Hausbruch. Schulbehörde Hamburg gibt auf Abendblatt-Anfrage Dokumentation des jüngsten Vorfalls heraus. Eine Frage bleibt dabei unbeantwortet.
Als es Ende Juni dem neunjährigen Autisten Marlon bereits zum dritten Mal gelang, sich unbemerkt vom Gelände seiner Schule im Hamburger Süden zu entfernen und durch den Stadtteil direkt an der B73 zu irren, berichtete das Abendblatt darüber, dass die Eltern des Neunjährigen unverhältnismäßig lang auf Informationen der Schulbehörde zu den Vorkommnissen warten mussten.
Das Abendblatt hat die Schulbehörde daraufhin um eine detaillierte Dokumentation des Vorfalls gebeten – und lange gewartet. Seit einer Woche liegt die Dokumentation der Redaktion nun vor. Wir haben sie aufmerksam gelesen und über die Schilderung des Vorfalls aus Behördensicht mit Marlons Mutter gesprochen.
Schule Hamburg: Wie gut sind autistische Kinder in Födereinrichtungen geschützt?
Zur Vorgeschichte: Marlon besucht die Schule Nymphenweg, Zweigstelle Hausbruch, in der Straße Lange Striepen, nahe dem S-Bahn-Hof Neuwiedenthal. Dies ist eine Schule für Kinder mit besonderem Förderbedarf. Als Autist lebt Marlon oft in seiner eigenen Realität. Marlon neigt dazu, das Schulgelände zu verlassen. Zweimal ist ihm das bereits gelungen – durch offene, weil nicht vorhandene Klassenraumtüren und den Notausgang, dessen Tür sich zwangsläufig öffnen lassen muss.
Für die Kinder kann dieses Ausbüxen lebensgefährlich sein. Zuletzt war in Hamburg im Frühjahr 2023 ein 10-Jähriger Autist in der Elbe ertrunken, nachdem er unbemerkt das Gelände der Schule Nymphenweg in Hamburg-Marmstorf verlassen und mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Finkenwerder gefahren war. Bundesweit Schlagzeilen machte in diesem Jahr der Fall des kleinen Arian: Der Sechsjährige schaffte es, sein Elternhaus in Bremervörde zu verlassen, Wochen später wurde der Leichnam des Jungen im Landkreis Stade entdeckt.
Schule Nymphenweg hat einiges getan – trotzdem konnte der Junge wieder entwischen
Für Schule und Schulbehörde ist so etwas ein Dilemma: Einerseits wollen sie gerade den förderbedürftigen Kindern eine unbeschwerte Lernatmosphäre bereiten und haben deshalb Bedenken, die Schulen wie Gefängnisse wirken zu lassen. Andererseits sind Schule und Behörde in der Fürsorgepflicht und in der Aufsichtspflicht und sind bestrebt, den Eltern das Gefühl zu geben, dass ihre Kinder sicher aufgehoben sind.
„Ein Telefonat am selben Tag gab es. Darin teilte mir die Schulleiterin lediglich mit, sie sei am Tag nicht vor Ort gewesen.“
Die Schule hat in den letzten Monaten Türen und Alarme nachgerüstet und für einige Kinder eigene Aufsichtspersonen beschäftigt, denn Marlon ist hier auch nicht der einzige abenteuerfreudige Schüler. Dennoch konnte er im Juni erneut entwischen. Die Schulbehörde schildert den Vorfall so:
„Am 26. Juni gelang es einem Schüler der Schule Nymphenweg zum wiederholten Mal, während einer Pause das Außenschulgelände der Zweigstelle Hausbruch zu verlassen. Obwohl die Pause beaufsichtigt wurde, gelang es dem Schüler um 12:02 Uhr, das Gelände zu verlassen.
Um 12.06 Uhr wurde von der Schule der Notruf abgesetzt und das zuständige Polizeikommissariat 47 informiert. Um 12.26 Uhr meldete die Polizei, dass der Schüler aufgefunden werden konnte und wohlauf sei.
Noch bevor die Schule die Sorgeberechtigten telefonisch erreichen konnte, hatte eine Kita-Mitarbeitende, die das Kind noch von früher kannte, den Jungen auf der Straße gesehen und den Vater direkt angerufen. Nur deshalb sind die Eltern zuerst von einer anderen Person als der Schulleitung informiert worden. Telefonate mit beiden Elternteilen wurden von der Schulleitung noch am Nachmittag, direkt nach den Ereignissen, ausführlich geführt.
