Hamburg. Dulsberg, Farmsen, Harburg, Hafenstraße: RAF-Terrorist Ernst-Volker Staub und sein klandestines Leben. Wie es gelang, 30 Jahre abzutauchen.

2. Juli 1984. Frankfurt am Main. Berger Straße 344. Ein Altbau im Stadtteil Bornheim. Eduard Glowka, Elektromeister im Ruhestand, macht es sich vor dem Fernseher gemütlich. Gerade läuft die Werbung vor der Tagesschau. Er schenkt sich ein Bier ein. Auf einmal hört er einen ziemlich lauten Schlag, den er nicht verorten kann. So, als ob ein Möbelstück umgefallen wäre. Er schaut sich in seiner Wohnung um. Aber er entdeckt nichts, was umgefallen ist.

Eine halbe Stunde später steht vor seiner Wohnungstür in der zweiten Etage eine ihm unbekannte Frau, Mitte zwanzig, kurze blonde Haare: Sie sagt, dass sie für die Mieterin über ihm die Katze versorge und ihr eine Gießkanne mit Wasser umgekippt sei – im Zimmer über seinem Schlafzimmer. Der Rentner inspiziert den Raum und kommt mit dem Ergebnis zurück, Wasserflecken seien nicht zu sehen. Sichtlich erleichtert huscht die schlanke Frau im Treppenhaus nach oben.

Die Bildkombo zeigt Fahndungsfotos veröffentlicht vom Landeskriminalamt Niedersachsen das den früheren RAF-Terroristen Ernst-Volker Staub im Jahr 2002 zeigen dürfte (l) und ein vom LKA angefertigtes Aging-Foto, wie Staub heute, im Alter von 69 Jahren aussehen könnte (r).
Die Bildkombo zeigt Fahndungsfotos veröffentlicht vom Landeskriminalamt Niedersachsen das den früheren RAF-Terroristen Ernst-Volker Staub im Jahr 2002 zeigen dürfte (l) und ein vom LKA angefertigtes Aging-Foto, wie Staub heute, im Alter von 69 Jahren aussehen könnte (r). © dpa | ---

Eine halbe Stunde später entdeckt der Rentner in seinem Schlafzimmer ein Loch im Fußboden – wenige Zentimeter groß. In ihm steckt ein Projektil. Und dann sieht er auch oben in der Decke ein Loch. Schlagartig ist ihm klar, dass es sich bei dem Geräusch um einen Schuss gehandelt haben muss.

Pässe und Personalausweise, Geldbündel, Pläne von Nato-Einrichtungen

Er wählt die 110. Um halb elf stürmen acht Streifenpolizisten die Wohnung über seiner und verhaften drei Männer und drei Frauen. Einer trägt einen leuchtend roten Overall, wie der Commander eines TV-Raumschiffs. Ein anderer buntkarierte Hüttenschuhe. Eine hat einen auffallend vergammelt-braunen Schneidezahn. Eine andere kommt daher mit Hörgerät und Schlafanzughose. Das dazu passende Schlafanzugoberteil und einen schwarzen Schlüpfer trägt ein schlanker, hochgewachsener Mann mit blonden Haaren. Etwas über eins achtzig. Blau-grüne Augen. Als sich die Beamten in den drei Zimmern umschauen, sehen sie Pässe und Personalausweise herumliegen, Geldbündel, Pläne von Nato-Einrichtungen und Flughäfen. Jetzt schwant den Schutzpolizisten, dass sie es mit richtigen Terroristen zu tun haben. „Da wurden unsere Schwitzflecken immer größer,“ blickt einer von ihnen zurück.

Die Festgenommenen sagen kein Wort. Bei der erkennungsdienstlichen Behandlung auf der Dienststelle ist die Identifikation einfach – nur bei einem von ihnen nicht: Helmut Pohl und drei andere werden per Haftbefehl gesucht, Barbara Ernst ist polizeibekannt. Aber bei dem Mann mit dem Schlafanzugoberteil kommen die Beamten nicht weiter. Seine Fingerabdrücke liegen der Polizei nicht vor, auch keine Fotos von ihm. Und bei den wegen Terrorismusverdachts Gesuchten gibt es niemanden, der so wie er aussieht. Für die Polizei ist er ein unbeschriebenes Blatt. So wird er in der Festnahmenacht in der „Einlieferungsanzeige“ als „unbekannte männliche Person“ geführt. Ein No-name-Terrorist.

