Harburg. 17 Jahre alte Karatekämpferin vom Harburger TB sorgt bei ihrer Premiere in der Frauenklasse für die große Überraschung.
Ralf Becker bekam auch zwei Tage später feuchte Augen. „Reem hat geweint, ich habe geweint, wir haben alle geweint“, sagte der Karatetrainer des Harburger Turnerbunds (HTB). „Niemand von uns hat mit dieser Nummer gerechnet.“ Diese Nummer – wie Becker sie nennt – ist einer der größten sportlichen Überraschungen, die die deutschen Karate-Meisterschaften am Wochenende in der Arena im Wilhelmsburger Inselpark hervorbrachten. Die jüngste Teilnehmerin gewann den deutschen Meistertitel im Kumite. Es war die einzige Goldmedaille für den gastgebenden Hamburger Verband.
Zuvor schon deutsche Meisterin im Jugend- und Juniorenbereich
Dass Reem Khamis keine Schlechte ist, wusste man vorher. Immerhin war die 17-Jährige in den vergangenen Jahren zweimal deutsche Meisterin im Jugend- und Juniorinnenbereich geworden. Die deutschen Meisterschaften der Leistungsklasse sind aber eine ganz andere Nummer, ein ganz anderes Niveau. In der Leistungsklasse treten die besten deutschen Karatekämpferinnen an, unter ihnen Medaillengewinnerinnen bei Welt- und Europameisterschaften.
Insgesamt hatten in der Gewichtsklasse bis 61 Kilogramm 25 Sportlerinnen aus 18 Vereinen gemeldet. Mit ihren 17 Jahren war Reem Khamis die Jüngste, zudem war es ihr erster Auftritt bei einer deutschen Frauen-Meisterschaft. „Wir haben uns nicht groß etwas ausgerechnet“, sagte Becker, „die Top-Ten wären in Ordnung gewesen.“
In der ersten Runde offenbarte sie noch nicht alle Fähigkeiten
Allerdings bereitete der erfahrene Trainer das Aushängeschild der HTB-Karateabteilung taktisch geschickt auf die Titelkämpfe vor. Reem Khamis ist für eine offensive und aggressive Kampfführung bekannt. Im ersten Duell der DM in Wilhelmsburg traf sie auf eine ebenso unbekannte Gegnerin wie sie selbst. „Ich habe Reem aufgefordert, anders zu kämpfen. Sie sollte nicht zu viel von ihren Fähigkeiten preisgeben“, sagte Ralf Becker. Ihm war bewusst, dass Gina-Marie Mauer aus Brandenburg sich eben diesen ersten Kampf ansehen würde.
Aufgrund des Tableaus war Mauer, der deutschen Vizemeisterin 2019, bekannt, dass sie in der zweiten Runde auf die Siegerin dieses Duells treffen würde. Reem Khamis besiegte ihre Kontrahentin mit 3:0 und konnte anschließend, wieder mit ihrem gewohnt erfolgreichen Kampfstil, auch Mauer aus dem Wettbewerb werfen. Der 4:3-Sieg der Harburgerin nach drei Minuten Kampfzeit war die erste Überraschung.
Im Halbfinale machte Reem Khamis aus einem 0:2 noch ein 4:2
So ging es weiter. Nach einem souveränen Sieg im Viertelfinale stand Khamis im Halbfinale der sechsmaligen deutsche Meisterin, Vize-Europameisterin und Siebten der Weltmeisterschaften, Jil Augel aus Rheinland-Pfalz, gegenüber. Aber selbst diese Klasseathletin konnte den Höhenflug der Zwölftklässlerin von der Goethe-Schule Harburg nicht stoppen. Khamis lag zunächst mit 0:2 zurück, machte daraus aber einen 4:2-Erfolg – der Einzug in das Finale um den deutschen Meistertitel war perfekt.
Im Finale traf die in Ägypten geborene Harburgerin auf die mehrfache deutsche Meisterin und Ex-Europameisterin Anna Miggou (MTV 1846 Ludwigsburg). „Reem hat im Finale nochmal ihre Klasse gezeigt und siegte im spannendsten Kampf des Abends mit 7:5“, erzählte ihr Trainer. „Sie sieht in eine glänzende Zukunft.“ Nicht verschweigen konnte Becker, dass Khamis bis kurz vor dem Ende sogar 7:2 geführt hatte. „Es ist unglaublich und schon überraschend in dieser Leistungsklasse, denn meine Gegnerin ist eine erfahrene Kämpferin“, sagte die neue deutsche Meisterin.
Aufnahme in den Bundeskader bleibt der Harburgerin vorerst verwehrt
Beim Blick in die „glänzende Zukunft“ gibt es jedoch ein Problem. Reem Khamis ist zwar die beste deutsche Karateka in der Gewichtsklasse bis 61 Kilogramm, darf international aber nicht für Deutschland starten. Das Einbürgerungsverfahren der Jugendlichen, die vor fünf Jahren mit ihren Familie aus Ägypten nach Deutschland kam, läuft seit mehreren Jahren, ist aber nicht zu einem erfolgreichen Abschluss gelangt. „Reem ist eine hervorragende Schülerin, eine fantastische Sportlerin und finanziert sich selbst. Ich verstehe nicht, warum die Einbürgerung nicht klappt“, sagte Becker.
Kurz nach ihrem DM-Coup habe Bundestrainer Klaus Bitsch signalisiert, die Harburgerin unbedingt in den Nationalkader aufnehmen zu wollen. Staatsrat Christoph Hollstein, der die Freie- und Hansestadt Hamburg bei den Titelkämpfen in Wilhelmsburg repräsentierte, bekam Wind von der Sache und will die Sachlage gemeinsam mit Sport- und Innensenator Andy Grote prüfen.
Politiker wollen Beschleunigung des Einbürgerungsverfahrens prüfen
Für Reem Khamis begann die sportliche Zukunft schon am nächsten Tag. Ebenfalls in der Arena im Inselpark wurde die Hinrunde der neu gegründeten Karate-Bundesliga ausgetragen. Zur Hamburger Frauen-Auswahl gehörten auch die bis vor einem Jahr ebenfalls für den HTB kämpfende Aleyna Gencer (jetzt TSG Bergedorf) und Margarita Miklasova (Karate-Akademie). Erneut gewann Khamis alle fünf Kämpfe und trug entscheidend zum guten zweiten Platz der Hamburgerinnen in einer von zwei Sechsergruppen bei.
Die Bundesliga-Rückrunde in Berlin und das anschließende Finalturnier der vier besten Mannschaften finden im September und November statt. Vorher wartet auf Reem Khamis ein weiteres Highlight. Bei den deutschen Meisterschaften der U21-Juniorinnen im Juni in Erfurt gilt sie als klare Favoritin – erst recht nach ihrem DM-Coup in Hamburg.