Harburg. Tanzpädagogin aus Harburg fordert zehn Minuten Bewegung in jeder Deutschstunde. Was das bringt, erklärt sie auch auf Youtube.
- Tanzen im Deutschunterricht hilft beim Lesenlernen.
- Rhythmus und Bewegung hängen eng mit Sprache zusammen.
- Pädagogin aus Harburg entwickelt Unterrichtskonzepte und gibt Fortbildungen.
In der Grundschule Dempwolffstraße in Harburg ist in der dritten Stunde Sprachdisko. Im obersten Stockwerk schallt Musik aus einem kleinen Verstärker, ein Dutzend Kinder mit Zetteln in den Händen läuft, hüpft und tanzt durcheinander. Die Schüler zeigen, wie viel Spaß es machen kann, sich mit Lesenlernen, Satzbau und Wortarten zu beschäftigen – wenn im Deutschunterricht getanzt wird.
Entwickelt hat das Konzept die Theater- und Tanzpädagogin Julia Dold. Sie ist an der Grundschule angestellt und bietet regelmäßig Fortbildungen zum Thema Tanz und Sprachförderung für Lehrkräfte an.
Jetzt stoppt Julia Dold die Musik. Die Kinder stocken kurz, dann flitzen sie aufeinander zu und versuchen, die Wörter auf ihren Zetteln und sich selbst in die richtige Reihenfolge zu bringen. Die erste Gruppe hat es geschafft und präsentiert stolz ihren Satz: „Die Blume ist schön.“ Weiter geht es, nächste Runde.
Tanzen im Deutschunterricht: Harburger Schüler lernen Satzbau und Pronomen
„Dieses Spiel schult nicht nur die Wortarten, sondern trainiert auch die Verbindungen im Kopf“, sagt Julia Dold. Wie Bewegung und Sprachentwicklung zusammenhängen, sehe man schon bei ganz kleinen Kindern. „Zuerst kommt die Bewegung, dann die Sprache. Wenn das eine nicht ausgereizt wird, ist häufig auch das andere eingeschränkt. Motorik ist ganz entscheidend für die Entwicklung der Sprache.“ Im Schulalter, wenn die Kinder lesen und schreiben lernen, setzt sich dies fort.
Die Idee, Tanz gezielt im Deutschunterricht einzusetzen, kam der Pädagogin aus Harburg, als ihr jüngerer Sohn eingeschult wurde und sie gemeinsam lesen übten. Für jeden Buchstaben dachten sie sich einen Merkspruch und eine Bewegung aus, zusammengesetzt ergaben die kleinen Einheiten „Zeitlupenwörter“. Das machte nicht nur Spaß, sondern erleichterte auch das Lesenlernen. „Bewegung hilft beim Lernen“, sagt Julia Dold.
Nach Corona-Pandemie haben viele Kinder Schwierigkeiten beim Lesen
Wie dringend notwendig Veränderungen in der Schule sind, damit nicht immer mehr Kinder abgehängt werden, hat die Corona-Pandemie überdeutlich ans Licht gebracht. Vor Kurzem ergab die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung – kurz IGLU –, dass immer mehr Viertklässler in Deutschland Schwierigkeiten beim Lesen haben. Etwa ein Viertel von ihnen erreichte nicht das Mindestniveau beim Textverständnis.
Der Bewegungsmangel infolge der Pandemie habe sich spürbar auf die Sprachentwicklung ausgewirkt, sagt Julia Dold. Doch die grundlegenden Probleme gebe es schon viel länger. „Vor 20 Jahren konnten Kinder noch rückwärtslaufen und balancieren, es fiel ihnen leicht, kreativ zu sein. All das nimmt ab und damit auch die sprachlichen Fähigkeiten.“
Tanzpädagogin: Zu wenig Bewegung und zu viel Bildschirmzeit sind “riesiges Problem“
Den Schülern falle es nicht nur schwer, lesen zu lernen und Texte zu verstehen. Viele könnten auch Wörter nicht mehr richtig aussprechen und Laute nicht erkennen. Diese Kinder hören zum Beispiel nicht, dass ein Wort mit „K“ beginnt. Hinzu kommen emotional-soziale Schwierigkeiten, die immer mehr Schülern das Lernen in der klassischen 90-Minuten-Unterrichtsstunde erschweren.