Am nächsten Vormittag versuchen zwei BKA-Kommissare dem Mann seinen Namen zu entlocken

Am nächsten Vormittag versuchen zwei BKA-Kommissare dem Mann seinen Namen zu entlocken. Aber der verrät ihn nicht. Stattdessen verlangt er die sofortige Zusammenlegung mit den anderen fünf „Gefangenen“, Schreibmaterial, mehrere Tageszeitungen, Tabak und „Anwalt Koch aus Frankfurt“ zu sprechen. Mit seinen forschen Forderungen wirkt der Mann mit Schlafanzugoberteil und in der Miniunterhose auf die beiden BKA-Männer bockig. Aber sie sorgen dafür, dass er andere Kleidung bekommt. So trägt der Terrorverdächtige alsbald einen grünen Polizei-Trainingsanzug und weiße Polizei-Turnschuhe.

Die Kombo mit undatierten Fahndungsfotos zeigt die mutmaßlichen RAF-Terroristen (v.l.) Ernst-Volker Staub und Daniela Klette.
Die Kombo mit undatierten Fahndungsfotos zeigt die mutmaßlichen RAF-Terroristen (v.l.) Ernst-Volker Staub und Daniela Klette. © dpa | Polizei

Am Abend wird der Mann ohne Namen BGH-Ermittlungsrichter Horst Kuhn vorgeführt. Unvermittelt fragt er ihn: „Sind Sie Ernst-Volker Staub?“ – den entscheidenden Hinweis hatte er kurz zuvor von der BKA-Tatortgruppe erhalten: Im Flur der Wohnung hatten Beamte in einem hellblauen Blouson Größe 52 zwei Ausweise entdeckt: Staubs Personalausweis und den Reisepass von „Thomas Weinrich“, versehen mit Staubs Foto. Ziemlich dilettantisch.

Der Mann blickt irritiert. Dann nickt er. „Ich heiße Ernst-Volker Wilhelm Staub, bin geboren am 30.10.1954 in Hamburg, und wohne in Hamburg, An der Berner Au 17 e.“ „Beruf?“, fragt der Richter. „Nein“. Und dann sagt der Mann, dass er keine Angaben zur Sache mache.

In Schnellheftern liegen in der Wohnung 8400 Blatt Papier

Die Festnahmen Staubs und seiner fünf Komplizen im Hochsommer 1984 sind der Schlussakkord zur zweiten RAF-Generation. Ihr allerletztes Aufgebot. Gefasst. Besorgniserregend aber sind für die Ermittler die Funde in der Wohnung: Üppige Bargeldbestände – D-Mark, französische Francs, Schweizer Franken, US-Dollar und niederländische Gulden – im Wert von über 17.000 D-Mark. Damals der Preis für einen nagelneuen Golf. Viertürig. In Schnellheftern liegen in der Wohnung 8400 Blatt Papier. Mit eintausend Namen möglicher künftiger RAF-Opfer. „Aufklärungsmaterial“ für Anschläge demnächst. Was die Beamten nicht wissen: Es ist eine Vorschau auf die blutigen Terrortaten der dritten RAF-Generation, die ein halbes Jahr später beginnen. Ab Februar 1985. Legendär ist die „Planungstreue“ der RAF.

Uundatiertes Fahndungsbilder des Bundeskriminalamts (BKA). 
Uundatiertes Fahndungsbilder des Bundeskriminalamts (BKA).  © picture-alliance / dpa | dpa Picture-Alliance / BKA