Anschließende Nachfragen der Mutter zu den Umständen des Weglaufens hat die Schulbehörde nach interner Aufarbeitung und Klärung des Sachverhaltes beantwortet. Ein zusätzliches und persönliches Gesprächsangebot der Schulbehörde lehnte die Mutter ab.
Schon nach dem ersten Vorfall hatte die Schulbehörde in der Schule umfangreiche bauliche Anpassungen durchführen lassen, u.a. die Sicherung des Dachübergangs, die Verschließung der Doppelklassen, den Einbau von Klassenraumtüren, den Einbau einer Alarmierung, die Erhöhung des Zauns sowie Sicht- und Kletterschutzvorrichtungen. Auch die individuelle Beaufsichtigung des betroffenen Kindes wurde ausgeweitet.
Für die Schulen gilt bei derartigen Vorkommnissen die Anweisung, dass zeitnah die Eltern zu informieren sind. Außerdem muss durch die Schulleitung eine schriftliche Dokumentation des Vorkommnisses erstellt werden. Beides ist in dem aktuellen Fall durch die Schulleitung vorschriftsmäßig vorgenommen worden.
In diesem konkreten Fall haben sowohl die Schulbehörde als auch das schulische Personal durch bauliche Vorkehrungen und Aufsichten alles Mögliche getan, damit es nicht zu Vorfällen dieser Art kommt.“
Angebot eines persönlichen Gesprächs: Mutter begründet die Ablehnung
Claudia Hoppe, die Mutter von Marlon, ärgert diese Darstellung, denn sie weicht von ihrer Sicht der Abläufe und Umstände in einigen Punkten ab. So etwa das von der Schulbehörde erwähnte „ausführliche Telefonat“.
„Ein Telefonat am selben Tag gab es“, sagt Claudia Hoppe. „Aber darin teilte mir die Schulleiterin lediglich mit, sie sei am Tag nicht vor Ort gewesen und müsse erstmal Rücksprache mit der Lehrkraft halten und könne dann detailliert Stellung nehmen. Diese detaillierte Stellungnahme kam bekannterweise knapp eine Woche später.“
Warum sich Sorgen um die Sicherheit machen? Menschen sterben ja auch bei Flugzeugabstürzen
Nach wie vor bleibt eine zentrale Frage der Mutter unbeantwortet: „Um 12.02 Uhr hat Marlon das Gelände verlassen, um 12.06 Uhr wurde die Polizei informiert. Ich frage mich dann schon, warum die Lehrerin erst um 12.13 Uhr versucht hat, mich zu kontaktieren. In diesem Moment wusste ich von Marlons Verschwinden bereits durch den Anruf der Kita-Mitarbeiterin, der Marlon unterwegs begegnet war.“
Dass sie das zusätzliche Gesprächsangebot der Schulbehörde ablehnte, bestätigt Claudia Hoppe. „Es wäre das dritte persönliche Gespräch gewesen“, sagt sie. „Welchen Sinn hat so ein Gespräch mit einem Schulinspektor, der mir zuvor in einem Gespräch erklärt hatte, dass ich angesichts der Sicherheitslage an Marlons Schule zu Unrecht Angst um mein Kind habe: Menschen würden ja auch immer noch Flugreisen machen, obwohl manchmal Flugzeuge abstürzen.“
Mutter eines Autisten über Alarme an den Notausgängen: „Nutzlos!“
Die akustischen Türwächter an den Notausgängen sind in den Augen von Claudia Hoppe nutzlos: „Ich kämpfe bis heute mit der Schulbehörde und mit dem Gebäudemanagement Hamburg um einen Austausch oder eine Nachbesserung der Notausgangstüren. „Tür auf, Kind raus, Kind weg“, sagt die Mutter und fasst damit die offensichtlichen Fluchtmöglichkeiten für ihren Sohn zusammen.
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In der Zukunft sieht die Mutter noch mehr Probleme auf die Schule zukommen. Immer mehr Eltern behinderter Kinder wollen zu den Förderschulen, weil sie den Inklusionskonzepten in den Regelschulen misstrauen. „Nach den Sommerferien gehen insgesamt acht neue Kinder in die Grundstufe. Acht Kinder mehr, als noch im vergangenen Schuljahr. Wenn auch nur eines davon ebenfalls eine Weglauftendenz hat, sehe ich nicht, wie die Schule das schaffen will!“