Hamburg. Hamburgs Erster Bürgermeister Scholz schlägt eine Änderung des Ausländerrechts vor, um den Zustrom der Balkan-Flüchtlinge zu begrenzen.

Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) sieht in der Stadt eine „sehr hohe Akzeptanz“ für die Unterbringung von Flüchtlingen. Im Interview mit dem Abendblatt räumt Scholz die Schwierigkeit ein, immer neue Unterkünfte zu finden. Um den Zusammenhalt der Gesellschaft auf Dauer zu gewährleisten, hält der Bürgermeister ein „stärkeres Wirtschaftswachstum“ als in den vergangenen Jahrzehnten üblich für nötig.

Hamburger Abendblatt: Hat Sie das Ausmaß des Zustroms von Flüchtlingen überrascht?

Olaf Scholz: Alle sind von der großen Zahl von Flüchtlingen, die nach Europa, Deutschland und Hamburg kommen, überrascht. Niemand konnte die heutige Entwicklung vor ein paar Jahren vorhersehen. Eine Zahl zur Erinnerung: Vor vier Jahren noch hatten wir in der Erstaufnahme in Hamburg ein wenig mehr als 400 Plätze – das hat auch gereicht. Und jetzt denken wir darüber nach, wie es 10.000 Plätze allein für die Erstaufnahme sein können.

Ist die Verwaltung von der Dimension des Problems überrascht worden?

Scholz: Die Verwaltung hat sich sehr schnell auf die neue Situation eingestellt. Es gelingt, Unterkünfte zu schaffen. Aber: Bei den Wohnungen hat Hamburg die geringste Leerstandsquote in Deutschland. Das führt auch dazu, dass wir nicht einfach irgendwo etwas anmieten können, sondern dass wir auf Flächen, die bis vor Kurzem nicht dafür vorgesehen waren, Container und Pavillons aufstellen. Und manchmal, wenn über Nacht sehr viele Menschen kommen, auch Zelte. Das soll natürlich kein Dauerzustand sein. Klar ist, dass es eine große und ambitionierte Aufgabe ist. Aber die Verwaltung kann das bewältigen.

Bislang gibt es eine weit verbreitete Akzeptanz für Flüchtlinge in der Stadt. Haben Sie die Sorge, dass sich das in den kommenden Monaten ändern könnte?

Scholz: Nein. Wir haben eine völlig andere Situation als vor einigen Jahrzehnten, als die Zahl der Flüchtlinge wegen des Kriegs im ehemaligen Jugoslawien sprunghaft angestiegen war. Die Akzeptanz ist gegenwärtig sehr hoch. Das hält auch an. Wenn Behörden und Regierung ihre Aufgaben wahrnehmen, können wir auch auf Verständnis hoffen.

Es gibt aber auch Negativbeispiele. In Jenfeld hat ein Mob Helfer des Deutschen Roten Kreuzes daran gehindert, Zelte für Flüchtlinge aufzustellen.

Scholz: Wenn eine große Veränderung auf eine Gesellschaft zukommt, dann ist das nie leicht. Aber wir sollten uns nicht von Einzelfällen irritieren lassen, sondern können zur Kenntnis nehmen, dass sich meistens zu einer neu geschaffenen Flüchtlingsunterkunft von selbst eine Unterstützerinitiative bildet.

Fehlt es manchmal an der nötigen Kommunikation und Information im Vorfeld?

Scholz: Alle Beteiligten, die Bezirksämter, die Innen- und Sozialbehörde und der Unterkunftsbetreiber fördern und wohnen, informieren so zügig, wie es irgendwie geht. Alle geben das Beste. Es wird bestimmt immer mal wieder kleine Pannen geben. Da hoffe ich aber auf das Verständnis.

Auf der anderen Seite gibt es vornehmen Protest, etwa auf juristischem Weg bei der Sophienterrasse in Harvestehude. Sie haben in dieser Streitfrage immer auf klare Kante gesetzt. Bleibt das so?

Scholz: Das bleibt so. Das muss auch so bleiben. Es kann doch nicht sein, dass überall, wo die Einkommensverhältnisse etwas besser sind, schnell beauftragte Anwälte gegen die Errichtung von Flüchtlingsunterkünften vorgehen und die Unterkünfte dann ausschließlich in Stadtteilen errichtet werden, wo das nicht der Stil ist. Ich vermute, dass wir praktisch in jedem Stadtteil Unterkünfte für Flüchtlinge einrichten müssen. Und wir dürfen nicht darauf spekulieren, dass die Zahl derjenigen, die zu uns kommen, bald sinken wird.

Es drängt sich der Eindruck auf, dass sich Senat und Bezirk bei der Sophienterrasse durch die Änderung des Bebauungsplans den rechtlichen Rahmen so hinbiegen, dass eine Flüchtlingsunterkunft dort möglich ist.