Unter den Funden in der dritten Etage: Aus der Zeitschrift Wehrtechnik die Personalie „Dr. Ernst Zimmermann, Vorsitzender der Geschäftsführung der MTU Motoren- und Turbinen-Union München GmbH“ mit Foto – ein halbes Jahr später ermordet ihn ein RAF-Kommando in seinem Haus in Gauting bei München. Im Wohnzimmer liegt der Artikel aus der WirtschaftsWoche 7/1984 „Deutsche Bank Macht durch Masse“, in dem Alfred Herrhausen als möglicher neuer Vorstandssprecher vorgestellt wird – und „als einer der engsten wirtschaftspolitischen Berater Helmut Kohls, der ihn häufig telephonisch konsultiert“. Fünf Jahre später bombte ihn die RAF in den Tod. Und dann liegen dort auch noch Unterlagen von Sprengstoffverstecken und zur „Rhein-Main-Airbase“. Ein Jahr später explodieren, auf dem „Gateway to Europe“, zwölf Kilometer Luftlinie von der Berger Straße entfernt, 126 Kilogramm Sprengstoff – in einem von der RAF abgestellten VW-Passat. Die Metallsplitter durchsieben einen US-Soldaten. Einer Zivilangestellten reißen sie die linke Gesichtshälfte weg. Beide sterben. 23 Menschen krümmen sich verletzt auf dem Parkplatz.

Staub verbringt seine Kleinkindtage in einem vierstöckigen Rotklinkerbau

Als die Streifenpolizisten Ernst-Volker Staub in Frankfurt verhaften, ist er neunundzwanzig. Geboren wurde er am 30. Oktober 1954 in Hamburg – er hat einen vier Jahre älteren Bruder: Sein Vater ist Jahrgang 1919 und Verwaltungsangestellter. Die ersten zweieinhalb Jahre verbringt Ernst-Volker im Stadtteil Dulsberg. Ein Rotklinkermehrfamilienhaus neben dem nächsten. Drei- oder vierstöckig. Die meisten wurden in den zwanziger Jahren hochgezogen. Die Wohnungen sind klein. Kaum eine hat mehr als sechzig Quadratmeter und mehr als zwei, maximal drei Zimmer. Es ist eng. Ernst-Volker Staub verbringt seine Kleinkindtage in einem vierstöckigen Rotklinkerbau, Eupener Straße 2. Nicht weit von der Frohbotschaftskirche am Straßburger Platz. Erst kurz zuvor war das Haus wieder aufgebaut worden. Im Sommer 1943 hatten es anglo-amerikanischer Bomben zerstört.

Der Umzug – Juni 1957: Ein kleines Reihenhaus, gerade erbaut, in Farmsen, Erstbezug: Ein grüner Stadtteil im Nordosten der Hansestadt. Soweit das Auge reicht: Strahlend weiße Fassaden von gerade errichteten Reihen- und Mehrfamilienhäusern – damals, in den späten fünfziger, frühen sechziger Jahren. Von der Fahrbahn zweigt ein schmaler Fußweg ab, der zur Haustür führt. In der Häuserzeile stehen acht Häuser. Jedes mit einem handtuchgroßen Garten. Staubs Elternhaus ist schmal. Gerade mal sechs Meter breit. Vier enge Zimmer. Auf der Rückseite liegt der kollektive Garagenhof. Hinter den hellen Fassaden: die Enge der Fünfziger.

Mit siebzehn wird er Vollwaise: Seine Mutter Ursula stirbt mit achtundvierzig an Leukämie

Als Ernst-Volker fünf ist, stirbt sein Vater. Mit vierzig. März 1960. Die Spätfolgen einer Kriegsverletzung. Mit siebzehn wird er Vollwaise: Seine Mutter Ursula stirbt mit achtundvierzig an Leukämie, 1972. Die zentrale Rolle in seinem Leben übernimmt sein Bruder.

Ernst-Volker besucht die Kirchgemeinde in Farmsen. Diskutiert mit Gleichaltrigen über Gott und die Welt. Verhalten kritisch äußert er sich über „das System“. Ein guter Schüler ist er nicht. Mit zwanzig, im Juni 1975, besteht er das Abitur am Gymnasium Farmsen. Notendurchschnitt: 3,4.

