hinweis auf Damerau, die als Protagonistin des früheren linken SPD-Flügels für manche Vertreter des alten Mitte-Rechts-Lagers kaum wählbar ist. In Personalfragen flammt das alte Lagerdenken noch manchmal auf.

Scholz fuhr geschickte Doppelstrategie

Dasselbe Problem hätte auch Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit gehabt – nur mit umgekehrten Vorzeichen. Veit entstammt der SPD Mitte, dem eher konservativen Kreisverband mit dem meinungsstarken Vorsitzenden Johannes Kahrs. Die Sozialbehörde war über Jahrzehnte die Zitadelle der Parteilinken. Die Vorstellung, dass nun ausgerechnet eine Mitte-Genossin in die Hamburger Straße einzöge, ging manchen denn doch zu weit. Dabei wäre auch Veit wohl bereit für den Wechsel in den Senat gewesen.

Am Ende hat Scholz, der sich nur mit wenigen Vertrauten wie SPD-Bürgerschaftsfraktionschef Andreas Dressel abstimmte, eine geschickte Doppelstrategie gefahren: Indem er sich sehr spät entschied, vermied er eine lange Diskussion über die Kandidatin in Partei und Öffentlichkeit. Und je länger die Ungewissheit dauerte, desto größer wurde der Druck auf Melanie Leonhard. Ein personalpolitisches Pokerspiel nach Art des Bürgermeisters.

Das Ergebnis ist gleichwohl ein wenig paradox: Die beiden, die es gern geworden wären, durften nicht, und die, die eigentlich nicht wollte, ist es nun.