Scholz: Wir können Planrecht ändern. Das tun wir übrigens jeden Tag: um etwa Wohnungen und Straßen zu bauen oder Fabriken zu errichten. Natürlich auch, um soziale Einrichtungen in der Stadt unterzubringen. Dazu gehören auch Flüchtlingsunterkünfte.

Allerdings kostet der Stillstand an der Sophienterrasse sehr viel Geld. Außerdem geht es nur um 220 Plätze. Verschwenden Sie nicht zu viel Energie auf Symbolpolitik?

Scholz: Nein. Es geht nicht um Symbolpolitik. Es geht aber sehr wohl ums Prinzip. Es kann nicht sein, es darf nicht sein und es wird nicht so sein, dass es einzelne Stadtteile gibt, in denen ein Teil der dortigen Bürger eine Unterkunft verhindert. Die Mehrheit hat im Übrigen kein Problem mit der Unterkunft.

Nun bekommen Sie auch noch Gegenwind von den eigenen Parteifreunden. Andy Grote, Bezirksamtsleiter in Mitte, sieht den Stadtteil Wilhelmsburg überproportional belastet. Gibt es eine soziale Schieflage bei der Verteilung von Unterkünften über die Stadt?

Scholz: Dass es mal ruckelt, wenn schwierige Sachen vorangebracht werden müssen, ist nicht ungewöhnlich. Da darf man auch niemandem böse sein, der dann mal seinen Unmut ausdrückt. Das gehört dazu, und dafür habe ich alles Verständnis. Wir geben uns große Mühe, dass die Flüchtlinge über die ganze Stadt möglichst gleichmäßig verteilt werden.

Muss sich die Stadt angesichts des Pro­blemdrucks von den Standards der Unterbringung verabschieden?

Scholz: Es ist schwierig, Vorhersagen zu machen. Wir schauen uns heute Flächen an, die wir vorher zweimal nicht genommen haben. Allerdings bemühen wir uns, die Standards in der Folgeunterbringung, die nicht wirklich sehr bequem ist, aufrechtzuerhalten.

Muss man nicht auch auf landwirtschaftliche Flächen ausweichen, die nicht so gut erschlossen sind?

Scholz: Die sind in Betracht zu ziehen. Die Stadt insgesamt ist so erschlossen, dass man überall öffentliche Verkehrsmittel erreichen kann und überall die Möglichkeit besteht, dass Kinder zur Schule oder in die Kita gehen können. Ein Unterschied zu früher ist auch, dass es heute ein viel größeres Angebot an Kitas und Krippen gibt. Und wenn die Zahl der Flüchtlinge, die hierbleiben, größer wird, dann werden wir eben die Zahl der Plätze ausweiten. Das Angebot wird sich der Nachfrage anpassen. Das Gleiche gilt für die Schulen. Dann stellen wir mehr Lehrer ein.

Viele Flüchtlinge reisen über einen sicheren Drittstaat ein, müssten streng genommen dorthin zurückgeschickt werden. Das geschieht aber offensichtlich nicht oder in geringem Umfang. Warum?

Scholz: Die meisten geben an, keine Papiere zu haben. Und die Reisewege, oftmals durch Schleuser organisiert, sind naturgemäß nicht dokumentiert. Daher ist der Nachweis, in welches Drittland unter Umständen eine Rückführung erfolgen müsste, oft nicht möglich. Eine Überstellung in einen Drittstaat erfolgt aber nur dann, wenn sich im Laufe des Asylverfahrens herausstellt, dass bereits in einem anderen EU-Land ein Antrag gestellt wurde.

Was halten Sie von der Forderung, die Staaten des Westbalkans zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären?

Scholz: Das ist eine vernünftige Idee. Diese Staaten streben in die EU. Aus solchen Ländern kann es keine Flüchtlinge geben. Sonst dürften sie nicht in die EU. Diejenigen, die sich aus den westlichen Balkanstaaten wie zum Beispiel Serbien, aus Albanien oder dem Kosovo in Deutschland melden und Asyl beantragen, haben deshalb kaum eine Chance auf Anerkennung. Denn in diesen Ländern herrschen keine Verhältnisse, die zu von unseren Gesetzen anerkannten Fluchtgründen führen. Übrigens haben wir jetzt mit der Bundesregierung vereinbart, dass die Zahl der Mitarbeiter beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf 4000 aufgestockt wird, damit es zu schnellen Entscheidungen und in diesen Fällen Ablehnungen kommen kann.

Noch einmal: Warum gelingt es nicht in stärkerem Maße, abgelehnte Asylbewerber in ihre Heimatländer zurückzuführen?