Berlin: Polizisten stehen bei einem gepanzerten Fahrzeug. Der Einsatz stand im Zusammenhang mit der Fahndung nach den beiden noch flüchtigen mutmaßlichen Räubern Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg.
Berlin: Polizisten stehen bei einem gepanzerten Fahrzeug. Der Einsatz stand im Zusammenhang mit der Fahndung nach den beiden noch flüchtigen mutmaßlichen Räubern Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg. © dpa | Paul Zinken

Zum Wintersemester 1975/76 beginnt er das Studium an der Universität Hamburg: „Allgemeine Sprachwissenschaft“ und „Phonetik“. Zum Sommersemester 1976 schreibt er sich zusätzlich für die Rechtswissenschaften ein, so studiert er im Rechtshaus an der Rothenbaumchaussee. Und er jobbt. Zwei Wochen als Hilfsarbeiter bei „Broschek Druck“ in Meiendorf. Und dann vier Monate als „Betriebsmitarbeiter“ beim Otto-Versand in der Wandsbeker Chaussee. Mit einundzwanzig beendet er die Jobberei.

Anfang 1978 zieht er in eine Wohngemeinschaft im Harburger Stadtteil Wilstorf

Er engagiert sich sozial. Kümmert sich um sozial benachteiligte Jugendliche, arbeitet als Jugendleiter im Jugendtreff Oldenfelde e. V. Wie für so manches spätere RAF-Mitglieder führt sein Weg in den Untergrund über die „praktische Sozialarbeit“.

Mit dreiundzwanzig, Anfang 1978, zieht er in eine Wohngemeinschaft im Harburger Stadtteil Wilstorf. Eine Sechser-WG. In dieser Zeit erleben ihn zwei seiner Mitbewohner, ein Pärchen, wie es später übereinstimmend berichtet, als „eher in sich gekehrten Menschen“, „der jedem Streit gern aus dem Weg“ gegangen sei. Innerhalb der WG hätte er sich zwei Menschen angeschlossen, die „verhältnismäßig radikale politische Thesen vertreten“ hätten: Im Jahr eins nach dem für die RAF desaströsen Deutschen Herbstes 1977 hoffen die drei, dass trotzdem der „bewaffnete Kampf“ in Deutschland eine Perspektive hat.

Mit fünfundzwanzig beginnt Staub die Camouflage – fortan zieht sie sich wie ein roter Faden durch sein Leben: Bekannten erzählt er, von Mai 1980 bis Mai 1981 hätte er in Köln eine Kleinkindergruppe betreut. Aber später finden Ermittler heraus, dass er dort weder beim Arbeits- noch beim Sozialamt gemeldet war.

Klette, Staub und Garweg auf Fahndungsfotos
Klette, Staub und Garweg auf Fahndungsfotos © AFP | Handout

Mit sechsundzwanzig, im Mai 1981, meldet er sich beim Bezirksamt Farmsen wieder in dem einstigen Reihenhaus seiner Eltern an, An der Berner Au 17e. Jetzt wohnt dort sein Bruder. Aber tatsächlich zieht er dort nicht wieder ein. Zwei Monate später besucht Ernst-Volker Staub das Pärchen aus seiner früheren WG. Mittlerweile leben die beiden in einem eigenen Haus in Ahrensburg, nordöstlich von Hamburg. Sie erlauben ihmStaub, dass er in ihrer Dachkammer wohnt. Für einige Wochen. Überrascht stellen sie fest, dass er Besucher empfängt, die er vor ihnen abschirmt. Anfang September 1981 zieht er aus.

Ein Klappspaten. An ihm klebt Erde. Eine Flasche mit Salzsäure. Eine Tränengassprühdose

Später entdecken die beiden zwei Taschen von ihm unterm Dach. Darin: Ein Parka. Ein Klappspaten. An ihm klebt vertrocknete Erde. Eine Flasche mit Salzsäure. Eine Tränengassprühdose. Und drei Kursbücher der Deutschen Bundesbahn. Für die Ermittler belegt der Tascheninhalt eine „Kurier- und Depottätigkeit“. Für die zweite RAF-Generation – für wen sonst?

Weil Staub sich nicht zum Sommersemester 1982 an der Universität Hamburg zurückmeldet, zwangsexmatrikuliert sie ihn. Zum Ende des Wintersemesters 1981/82. Nach abschlussfreien zwölf Semestern Rechtswissenschaften.

