Harburg. 18 Jahre alte Karateka vom Harburger Turnerbund ist von Bundestrainer Thomas Nitschmann berufen worden.

Von ihrem so genannten „Leuchtturm-Projekt Olympia“ müssen die Karateka des Harburger TB Abschied nehmen, die sich einst vorgenommen hatten, bei Olympia in Hamburg dabei zu sein und dann ihr Ziel auf Tokio 2020 verschoben hatten. Dafür gibt es aber auch eine positive Nachricht. Die kam aus Duisburg von Bundestrainer Thomas Nitschmann in Form einer Einladung an Aleyna Gencer. Die Schülerin am Friedrich-Ebert-Gymnasium darf für Deutschland kämpfen. Damit halten sich die guten und die schlechten Nachrichten für die Harburger Karateka die Waage.

Vor Jahren, als sich der Hamburger Sport noch auf die Gastgeberrolle für die Olympischen Spiele 2024 freuen durfte, hatten Ralf Becker, Abteilungsleiter und Spitzentrainer der Kampfsportler beim HTB, und seine ehrgeizigen Schüler beschlossen: „Olympia in Hamburg – da muss einer von uns dabei sein.“

Dieses ehrgeizige Ziel gaben sie auch nicht auf, als in Hamburg die Olympia-Bewerbung ins Elbwasser fiel. „Dann eben Tokio 2020“, sagten sich die Kampfsportler trotzig. Für das große Ziel wurden schon Abmachungen mit den Eltern der hoffnungsvollen Talente getroffen. Und die Vereinsführung stellte sich an die Spitze dieses „Leuchtturmprojektes“.

Aleyna Gencer und ihr Vereinstrainer Ralf Becker bei den deutschen Karatemeisterschaften in Neumünster
Aleyna Gencer und ihr Vereinstrainer Ralf Becker bei den deutschen Karatemeisterschaften in Neumünster © Hans Kall | Hans Kall

Vor allem musste Geld für den Aufbruch zu Olympia aufgetrieben werden. „Bei einer Crowdfunding-Aktion hatte die Hamburger Volksbank zugesagt, die Summe zu verdoppeln, die für einzelne Amateure oder ehrgeizige Vereinsprojekte eingezahlt würden“, berichtet Ralf Becker. „Für uns sind 4800 Euro zusammen gekommen. Ein Förderer überweist dazu 50 Euro im Monat.“ Aber dann folgte die Ernüchterung.

Für die ersten Karatekämpfe bei Olympia sind aus ganz Europa nur zwei Athleten in jeder Gewichtsklasse zugelassen. „Ein paar freie Plätze werden bei einem Weltcup-Turnier im kommenden Jahr in Osaka vergeben“, erläutert Rolf Becker. „Wir aber könnten uns noch nicht einmal die Flugkosten leisten. Wir mussten also so verantwortlich sein und unseren Mädchen und Jungen und ihren Eltern eingestehen: Die Olympia-Teilnahme in Tokio – diesen Traum müssen wir streichen.“

Für Aleyna Gencer startet die Karriere in der deutschen Nationalmannschaft am Donnerstag der kommenden Woche. Dann beginnt in Salzburg in Österreich ein Weltturnier der Serie A. Ein „Premier League-Event“ nennen sich diese Spitzenereignisse. Der Bundestrainer hat den kleinen HTB-Star für die Gewichtsklasse der Frauen bis 55 Kilo berücksichtigt.

„Allein für diese Klasse sind 115 Meldungen abgegeben worden“, erläuterte Ralf Becker, seit vielen Jahren die treibende Kraft bei den Athleten in Weiß, auf die der gesamte Harburger TB so stolz sein darf. „Aleyna ist in all den Jahren die Erste von uns, die mit dem Adler auf dem Kampfanzug für Deutschland antritt.“

Hat auch beim Training gut Lachen: Aleyna Gencer vom Harburger TB
Hat auch beim Training gut Lachen: Aleyna Gencer vom Harburger TB © Hans Kall | Hans Kall

Timm Becker, der Sohn des Trainers und der 28-malige Hamburger Meister Robert Rittich, aktuell amtierender deutscher Meister der über 30-Jährigen, hatten sich früher schon in den Nationalkader hoch gekämpft, sind aber nie zum Einsatz gekommen. Die erste Berufung des größten HTB-Talents, das Ralf Becker ohnehin für die perfekteste Technikerin im deutschen Karatesport hält, dämpft die bittere Enttäuschung, den die Leistungstruppe in Sachen Olympia hinnehmen musste, ein wenig.

Aber was ist mit Paris 2024? Für dieses Ziel bringt die erste Berufung einer HTB-Kämpferin in die Nationalmannschaft neue Hoffnung. „Nur bei Weltturnieren wie dem in Salzburg können Athleten Punkte für die Weltrangliste sammeln“, klärte der Karatechef auf. „Nur wer in der Weltrangliste weit oben landet, wird für Deutschland bei den Olympischen Spielen kämpfen dürfen. Der Bundestrainer ist wohl überzeugt, das unserer Aleyna die Zukunft gehört“.

Bei den Hamburg Open – um nur ein Beispiel für die Weiterentwicklung der Kämpferin aus einer sportlichen Familie zu nennen, deren Cousine Göldemir auch schon Deutsche Karatemeisterin war – fegte Aleyna Gencer die fünffache englische Meisterin vorzeitig mit 12:2 Punkten von der Matte. „Aleyna ist körperlich viel stärker geworden“, sagt Ralf Becker, „weil sie ja fast nur noch mit Männern trainiert.

Bis zu viermal in der Woche bei uns und noch dreimal bei anderen Hamburger Spitzenklubs“. Zuhause muss die 18-Jährige fürs Abitur büffeln und trainiert auch dort für ihren Sport. „Bauchaufzüge, also auf dem Rücken liegend den Oberkörper hochschnellen, davon wird sie insgesamt 250 täglich machen“, verrät ihr Cheftrainer. „Und 150 Liegestütze kommen ganz sicher dazu.“

Auch wenn der erste Auftritt eines HTB-Sportlers bei Olympia zumindest um vier Jahre verschoben werden muss, hat sich für die Karatesparte des HTB ihr Leuchtturm-Projekt dennoch ausgezahlt. „Zwei Neuzugänge hatten wir gestern wieder“, berichtet Rolf Becker. „Wir zählen jetzt 95 Mitglieder. Davon gehören 16 zur absoluten Leistungsspitze.“

Und im Verein reift ein weiteres Talent heran. Reem Khanis, vor vier Jahren aus Kairo nach Deutschland gekommen, ist die neue deutsche Meisterin in der Truppe. Die inzwischen 15-Jährige mit dem eisernen Willen hat den Titel in der Schülerklasse gewonnen. Auch sie trainiert bis zu sieben Mal in der Woche, auch sie kämpft überwiegend gegen männliche Konkurrenz, auch sie ist bei den Bundestrainern keine Unbekannte.

Im vergangenen Jahr sollte sie zu den Europameisterschaften fahren. Aber ohne deutschen Pass musste sie wieder ausgeladen werden. Und auf den wartet das ehrgeizige Talent mit Migrationshintergrund noch immer.