Witzig, aber verboten: Das Nachbearbeiten von Wahlplakaten ist die kleine Rache aus dem Volk und hat eine lange Tradition, nicht nur in Hamburg.
Hamburg. Immer wieder traf es Helmut Kohl. Zeit seiner Kanzlerschaft holte den Politiker aus der Pfalz die Häme ein. Mal als geworfene Eier, mal als beißender Spott. Diesbezüglich tat sich - wie so oft - das Satire-Magazin "Titanic" als Erstes hervor, als es Kohl bereits 1982 den Beinamen "Birne" verpasste. Seither kursierte der Begriff als despektierliches Synonym für den Altkanzler, weshalb im Bundestagswahlkampf 1987 auch drei Worte reichten, um einem Kohl-Wahlplakat zu erstaunlich neuer Wirkung zu verhelfen. "Knipst Birne aus!", stand neben dem Konterfei des Geschmähten - das saß.
An diesem Beispiel - übrigens fotografiert von F.C. Gundlach und 2009 im Museum für Kunst und Gewerbe unter dem Titel "Die kleine Rache des Souveräns" ausgestellt - zeigt sich, wie alt das Manipulieren von Wahlplakaten ist. Ambitionierte Komiker, Untergrund-Künstler oder gewöhnliche Schmierfinken haben es auf Aushänge abgesehen, seit es Parteiwerbung gibt, sagt Politikwissenschaftler Ole Keding. Plakatwahlkampf nahm zwar bis in die 80er-Jahre einen höheren Stellenwert ein als heute, wo die gesamte Kampagne entscheidet. Aber die nachträgliche Bearbeitung von Wahlplakaten hat nach wie vor Konjunktur. Gerade in Hamburg. Es ist die Rache aus dem Volk oder, wenn man so will: das Kleben der anderen.
Aktuell muss sich etwa Hamburgs Grünen-Spitzenkandidatin Anja Hajduk gefallen lassen, auf ihren Wahlplakaten die giftige Botschaft "Wir schließen nur die Lücke, die Ronald Schill hinterlassen hat" zu lesen. Eine Anspielung auf das vermeintliche Erfüllungsgehilfentum der GAL, die wie zuvor die Schill-Partei als Juniorpartner der CDU diente. "Danke für Moorburg", steht auf anderen Grünen-Aufstellern - der Stachel des genehmigten Kohlekraftwerks sitzt bei vergrätzten Grünen-Wählern offenbar noch tief.
FDP-Kandidatin Katja Suding sieht sich derweil ganz anderen Schmähungen ausgesetzt. Ihre auf maximalen Positivismus getrimmte Friesennerz-Kampagne mutet für nicht wenige wie Katalogwerbung an - mit Gegenwindsimulation und Perlweißlächeln. Politikwissenschaftler Keding sieht in Kombination mit dem Slogan "KatJA" gar einen Rückfall in Spaßpartei-Zeiten. Die Guerilla-Fraktion bearbeitet die Werbung dagegen charmant bis subtil. Eine kleine Ergänzung genügte, um das Motiv endgültig zu dem zu machen, was es für viele ist: ein Verkaufsprospekt für Regenkleidung. "Cape 29,95" haben findige Wahlplakat-Erneuerer neben Suding und Friesennerz geklebt. Andere beantworteten die Frage: "Warum Suding?" mit dem nachträglich aufgebrachten Satz: "Weil sie gut aussieht." Autsch!
Ein übergeordnetes politisches Selbstverständnis lasse sich bei Rebellenkünstlern aber nicht ableiten, sagt Politikwissenschaftler Keding. Jeder kriege sein Fett weg, es brauche schließlich nicht mehr als einen Stift, eine fixe Idee und die passende Gelegenheit. Dann könne jeder, unabhängig seiner politischen Couleur, zum kleinen Souverän werden. "Weil es aber mittlerweile eine Menge Künstler im Bereich der Urban- oder Guerilla-Art gibt, die auf charmante Weise die Botschaften von Schildern modifizieren, entlädt sich der Groll oder die Verachtung auf und für Politiker sehr wirksam." Inzwischen seien die Neudeutungen überwiegend lustig, überraschend und kritisch.
Weiteres Beispiel gefällig? Allseits beachtet, aber selten verstanden, kommt die Kampagne der CDU daher. Und obwohl Fragestellungen wie: "Und nu?" rhetorischer Natur sind, scheinen sie provozierend genug, um eine Antwort aus dem Volk zu forcieren. Beim Kriminalitätsplakat, wonach Gaunercoups um 25 Prozent zurückgingen, erwiderte ein Unbekannter die Frage: "Und nu?" großflächig: "Cannabis entkriminalisieren". Ein Wahlziel, das mit Sicherheit nicht dem Gusto der CDU entspricht. Ebenso fraglich ist die offenkundig auf Ole von Beust gemünzte Aussage: "Endlich Ruhe für Hamburgs Schwulen", wo vormals Schulen stand.
Den direkten Gegner, die SPD, erwischte es aber nicht minder höhnisch. Um die präsidiale, aber doch etwas vage bleibende "Verantwortung-Klarheit"-Kampagne zu torpedieren, langte nämlich ein einfaches Wort: "Leere". Zynische Geister mögen anhand dieses Beispiels feixen, dass jemand "Klarheit" und "Verantwortung" in die sozialdemokratische Kampagne gebracht hat. Aber das ist eine böse Unterstellung.
Fakt ist: Bei gelungenen Nachbearbeitungen schlägt das Aufmerksamkeitspendel aus. Ein Effekt, den die Piratenpartei in ihrer aktuellen Kampagne bewusst nutzt: Auf den ersten Blick scheint nämlich ein Motiv mit zugeklebtem Frauenmund nachträglich bearbeitet, der Slogan reißt abrupt ab: "Das Schlimmste an Zensur ist", heißt es dort. Der zweite Satzteil, "der Verlust der Freiheit", wird erst bei näherem Hinsehen offenbar. Der zweite Blick wird zwingend. Mehr kann ein Plakat beim Rezipienten nicht erreichen.
Politikwissenschaftler Keding bezweifelt aber, dass dieses Stilmittel die Wahlentscheidung Einzelner beeinflussen: "Die Wirkung von Wahlplakaten setzt heute ja vor allem darauf, das Gesicht des Spitzenkandidaten in die öffentliche Wahrnehmung zu bringen." Wenn es wirklich gute Pointen seien, blieben sie im Gedächtnis und regten zum Nachdenken an. "Das ist aber nur vereinzelt der Fall", sagt der Experte. Denn nicht weniges sei eben "Gekrakel oder Unsinn". Seit Jahren beliebt ist etwa, Kandidaten Vampirzähne zu verpassen. Politik als Geschäft von Untoten und Blutsaugern - dieses Klischee reißt heute niemanden mehr um.
Nicht vergessen werden darf aber: Jede noch so originelle Wahlplakatnachbearbeitung ist strafrechtlich eine ordinäre Sachbeschädigung. Je nach Rechtsauffassung kann sogar eine politisch motivierte Straftat daraus werden. Ein Beispiel, wie schnell so etwas zu gefährlichem Handeln wird, bietet etwa der Alstertaler CDU-Wahlkreiskandidat Nils Wolk: "An meinen Plakaten wurden die Befestigungen durchgeschnitten." Mehrere seiner Aufsteller seien daraufhin vom Wind auf die Straße geschleudert worden - und hätten dort Autofahrer gefährdet. Aber, abgesehen davon, haben Hamburgs kleine Souveräne den Wahlkampf durchauskomödiantisch aufgewertet.