Zu dieser Zeit, Staub ist achtundzwanzig, endet sein Weg in der Legalität

Zu dieser Zeit, Staub ist achtundzwanzig, endet sein Weg in der Legalität: Wovon er in den nächsten Jahren lebt, bis 1984, ist bis heute ein Rätsel. Auf seinem Girokonto 1205/461 344 bei der Hamburger Sparkasse gab es seit November 1981 keine nennenswerten Bewegung: Dort sind 1.386,89 Mark Guthaben. Jeden Monat gehen zwei Mark Bankgebühr ab. Zinsen kommen hinzu. Offensichtlich braucht er das Geld nicht. Verfügt über andere Quellen. Nicht fernliegend der Gedanke, dass er schon damals sein Leben durch Räubereien finanzierte. Ein Indiz dafür ist ein „Check-Plan“, der in seinem Blouson in der Berger Straße steckte: Aufzeichnungen über Ausspähungen für den Überfall auf den Kassenraum des Kaufhauses Horten in Hannover. Seinerzeit gab es in der Bundesrepublik jedes Jahr fast zweitausend nicht aufgeklärte Überfälle: Auf Geldinstitute, Geldtransporter, Poststellen, sonstige Zahlstellen, Geschäfte, Geld- und Kassenboten.

Nächste Episode in Staubs Entwicklung zum RAF-Mitglied ist sein klandestines Abtauchen als „Peter Bollmann“ in Bremen. Es erscheint wie ein Umzug aus Liebe. Aber in Wahrheit ist es sein wohldurchdachtes Abtauchen von allen staatlichen Erfassungssystemen. Staubs Gesellenstück. Vor seinem Eintritt in die RAF.

Das Archivbild zeigt die letzte Seite des Schreibens, mit dem die Die Rote Armee Fraktion (RAF) offenbar ihre Selbstauflösung bekanntgegeben hat.
Das Archivbild zeigt die letzte Seite des Schreibens, mit dem die Die Rote Armee Fraktion (RAF) offenbar ihre Selbstauflösung bekanntgegeben hat. © dpa | A9999

Die Geschichte beginnt alltäglich: Auf der Autofahrt von Bremen nach Hamburg nimmt eine Frau eine Anhalterin mit. Sie stellt sich als „Gisela“ vor. Die Frauen verstehen sich blendend. Bleiben in Kontakt. Bei einem späteren Treffen lernt „Gisela“ den Freund der Autofahrerin kennen. Dem freien Mitarbeiter von Radio Bremen sagt sie, sie wolle von Hamburg nach Bremen ziehen, um hier weiter zu studieren. Der Radiomann entgegnet, eine Bekannte von ihm, eine ledige Studienrätin (32), sei auf der Suche nach einer vorübergehenden „Untervermietung“, weil sie sich für ein Jahr beurlauben lassen wolle, um in Berlin zu leben.

Auf die Studienrätin macht er „einen ordentlichen, freundlichen Eindruck“

Bald drauf bekommt die Studienrätin einen Anruf von „Peter“ – „Giselas“ Freund, wie er sagt. Sie verabreden einen Besichtigungstermin für die Dreizimmerwohnung im Ostertorviertel, Adlerstraße 3. Zweite Etage. Bei dem Treffen im Juni 1983 stellt er sich als „Peter Bollmann“ und Erzieher vor. Von Hamburg nach Bremen wolle er umziehen, weil seine Freundin „Gisela“ hier bessere berufliche Chancen an der Uni habe. Auf die Studienrätin macht er „einen ordentlichen, freundlichen Eindruck“.

Auf seinen Wunsch hin werden weiterhin von ihrem Konto Miete und Nebenkosten abgebucht. Insgesamt 732 Mark. Zudem Strom-, Gas- und Telefonkosten. Die Beträge erstattet er ihr per Postanweisung nach Berlin. Den Post-Nachsendeantrag, den die Lehrerin stellen wollte, redet er ihr aus. Sein Argument: Immer wieder sei doch zu hören, wie unsicher Nachsendeanträge seien. Der Charmeur verspricht, ihre Post umgehend nach Berlin-Kreuzberg nachzusenden, in die Naunynstraße. Dadurch könne sie sicher sein, dass „nichts verloren geht“. Deshalb laufen alle Zahlungen für die Wohnung weiter vom Konto der Studienrätin.