Weniger Bewegung und zugleich mehr Zeit an Bildschirmgeräten – in dieser Kombination sieht die 49-Jährige den Hauptgrund für diese Entwicklung. „Es ist generell ein riesiges Problem, dass das Interesse an Büchern nachlässt. Die Kinder sitzen viel zu früh an Tablet und Computer und können sich nur noch schwer selbst etwas ausdenken.“
Bewegung von Armen und Beinen erleichtert das komplexe Denken
Die Begeisterung der Schüler für Computer macht sich die Pädagogin zunutze. Ihre Tanzeinheiten sollen mindestens genauso viel Spaß machen wie eine Runde Zocken. Einen Wettkampf auszurufen, funktioniert oft gut, ebenso der Gebrauch von Wörtern, die den Kindern aus Computerspielen vertraut sind. Nachdem die Jungen und Mädchen sich beim Satzbau-Tanz richtig sortiert haben, motiviert Julia Dold zum Weitermachen: „Jetzt gehts ins nächste Level. Die schnellste Gruppe gewinnt.“
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Später geht es um Wortarten, die Schüler laufen durch den Raum und müssen auf Zuruf eines Wortes die vorher vereinbarte Pose für Nomen, Verb oder Adjektiv machen. Während sie sich danach zum Rap – „Es gibt Worte, die zeigen die Orte“ – in die Höhe strecken, in die Knie gehen und zackige Bewegungen mit den Armen machen, erklärt Julia Dold: „Ein Kind, das gleichzeitig den rechten Arm und das linke Bein bewegen kann, ist auch in der Lage, komplexe Aufgaben zu lösen.“
Schüler erhalten über den Rhythmus ein Gefühl für Sprache
In anderen Übungen lässt sie die Schüler die Silben von Wörtern hüpfen. Durch die Bewegung bleibt ihnen zum Beispiel besser in Erinnerung, dass das Verb „kommen“ einen doppelten Konsonanten hat.
Ihre Konzepte können Lehrkräften helfen, die vorgegebenen Inhalten besser zu vermitteln, indem die Grundvoraussetzungen, die die Kinder mitbringen, gestärkt werden. Sie selbst sei keine Deutschlehrerin, betont Julia Dold. „Es geht erstmal nur um das Wahrnehmen und Spüren von Sprache durch Bewegung. Sprache ist auch Rhythmus und jeder Mensch hat seinen eigenen Rhythmus.“
Ihre Konzepte werden vor allem im Deutschunterricht und für die Sprachförderung in internationalen Vorbereitungsklassen (IVK) angewandt. Auch für das Fach Mathematik hat die Pädagogin einige Ideen entwickelt, wie Improvisationsspiele beim Lernen helfen können. Bei einem dieser Spiele verteilen sich die Kinder auf einer gedachten Eisscholle und versuchen, das Gleichgewicht zwischen geraden und ungeraden Zahlen zu halten.
Julia Dold gibt Fortbildungen in Tanz und Sprachförderung für Lehrkräfte in Hamburg
Über das Landesinstitut für Lehrerfortbildung Hamburg sowie den Kompetenzzentren für Lehrerfortbildung Schleswig-Holstein und Niedersachsen bringt Julia Dold anderen Pädagogen ihre Unterrichtskonzepte nahe. Zudem verbreitet sie kurze Schulungsvideos zu Tanz in der Schule über ihren Youtube-Kanal.
Sie hofft, auf diesen Wegen den Tanz in möglichst viele Schulen tragen zu können. „Das allercoolste ist, wenn im Workshop bei den Lehrern eine Tür aufgeht und sie selbst Ideen entwickeln, was bei ihnen im Unterricht funktionieren könnte. Diesen Anschub will ich geben.“ Für die Zukunft wünscht sie sich, dass zehn Minuten Bewegung in jeder Deutschstunde fest verankert werden.
Beim Tanzen im Deutschunterricht lernen die Schüler leichter und haben Spaß
An den Kindern in der Grundschule Dempwolffstraße ist nach einer halben Stunde im Musikraum zu erahnen, was mehr Bewegung im Unterricht bewirken könnte. Sie lachen und haben sichtlich Spaß, sind aber trotzdem konzentriert bei der Sache, alle machen mit. Und nebenbei haben sie an diesem Vormittag ihr Wissen über Satzbau und Wortarten gestärkt, haben im besten Fall verinnerlicht, was das Wörtchen „auf“ bewirken kann und dass ein Satz erst mit einem Verb vollständig ist. Und Julia Dold hat wieder einmal erprobt, wie ihre Konzepte in der Praxis funktionieren.