Scholz: In Hamburg gelten etwa 7000 Personen als ausreisepflichtig. Von denen dürfen wir aber viele nicht gegen ihren Willen ausreisen lassen. Aus unterschiedlichen Gründen: weil man in die jeweiligen Länder wegen der dortigen politischen Lage nicht zurückführen darf, weil Krankheitsfälle vorliegen oder weil die Länder den Flüchtling nicht zurücknehmen wollen, weil er ihnen angeblich unbekannt ist. Bei der kleineren Gruppe derjenigen, die wir zurückführen können, wollen wir das auch tun. Wir werden deshalb die Zahl der Mitarbeiter, die sich mit Rückführungen beschäftigen, von zehn auf 30 erhöhen.

Müssen noch andere Möglichkeiten geschaffen werden, um den Zustrom aus den Balkanländern zu verhindern?

Scholz: Aus fast allen Ländern des westlichen Balkans, nämlich denen, die zum ehemaligen Jugoslawien gehörten, kamen bis in die 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts die sogenannten Gastabreiter. Wir hatten sogar ein Anwerbeabkommen. Daran kann man ja anknüpfen. Wer also aus den westlichen Balkanstaaten stammt und einen Arbeitsplatz in Deutschland nachweisen kann, der sollte aus meiner Sicht diesen auch antreten können. Das werden nicht viele sein, aber es wird viele abhalten, den Weg über das Asyl zu gehen. Ein Vorteil einer solchen Regelung wäre übrigens, dass aus ihr keine Ansprüche auf soziale Leistungen entstehen. So ist es ja auch in der EU, in der alle Arbeitnehmer in jedem Land nach einer Arbeit suchen können. Aber wenn sich jemand, der in Mailand oder Barcelona wohnt, in Hamburg nach Arbeit umschaut, hat er keinen Anspruch auf zum Beispiel Arbeitslosenunterstützung. Dagegen sind wir bei jedem Asylbewerber verpflichtet, ihn unterzubringen und zu versorgen.

Mit welchen Ausgaben für die Unterbringung und Betreuung von Flüchtlingen rechnen Sie in diesem Jahr?

Scholz: Es wird insgesamt um mehrere Hundert Millionen Euro gehen, die wir zusätzlich aufwenden müssen, um diese Herausforderung zu bewältigen. Wir werden dazu einen entsprechenden Beschluss im Herbst fassen. Konkreter kann ich das jetzt noch nicht sagen, weil wir nicht wissen, wie sich die Lage bis dahin entwickelt.

Was bedeutet die verstärkte Zuwanderung langfristig?

Scholz: Aus meiner Sicht werden wir, um den Zusammenhalt der Gesellschaft zu gewährleisten, alles dafür tun müssen, dass wir ein stärkeres wirtschaftliches Wachstum erreichen, als dies in den letzten Jahrzehnten in Deutschland üblich war. Denn es soll ja so sein, dass jeder, der hier lebt, arbeitet und seinen Beitrag zum Sozialprodukt leistet. Es müssen zusätzliche Arbeitsplätze entstehen, und wir werden in Hamburg sogar beim Wohnungsbau eine Schippe zulegen müssen. Wachstum ist das Gebot der Stunde.

Wie soll das Wachstum entstehen?

Scholz: Wir werden alle Ventile öffnen müssen. Wir können uns nicht viele Betulichkeiten leisten, weil wir keine Zeit haben. Ich werbe erst einmal um Verständnis in dieser Frage. Es gibt im Übrigen einen Zusammenhang zwischen Wachstum der Bevölkerung und Wachstum der Wirtschaft. Das muss unser gemeinsamer Ehrgeiz sein. Diejenigen, die eine skeptische Haltung zum Wachstum haben, müssen diese Haltung überdenken. Insbesondere, wenn es diejenigen sind, die meinen, dass man etwas für Flüchtlinge tun muss.

Ihrem grünen Koalitionspartner ist das Streben nach Wirtschaftswachstum ja nicht in die Wiege gelegt. Haben die Grünen das denn schon verinnerlicht?

Scholz: Wir sprechen darüber oft, ja. Die Welt bietet immer neue Herausforderungen.

Flüchtlinge beziehen Zelte in Jenfeld

Die ersten Flüchtlinge sind in der Unterkunft am Jenfelder Moorpark angekommen
Die ersten Flüchtlinge sind in der Unterkunft am Jenfelder Moorpark angekommen © Henrik Jacobs
Der Jenfelder Moorpark wurde in der vergangenen Woche kurzfristig zu einer Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert
Der Jenfelder Moorpark wurde in der vergangenen Woche kurzfristig zu einer Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert © TV_NewsKontor
In den 50 Zelten können bis zu 800 Menschen leben
In den 50 Zelten können bis zu 800 Menschen leben © TV_NewsKontor
Wie lange die Unterkunft bestehen bleibt, war zunächst unklar
Wie lange die Unterkunft bestehen bleibt, war zunächst unklar © TV_NewsKontor
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