Fahndung auf einer digitalen Anzeigetafel nach Ernst-Volker Staub.
Fahndung auf einer digitalen Anzeigetafel nach Ernst-Volker Staub. © dpa | Julian Stratenschulte

So gelingt es Staub, unerkannt in ein bestehendes Mietverhältnis „hineinzuschlüpfen“. Eine typische Masche der RAF-Wohnungsbeschaffung. Die Anbahnerin „Gisela“ wird in Bremen nie wieder wahrgenommen.

Er war gepflegt und gut gekleidet, Bügelfaltenhose, weißes Hemd

Staub, noch keine dreißig, versteht die bürgerliche Maskerade exzellent. „Er war gepflegt und gut gekleidet, Bügelfaltenhose, weißes Hemd und sah aus, als sei er frisch vom Friseur gekommen,“ berichtet eine Freundin der Studienrätin. Und die sagt später, nach Staubs Verhaftung in Frankfurt, nie wäre sie auf die Idee gekommen, einem Terroristen Quartier zu bieten. Und auch der Radio-Bremen-Journalist konnte sich nicht vorstellen, „dass Peter irgendetwas mit Terrorismus zu tun hat.“

Ebenso war es der Nachhut der zweiten RAF-Generation in Frankfurt gelungen, in ein bestehendes Mietverhältnis hineinzuschlüpfen. Den Wohnungsschlüssel hatte eine Frau aus dem RAF-Umfeld von der Mieterin besorgt. Einer Soziologiestudentin. Die war dankbar für das Versprechen der ihr flüchtig bekannten Heidi, ihre Katze und die zahlreichen Pflanzen in ihrer Wohnung zu versorgen. Sie hatte einen Flug nach Oregon gebucht. Zu Bhagwans „Third Annual World Celebration“. Einem Treffen von Bhagwan-Jüngern aus aller Welt. Vermutlich wäre dieser RAF-Unterschlupf nicht aufgeflogen, wenn in ihm nicht beim Herumhantieren mit einer Pistole ein Schuss losgegangen und in der Wohnung eine Etage tiefer gelandet wäre.

Sextett plante blutige Anschläge und Staub spielte dabei eine „führende Rolle“

Aus den Papieren, die die Ermittler aus der Wohnung trugen, erkennen sie, dass Staub im vergangenen Vierteljahr, bis Juni 1984, in Süddeutschland unterwegs war, um Anschlagsziele für die RAF auszubaldowern: in Oberammergau, Bad Tölz und München – zusammen mit seiner Freundin Barbara Ernst. Der Frau, mit der er Wochen später in Frankfurt den Schlafanzug teilt.

Was Staub im Hochsommer 1984 in der zweiten Etage der Berger Straße mit seinen Komplizen im Einzelnen besprach, kriegen die BKA-Ermittler nicht heraus. Die sechs schweigen. Eisern. Angesichts der dort liegenden Papiere ist für die Beamten klar, dass das Sextett blutige Anschläge plante und Staub dabei eine „führende Rolle“ spielte.

Staub und Klette diskutieren in den besetzten Häusern der Hamburger Hafenstraße

Als Staub auf der Anklagebank in München vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht sitzt, schwärmt er – mittlerweile einunddreißig – vom revolutionären „Krieg in den Metropolen gegen den Imperialismus“. Schwadroniert, „der antiimperialistische Kampf“ müsse weltweit organisiert werden – und beteuert: „Kriegführen“ lerne „man am besten im Krieg.“ Die fünf Richter des Strafsenats hören ihm aufmerksam zu – und verurteilen ihn zu vier Jahren Gefängnis: Wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, und zwar „von spätestens Anfang Juni 1983“ bis Anfang Juli 1984. Sie halten Staub für brandgefährlich – angesichts der von ihm im Gerichtssaal „wiederholt vorgetragenen ideologisch-kämpferischen Thesen“. „Überzeugt“ sind sie davon, dass er „– insbesondere im Rahmen der RAF – weitere Straftaten begehen“ wird. Deshalb ordnen sie Führungsaufsicht an. Ihre Prognose erweist sich als richtig. Vier Jahre später.

