Selbst der mächtige Bürgermeister kann den Bezirksamtsleiter im Fall Chantal nicht gegen den Willen des SPD-Mitte-Chefs ablösen lassen.
Vielleicht ist es ja einfach so: Der mächtigste Politiker im Rathaus kann seinen vermutlich umstrittensten Parteifreund nicht loswerden. Selbst wenn Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) es wollte, er hat derzeit keinen Erfolg garantierenden Hebel, um Mitte-Bezirksamtsleiter Markus Schreiber von seinem Posten zu jagen.
Der Tod der elfjährigen Chantal in Schreibers Verantwortungsbereich hat nicht nur die Stadt erschüttert. Chantal, die bei drogenabhängigen Pflegeeltern untergebracht und an einer Methadon-Vergiftung gestorben war, beschäftigt die ganze Republik. Die Frage von außen lautet: Wie kann es in einer Stadt wie Hamburg passieren, dass ein Jugendamt ein Kind in die Obhut einer solchen Familie gibt und die gravierenden Missstände nicht bemerkt? Wohlgemerkt: Es geht um Hamburg, nicht etwa nur um Hamburg-Mitte.
Deswegen gab es in dieser Woche gleich mehrere Aufforderungen der Opposition, Scholz solle endlich handeln und Schreiber entlassen. Zwar hat der Bezirk-Mitte-Chef Jugendamtsleiterin Pia Wolters als unmittelbar Verantwortliche von ihrem Posten abberufen. Aber ein Befreiungsschlag war das nicht. Vor allem Schreibers Aussage, er habe Wolters schon seit 2009 - dem Tod der unterernährten Lara-Mia ebenfalls im Bezirk Mitte - für nicht geeignet auf dem Posten gehalten, wird als Eingeständnis eigenen Versagens gesehen.
Die Lage ist ebenso kompliziert wie verfahren. Und es wird für Scholz nicht einfacher dadurch, dass er es mit den Parteifreunden der SPD Mitte zu tun hat, die seit vielen Jahren ein sehr spezieller Partei-Biotop ist.
Rechtlich hat der Bürgermeister, präziser der für Bezirke zuständige Finanzsenator Peter Tschentscher (SPD), als Dienstvorgesetzter die Möglichkeit, ein Dienstenthebungsverfahren gegen Schreiber einzuleiten. Die Voraussetzung wäre allerdings, dass dem Bezirksamtsleiter schwere individuelle Fehler nachzuweisen sind. Der Senator könnte Schreiber vom Dienst suspendieren und die Vorwürfe disziplinarisch klären lassen. Ein derart spektakuläres Vorgehen würde wohl eine rechtliche Auseinandersetzung nach sich ziehen, da Schreiber eine "unehrenhafte" Entlassung aus dem Amt kaum akzeptieren dürfte. Die Folge wäre eine vielleicht jahrelange Hängepartie, noch dazu mit offenem Ausgang. Im schlimmsten Fall - aus Sicht des Senats - dürfte Schreiber an seinen Arbeitsplatz zurückkehren. Das Dienstenthebungsverfahren ist mehr eine Drohkulisse als eine realistische politische Perspektive.
Die zweite Variante ist etwas für Idealisten: Schreiber gibt dem Druck nach und tritt freiwillig zurück. Nur: Warum sollte der Mitte-Mann das tun, vor allem, nachdem ihm seine 25-köpfige Fraktion in der Bezirksversammlung Mitte am Donnerstagabend einstimmig das Vertrauen ausgesprochen hat? Schreiber ist Lehrer, er würde sich bei einer Rückkehr in den Schuldienst finanziell erheblich verschlechtern. Scholz könnte ihn also nur mit einem attraktiven Job-Angebot locken. Der in Mitte geschasste Schreiber als Chef der Lottogesellschaft oder als Staatsrat? Auf die dann folgende Filzdebatte dürfte der Bürgermeister nicht erpicht sein.
Es gibt einen dritten Weg: Die SPD mit Landeschef Scholz könnte den Druck auf die Mitte-Genossen massiv erhöhen. Noch halten die Sozialdemokraten von Billstedt bis Finkenwerder zusammen. Die SPD Mitte wirkt nach außen wie ein monolithischer Block, und der Grund dafür hat einen Namen: Johannes Kahrs, SPD-Kreisvorsitzender und Bundestagsabgeordneter.
