Am Sonnabend hat Birte Gutzki-Heitmann entbunden, am Montag stimmte die 33-Jährige im Parlament für den Bürgermeister.
Hamburg. Als die Spannung ihren Höhepunkt erreichte, konnte auch der coolste Mann der SPD eine gewisse innere Unruhe nicht verbergen. Olaf Scholz hatte sich um Punkt 17.23 Uhr selbst gewählt - davon darf man jedenfalls ausgehen -, und sich danach zum x-ten Mal an diesem Tag auf seinen Platz in der ersten Reihe der Bürgerschaft gesetzt. Mehr konnte er jetzt nicht tun. Außer ein paar Minuten warten. Und so ein paar Minuten können ganz schön lang werden, wenn man darauf wartet, zum Ersten Bürgermeister gewählt zu werden.
Also stand Scholz wieder auf, lehnte sich an seinen Tisch, verschränkte die Arme, griente kurz mit seinem selbstsicheren Olaf-Scholz-Grienen in den Plenarsaal, stand wieder auf und ging - zu seiner Frau. Britta Ernst saß nur drei Schritte schräg rechts hinter ihrem Mann, und sie und ihr Sitznachbar Andreas Dressel hatten das, wonach ihm jetzt war: Nervennahrung. Genau genommen ein halbes Pfund Weingummis. Scholz pickte sich einige in SPD-Rot heraus und steuerte mit erhobenem Daumen die nächste Frau an, deren Anwesenheit ihm an diesem Tag mächtig wichtig war: Birte Gutzki-Heitmann.
Die 33 Jahre alte Neu-Abgeordnete hatte unverhofft die Schlüsselrolle des Tages inne. Bis zum Wochenende war gezittert worden, ob die hochschwangere Harburgerin zur Scholz-Wahl würde kommen können - denn bei nur zwei Stimmen Mehrheit konnte sich die SPD keine Abweichler oder Abwesenden leisten. Doch dann brachte Gutzki-Heitmann am Sonnabend Tochter Annike zur Welt und erklärte danach, dass es ihr den Umständen entsprechend gut gehe: Sie wolle kommen. Im Rollstuhl sitzend, machte sie tatsächlich alle wichtigen Tagesordnungspunkte mit.
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Die Erleichterung über ihre Anwesenheit hielt aber nur kurz an, denn beim "Zählappell" am Montagmittag fehlte doch einer der 62 SPD-Abgeordneten: Frank Wiesner, auch ein Harburger Parlamentsneuling. Ausgerechnet der Verkehrsexperte saß auf einem Flughafen fest - in Togo, irgendwo in Afrika. "Überhaupt kein Verständnis" habe er dafür, wetterte ein Sozialdemokrat. Zumal man Wiesner von der Reise abgeraten habe.
So brachte die SPD exakt so viele Abgeordnete zusammen, wie zur Wahl des Bürgermeisters mindestens erforderlich sind: 61 - die Zahl, die die Unruhe erklärte, mit der sich Scholz ein letztes Mal in die erste Reihe setzte. Doch um 17.35 Uhr stand die Mehrheit - und nicht nur die. "Abgegeben wurden 118 Stimmzettel", verkündete die frisch gewählte Parlamentspräsidentin Dorothee Stapelfeldt (SPD), "von den gültigen waren 62 Ja-Stimmen ..." Der Rest - 54 Nein-Stimmen und zwei Enthaltungen - ging im Applaus der SPD-Abgeordneten unter. "Ich nehme die Wahl an", erklärte Scholz um 17.37 Uhr. Beim anschließenden Eid verzichtete er auf den Zusatz "So wahr mir Gott helfe".
Nach den Gratulationen seines Vorgängers Christoph Ahlhaus (CDU) stand der neue Erste Bürgermeister etwas unschlüssig mit seinem Strauß roter und gelber Gerbera vor der Abgeordneten, bevor ihm SPD-Fraktionschef Michael Neumann zeigte, wo er jetzt Platz nehmen soll: auf der Senatsbank. Mit der Frage, welcher Abgeordnete der Opposition ihn gewählt haben könnte, wollte er sich ebenso wenig aufhalten wie mit dem abwesenden Frank Wiesner. "Ich könnte mir dazu viele Sachen ausdenken, aber das mache ich jetzt nicht", sagte Scholz in einem ersten Statement. "Es ist ja gut gegangen." Andere sollten das kommentieren.
"Wir genießen das jetzt und fragen uns nicht, woher welche Stimmen kommen und welche nicht", sagte Neumann. Auf ein ernstes Gespräch darf sich Wiesner aber noch einstellen.
Dicke Luft gibt es in der CDU bereits seit der Wahl, und gestern wurde es nicht weniger. Ex-Fraktions- und Noch-Parteichef Frank Schira war schon in der Fraktion mit nur 19 von 28 Stimmen als Bürgerschafts-Vizepräsident nominiert worden. Und bei der Wahl erhielt er mit 86 Ja- und 23 Nein-Stimmen bei neun Enthaltungen das schlechteste Ergebnis. Auch Christdemokraten gingen davon aus, dass viele Nein-Stimmen aus den eigenen Reihen kamen. Bezeichnend: Bei der Verkündung des Ergebnisses fehlte die halbe CDU-Fraktion. Es sei "nicht der vergnüglichste Moment im Rathaus", bekannte Kai Voet van Vormizeele (CDU) und nannte außer der noch neuen Oppositionsrolle auch die fraktionsinternen Schwierigkeiten. "Neue Transparenz" statt "Absprachen in Hinterzimmern" müsse erst gelernt werden.
Besser gelaunt war der GAL-Partei-Vize und Neuabgeordnete Anjes Tjarks. "Ein bisschen wie beim ersten Schultag" fühle er sich. Kämpferisch gaben sich Ex-Senatorin Anja Hajduk (GAL) und ihr Fraktionschef Jens Kerstan. Für die SPD werde es eine Herausforderung sein, wenn "vier Oppositionsparteien ein Auge auf die Regierungsarbeit werfen werden", so Hajduk. Und Kerstan meinte: "Die SPD wird vom ersten Tag an spüren, dass wir da sind."
Wieland Schinnenburg (FDP) empfand den Tag als "große Genugtuung". Es sei noch eine "Rechnung offen" gewesen, so Schinnenburg in Anspielung auf das Jahr 2004, als er und seine Liberalen aus Senat und Parlament hinaus gewählt worden waren. Schinnenburg war auch der Erste, der zur Tagesordnung überging - und eine schriftliche Kleine Anfrage an den Senat stellte. Thema: Stadtbahn. Bonjour Tristesse.