Nach seiner Haftentlassung 1988 ist Staub in den linken Szenen Wiesbadens und Hamburgs unterwegs. Oft mit Daniela Klette. Sie ist vier Jahre jünger, aktiv bei der „Roten Hilfe“ in Wiesbaden. Demonstrierte gegen die Startbahn West des Frankfurter Flughafens und die Nato. Staub und Klette diskutieren in den besetzten Häusern der Hamburger Hafenstraße mit einem ihrer radikalen Bewohner: Burkhard Garweg, Jahrgang 1968.

Der größte Sachschaden in Deutschland durch einer Explosion seit Kriegsende

Anfang 1990 tauchen die drei zur RAF ab. Im Untergrund hat sich eine dritte Generation formiert, unter Führung der Wiesbadener Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams. In den vergangenen fünf Jahren hat sie acht Menschen ermordet. Nach Staubs Abtauchen im März 1990 – er ist sechsunddreißig, verübt die RAF-Kommandoebene der Enkel Baader-Meinhofs noch fünf Kapitalverbrechen: Bundesinnenstaatssekretär Hans Neusel versucht sie mit einer 25-Kilo-Sprengstoff-Falle in die Luft zu jagen – dreihundert Meter vor seinem Arbeitsplatz im Bundesinnenministerium in Bonn. Er überlebt mit Schnittverletzungen. Die US-Botschaft in Bonn Bad Godesberg beballert ein RAF-Kommando aus zwei Nato-Gewehren und einer Kalaschnikow mit 250 Geschossen. Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder erschießt ein RAF-Scharfschütze aus über sechzig Metern Entfernung in seinem Arbeitszimmer in Düsseldorf. Die nagelneue Justizvollzugsanstalt in Weiterstadt bei Darmstadt sprengt ein RAF-Kommando kurz vor deren geplanter Eröffnung in die Luft. Mit 200 Kilo Sprengstoff.

Am Tatort: Staubs DNA. Schaden: 123 Millionen Mark. Der größte Sachschaden durch einer Explosion seit Kriegsende in Deutschland. Und RAF-Mann Wolfgang Grams ermordete den GSG-9-Beamten Michael Newrezella auf dem Bahnhof von Bad Kleinen. Für diese letzte blutige RAF-Epoche – 1990 bis 1993 – gilt Staub bei den Ermittlern als Wissensträger Nummer eins. Er ist der einzige aus der zweiten RAF-Generation, der sich nach Verbüßung seiner Haftstrafe der dritten Generation anschließt. Ein Hardcore-Terrorist.

Beispielslose Serie von Raubüberfällen auf Geldtransporter und Supermärkte

Fünf Jahre später, 1998, erklärt die RAF ihre Auflösung, weil sie erkannt hatte, dass ihr Revolutionsmodel nicht funktioniert. Nach 28 Jahren und 34 Morden. Ein Jahr später starten Ernst-Volker Staub, Daniele Klette und Burkhard Garweg eine in der Bundesrepublik beispielslose Serie von Raubüberfällen auf Geldtransporter und Supermärkte in Nord- und Westdeutschland. Ein Dutzend Taten rechnen ihnen die Ermittler zu – im Verlauf von 17 Jahren. Von 1999 bis 2016. Beute: Zwei Millionen Euro. Staub gilt als „Kopf“ des Trios.

 Im Innenhof eines Behördenzentrums wird die frühere RAF-Terroristin Daniela Klette zu einem Hubschrauber geführt.
Im Innenhof eines Behördenzentrums wird die frühere RAF-Terroristin Daniela Klette zu einem Hubschrauber geführt. © dpa | Uli Deck

Am Werk sind eiskalte Profis. Knowhow und Waffen haben sie von der RAF mitgebracht: In der „Vorbereitungsphase“ planen Staub & Co. das Vorgehen akribisch bis ins letzte Detail – sie dauert ein bis drei Monate vor der Tat. Nichts überlassen sie dem Zufall. Sie baldowern Tatort und Fluchtrouten aus, um die typischen Abläufe und jedes Risiko zu erfassen. Oft beschaffen sie sich drei Tatfahrzeuge von Händlern, im unteren Preissegment. Nicht über 3.000 Euro: Zwei für den Überfall – um ein Ausweichfahrzeug zu haben, falls das für die Flucht vom Tatort vorgesehene ausfällt; und eins, in das sie nach einigen Kilometer Flucht umsteigen. Diese Fahrzeuge statten sie mit Doubletten aus. Wie zu RAF-Zeiten.