+++ Schweigemarsch für Chantal +++
+++ Trauermarsch für Chantal und Lara Mia +++
+++ Jugendamt ignorierte Hinweis von Lehrerin +++
Wie kein anderer Sozialdemokrat an Elbe und Alster hat er es verstanden, über Jahre ein Netzwerk von häufig jungen Parteifreunden aufzubauen, die ihm kleine Posten verdanken und daher linientreu sind. Manche sprechen von einem "System Kahrs". Nur wenige Mitte-Gewächse sind dem Einfluss des SPD-Kreischefs entwachsen. Dazu zählen Innensenator Michael Neumann, Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit, Justizsenatorin Jana Schiedek und zunehmend auch Dirk Kienscherf, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bürgerschaftsfraktion. Zu den engsten Weggefährten von Kahrs zählen hingegen Schreiber, der SPD-Mitte-Fraktionschef Falko Droßmann, der Bürgerschaftsabgeordnete Philipp Sebastian Kühn und der Stadtentwicklungsexperte der Fraktion, Andy Grote.
Womit kann SPD-Chef Scholz Kahrs unter Druck setzen, seinen Gefolgsmann Schreiber fallen zu lassen? Mit Mandatsentzug kann Scholz nicht drohen. Kahrs wird von seiner Basis als Wahlkreiskandidat für den Bundestag nominiert. Noch nie hat ein Landesparteitag ihn auf einen Listenplatz für die Bundestagswahl gewählt. Er tritt dort inzwischen gar nicht mehr an und holt das Mandat direkt. Man kann es auch so sagen: Kahrs ist vom Landesverband weitgehend unabhängig. Kahrs' Achillesferse ist sein Engagement als Vorsitzender des Jugendhilfeausschusses. Das Gremium, das Geld zum Beispiel an Bauspielplätze und Häuser der Jugend vergibt, ist auch für den Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) zuständig.
Die Mitarbeiter des Jugendamtes, die für Pflegekinder zuständig sind, gehören dem ASD an. "Das Thema der vernachlässigten Kinder hat Kahrs nie besonders interessiert", sagt ein früheres Ausschussmitglied. Ihm sei es mehr darum gegangen, Geld an die Träger der offenen Kinder- und Jugendhilfe zu verteilen. Falls im Zuge der großen Innenrevision durch die Finanzbehörde herauskommen sollte, dass auch Kahrs nicht genug nachgesetzt hat, um Missstände zu beseitigen, könnte die Achse Kahrs/Schreiber zerbrechen. Dann könnte Kahrs versucht sein, seine eigene Haut zu retten.
Es gibt einen vierten Weg, wie Schreiber sein Amt verlieren könnte: Wenn sich die fünf Fraktionen von CDU, GAL, Linke, FDP und Piraten im Bezirk auf einen Kandidaten einigen, können sie Schreiber abwählen. Die fünf verfügen über 26 Stimmen, die SPD nur über 25. CDU und GAL fordern offen den Rücktritt Schreibers, Linke und Piraten würden wohl mitziehen, aber die beiden FDP-Abgeordneten halten bislang zum Bezirksamtsleiter. Derzeit laufen intensive Gespräche zwischen den Fraktionen, sich auf einen vermutlich parteilosen Kandidaten zu verständigen. Und FDP-Chef Rolf Salo versucht, den liberalen Bezirksabgeordneten Heinrich-Otto Patzer umzustimmen, den eine enge persönliche Beziehung mit Schreiber verbindet.
Sollte das Unwahrscheinliche gelingen, dann könnte das eine neue Dynamik aufseiten der SPD entfalten. Tatenlos sähen die Mitte-Genossen wohl nicht zu, wie Markus Schreiber abgewählt würde. Das könnte die Stunde für einen neuen SPD-Kandidaten sein. Ein Name: Stadtentwicklungsexperte Andy Grote. Das Ziel der SPD wäre es, Stimmen aus der Phalanx der fünf anderen Fraktionen herauszubrechen und für eine Mehrheit zu sorgen. Es ist schon vorstellbar, dass die GAL einen Kandidaten Grote mitwählen würde. "Wir gehen mehrschichtig vor", heißt es aus der Mitte-GAL vielsagend.
Johannes Kahrs würde diese Operation politisch überleben.