Schon Anfang der 1990er Jahre hatte die Stadt Hamburg mit einer riesigen Flüchtlingswelle zu kämpfen. Damals kamen mehr als 11.000 Menschen in die Stadt.
„Ich bin stinksauer“, sagte der Sozialsenator. Der Bezirk Wandsbek hatte sich geweigert, dringend benötigte Flächen für die Unterbringung von Flüchtlingen zu benennen. „Hier sehen wir uns einer Kampagne ausgesetzt, die natürlich Wirkung zeigt“, so der Senator. „Ein Gemeinwesen wie Hamburg muss das Problem gemeinsam bewältigen. Die Haltung, überall, nur nicht vor meiner Tür, akzeptiere ich nicht.“
Starke Worte, aber historisch, wenngleich mit aktuellem Bezug. Der Sozialsenator hieß Ortwin Runde, und der Sozialdemokrat und spätere Erste Bürgermeister empörte sich damals, im Jahr 1991, auf dem Höhepunkt einer starken Zuwanderung von Bürgerkriegsflüchtlingen vom Balkan, Asylbewerbern und Aussiedlern. Es war wohl kein Zufall, dass die damalige Wandsbeker Bezirksamtsleiterin Ingrid Soehring der im Rathaus oppositionellen CDU angehörte. Ein bisschen wider den Senatsstachel zu löcken ist Teil des politischen Geschäfts.
In diesen Tagen müssen die sieben Bezirksamtsleiter der Sozialbehörde wieder Flächen benennen, die für die Unterbringung von Flüchtlingen geeignet sind. Zwar ist die Zuwanderung nicht mit den Zahlen Anfang der 90er-Jahre vergleichbar, als innerhalb von zwölf Monaten mehr als 11.000 Menschen in der Hansestadt Zuflucht suchten. Aber in den ersten sieben Monaten dieses Jahres kamen immerhin mehr als 1700 Flüchtlinge, nachdem es 2012 insgesamt 2200 und 2008 nur 718 Frauen, Männer und Kinder waren. Nach Jahren des Abbaus der Flüchtlingsunterkünfte müssen nun sehr schnell neue Kapazitäten geschaffen werden.
Es waren denn auch sehr eindringliche Worte, mit denen Innensenator Michael Neumann (SPD) seine Kollegen am Dienstag in der Senatorenvorbesprechung auf die zunehmend prekäre Lage in den Flüchtlingsunterkünften aufmerksam machte. Neumann hatte am Montag unter anderem die Einrichtung zur Erstaufnahme an der Sportallee in Groß Borstel besucht. Statt 250 Flüchtlingen, für die das Haus eigentlich ausgestattet ist, leben nun mehr als 800 Menschen dort. Allein am Wochenende kamen auf einen Schlag 91 Eritreer hinzu. „Wir haben dort eine angespannte Situation“, sagte Neumann. Er sei aber „voller Stolz“ angesichts des Einsatzes und Engagements der Mitarbeiter der Erstaufnahme, für die die Innenbehörde zuständig ist.
Schon vor gut 20 Jahren schnellten die Zuwandererzahlen einmal nach oben
Der SPD-geführte Senat will zügig allein die Kapazitäten für die Erstaufnahme auf 1300 Plätze steigern. Hinzu kommen noch einmal 200 Plätze in Nostorf (Mecklenburg-Vorpommern). „Wir müssen uns gewaltig anstrengen. Die Lage ist so, dass wir die Ärmel aufkrempeln müssen“, sagte Neumann. Anders als zu Beginn der 90er-Jahre gebe es wesentlich weniger Flächen, die für eine Flüchtlingsunterkunft geeignet seien. Damals leer stehende Kasernen seien inzwischen abgerissen und die Flächen neu bebaut worden. Außerdem führe das Wohnungsbauprogramm des Senats zwar erfreulicherweise zu mehr Wohnungen, aber auch dazu, dass es weniger freie Flächen gebe.
Die erhebliche Kapazitätssteigerung, die sich der Senat bei den Flüchtlingsunterkünften vorgenommen hat (auch bei den Folgeeinrichtungen, für die wiederum die Sozialbehörde zuständig ist), zeigt, wie ernst das Thema genommen wird. Übrigens auch aus einem historischen Grund: Vor 20 Jahren, als innerhalb weniger Monate die Zuwandererzahlen nach oben schnellten, wurde die Stadt davon überrascht. Weil zeitweise für mehr 25.000 Menschen ein Obdach gefunden werden musste, mietete der Senat sogar Hotels und Pensionen an, um Flüchtlinge und Asylbewerber unterzubringen – ein besonders teurer und umstrittener Weg.
Damals wurden auch Hotelschiffe wie die „Bibby Endeavour“ gechartert und vor Neumühlen vertäut. Dort lebten mehrere Hundert Flüchtlinge im Zuge der Erstaufnahme auf engem Raum, die hygienischen Zustände waren zeitweise sehr bedenklich. Einmal gab es deswegen sogar einen Hungerstreik an Bord. Die Anwohner beschwerten sich über eine Zunahme der Kriminalität und besonders des Drogenhandels.
Seit dem Machtverlust 2001 reagiert die SPD bei Sicherheitsfragen sensibel
Seit dem Machtverlust der Sozialdemokraten mit dem Regierungswechsel 2001, für den der von vielen als schlecht wahrgenommene Zustand der inneren Sicherheit entscheidend mitverantwortlich war, reagiert die SPD auf diesem Feld ausgesprochen sensibel. Andererseits geht es darum, Szenen mit rechtsextremen Ausschreitungen wie jetzt rund um das Asylbewerberheim in Berlin-Hellersdorf zu vermeiden. Auch wenn die Hamburger in der Vergangenheit nicht dazu neigten, rassistische Parolen vor Flüchtlingsunterkünften zu skandieren, steht dem Senat reichlich Überzeugungsarbeit bevor.
Wie schnell die Situation vor Ort eskalieren kann, hat das Beispiel der Unterbringung von drei ehemaligen Sicherungsverwahrten in Jenfeld Anfang 2012 gezeigt. Viele Nachbarn fühlten sich in ihrer Sicherheit bedroht, und es gelang den Politikern nicht, für Akzeptanz zu sorgen. Mit erheblichem Polizeiaufwand mussten die Bürger vor den entlassenen Straftätern geschützt werden, und erst nach und nach beruhigte sich die Lage in Jenfeld.
Bürgermeister Olaf Scholz, der 2001 letzter SPD-Innensenator vor dem Sturz in die Opposition war, hat intern längst die Losung für die Suche nach weiteren Plätzen für Flüchtlingsunterkünfte ausgegeben: „Ja, es ist ein Problem, aber es ist lösbar.“ Das heißt durch die Blume, Scholz erwartet zügig Vorschläge und keine langen Erörterungen von Bedenken.
Besonders gut haben offensichtlich die sieben Bezirksamtsleiter zugehört. Bereits in dieser Woche lieferten sie erste Vorschläge für weitere Standorte (siehe Seite 7). Nicht von ungefähr: In kurzer Zeit hatte Scholz dafür gesorgt, dass die vier Bezirke, die noch keinen Verwaltungschef mit SPD-Parteibuch hatten, einen bekamen. Die berechtigten Filzvorwürfe ertrug Scholz stoisch. Nun zeigt sich die Loyalität der Bezirksamtsleiter. Scholz kann gewissermaßen „durchregieren“ und muss keinen hinhaltenden Widerstand befürchten wie einst Ortwin Runde.