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Ebenso hochprofessionell ihr Verhalten in der „Tatphase“: Sie treten ruhig, höflich, besonnen und bestimmt auf. Mit Panzerfaust und Schnellfeuergewehren schüchtern sie ihre Opfer ein. Mit ruhiger Stimme sagen sie, ihren Opfern, dass es ihnen nur ums Geld ginge. So reduzieren sie das Risiko von Widerstand und Panikreaktionen. Gesäumt sind ihre Taten von traumatisierten Geldtransporteuren. Und in der „Nachtatphase“ läuft die Fahndung nach dem Fluchtwagen regelmäßig ins Leere, weil sie in dem Augenblick, in dem die Fahndung beginnt, bereits in einem anderen Fahrzeug sitzen – und der erste Fluchtwagen in Flammen steht. So werden alle Flucht-Spuren vernichtet. Ihre Taten sind gGesäumt sind ihre Taten von traumatisierten Geldtransporteuren.

Auf die Suche nach Staubs Fährte begaben sich Zielfahnder erstmals 1991

Und wo steckte Ernst-Volker Staub die ganze Zeit – seit 1990? Ungeklärt. Folgt man den Meldungen in den Medien, wurde er in dieser Zeit fast überall vermutet und nirgendwo tatsächlich entdeckt. „Pasta in Italien, Paella in Spanien oder Rotwein in Frankreich?“, frotzelte die taz.

Auf die Suche nach Staubs Fährte begaben sich Zielfahnder erstmals 1991. Und dann immer wieder – über dreißig Jahre lang. Trotz emsiger Tätigkeit: kein Fahndungserfolg. Währenddessen ergrauten etliche Fahnder. Einige gingen in den Ruhestand. Staub ist nicht zu fassen. Erscheint fast als Phantom – wenn da nicht das Dutzend Raubüberfälle gewesen wäre. „Er wirkt unscheinbar,“ erklärt ein Ermittler, „hat viele Gesichter.“ Markantestes Zeichen seien seine „schlechten Zähne“.

Zu Staubs Verstecken gibt es für die Fahnder im Wesentlichen drei Hypothesen

Zu Staubs Verstecken gibt es für die Fahnder im Wesentlichen drei Hypothesen: Entweder lebt er irgendwo unerkannt in Deutschland. Möglicherweise in einem Milieu, in dem man es mit der polizeilichen Anmeldung nicht so genau nimmt – ähnlich wie es sich nun bei Daniela Klette in Berlin-Kreuzberg und mutmaßlich bei Burkhard Garweg auf einem Aussteigergelände in Berlin-Friedrichshain gezeigt hat. Oder in Europa außerhalb des „deutschen Kulturkreises“ – wie die zweite RAF-Generation: Nach dem Deutschen Herbst 1977 war Paris ihre Fluchtburg. Oder aber „fernab“. Etwa im Libanon oder in Syrien. Dorthin tauchten RAF-Verdächtige ab.

Nun, nachdem im Zuge der Verhaftung von Daniela Klette Fahndungsfotos von Staub republikweit überall zu sehen sind, verfinstert sich seine Lebensperspektive. Im Oktober wird er siebzig – dann sitzt er an einem derzeit unbekannten Ort: Entweder ziemlich allein in einem düsteren Versteck. Wo auch immer. Oder ganz allein im Gefängnis. Jetzt ist der Hamburger Deutschlands meistgesuchter Mann.

Dr. Butz Peters, 65, ist Jurist, Journalist und Bestseller-Autor. Er hat zahlreiche Standardwerke über den Terrorismus in Deutschland verfasst und gilt als bundesweit führender RAF-Experte. Er lebt in Dresden.