Harburg/Wilhelmsburg. Bildung ist weiter stark von der Herkunft abhängig. Alle Stadtteilschulen im Hamburger Süden sind bei dem neuen Projekt dabei.

Vor zwei Wochen machte eine Studie bundesweit Schlagzeilen, nach der jeder vierte Viertklässler in Deutschland nicht richtig lesen kann. Wie aus der am 16. Mai in Berlin vorgestellten internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) hervorgeht, erreichen 25 Prozent der Kinder in dieser Altersstufe nicht das Mindestniveau beim Textverständnis, das für die Anforderungen im weiteren Verlauf der Schulzeit nötig wäre. Bei der letzten Iglu-Erhebung, die Ende 2017 veröffentlicht wurde, lag der Anteil dieser Gruppe noch bei 19 Prozent.

„Dabei ist Lesen nach wie vor der entscheidende Schlüssel zur Bildung und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“, sagt Maren Töbermann von der Stiftung Bürgerhaus Wilhelmsburg. Unter ihrer Koordination hat sich im Hamburger Süden ein neues Bildungsnetzwerk gegründet, das die Lesekompetenz im Hamburger Süden stärken soll. Gründungsmitglieder des „Netzwerks Lesekompetenz 10+“ sind alle zehn Stadtteilschulen im Hamburger Süden, die aktuell von fast 10.000 Kindern und Jugendlichen besucht werden.

Außerdem sind die fünf Bibliotheken und Bücherhallen aus den Stadtteilen Wilhelmsburg und Veddel sowie dem gesamten Bezirk Harburg dabei. „Ziel des Netzwerks ist es, die Lesekompetenz von Schülern und Schülerinnen der Stadtteilschulen im Hamburger Süden zu erhöhen und dadurch ihre Bildungs- und Zukunftschancen zu verbessern“, so Töbermann.

Bildungsnetzwerk soll nun die Kompetenzen vor Ort bündeln

Als Leiterin des seit 18 Jahren etablierten Projekts „Die Insel liest“ der Stiftung Bürgerhaus Wilhelmsburg liegt der Koordinatorin das Lesen ebenso am Herzen wie sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche. Das neue Bildungsnetzwerk soll nun die Kompetenzen vor Ort bündeln sowie dem fachlichen Diskurs und Austausch dienen. Lehrkräfte der zehn Stadtteilschulen und andere Experten in Sachen Lesen können über das Netzwerk miteinander ins Gespräch kommen und Erfahrungen austauschen. Es sind konkrete Aktionen geplant: So soll im kommenden Jahr zum Welttag des Buches ein großes Lesefest veranstaltet werden. Außerdem versucht das neue Netzwerk beispielsweise Lese-Mentoren für die Stadtteilschulen im Hamburger Süden zu gewinnen.

Denn während die ehrenamtlichen Förderer in „privilegierteren“ Hamburger Stadtteilen vor allem an Grundschulen zum Einsatz kommen, gibt es sie an den Stadtteilschulen im Hamburger Süden laut Töbermann gar nicht. Das sei einerseits darin begründet, dass der Großteil der Ehrenamtlichen eben nicht selbst aus den Gebieten mit den größten Bedarfen kommt und eher Tätigkeiten in Wohnnähe in Betracht ziehe, so Töbermann: „Andererseits haben Stadtteilschulen bei vielen bildungsbürgerlich orientierten Menschen oftmals einen schlechten Ruf. Diese Vorurteile möchten wir gerne abbauen und auf die wirklich großartige Arbeit der Netzwerkschulen und die ebenso beeindruckenden Bildungskarrieren der vielen Kinder aufmerksam machen, an die am Ende der Grundschule noch kaum jemand geglaubt hat“, sagt sie.

Alle zehn Stadtteilschulen im Hamburger Süden arbeiten zusammen

Die Initiative, in der erstmals alle zehn Stadtteilschulen im Hamburger Süden in Sachen Lesen zusammenarbeiten, will mehr für die Bedarfe von Kindern und Jugendlichen in Sozialräumen wie Wilhelmsburg, Harburg und Neugraben/Neuwiedenthal sensibilisieren und die besondere Bildungssituation vor Ort verdeutlichen. Denn auch, wenn die Lesekompetenz der Viertklässler und Viertklässlerinnen in Hamburg über dem bundesweiten Schnitt liegt, verfehlt hier laut des nationalen Bildungsmonitorings IQB-Bildungstrend noch rund 38 Prozent den Regelstandard. „Es ist also davon auszugehen, dass weit mehr als ein Drittel aller Hamburger Schüler und Schülerinnen kaum über die nötige Lesekompetenz verfügt, um sich in der weiterführenden Schule selbstständig Wissen anzueignen und somit nachhaltig erfolgreich am Unterricht teilnehmen zu können“, heißt es in der Pressemitteilung anlässlich der Gründung des neuen Netzwerks zur Stärkung der Lesekompetenz bei Schülern ab zehn Jahren.

Im Hamburger Schulsystem konzentriere sich das Problem an den Stadtteilschulen – und hier verstärkt in Stadtteilen, in denen viele Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status leben. „Aktuell noch wesentlich deutlicher als vor Corona“, so Töbermann.

Bildungserfolg ist auch in Hamburg in hohem Maße abhängig von der Herkunft

Während sich die Schüler der weiterführenden Schulen hamburgweit etwa in gleichen Teilen auf die Schulformen Stadtteilschule und Gymnasium verteilen, besucht in Wilhelmsburg, Veddel und im Bezirk Harburg mit zwei Dritteln der Schüler die absolute Mehrheit als weiterführende Schule eine Stadtteilschule. „Wir vertreten also keine Randgruppe“, sagt Töbermann. In anderen, sozioökonomisch bessergestellten Stadtteilen verhalte es sich genau andersherum. „Bildungserfolg ist also auch in Hamburg weiterhin in hohem Maße abhängig von der Herkunft – und die Schere zwischen Kindern mit Zuwanderungshintergrund und aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status gegenüber Kindern aus privilegierteren Familien ist nach den Schulschließungen der Coronazeit noch einmal weiter aufgegangen“, so die Netzwerkkoordinatorin.

Auch im Bereich der Lesekompetenz zeigt sich das deutlich: Die letzten Ergebnisse der Hamburger Schulleistungstests „KERMIT“ bestätigen, dass es in Folge der Coronamaßnahmen in Stadtteilschulen mit mittlerer und hoher sozialer Belastung zu „bedeutsamen Kompetenzrückgängen“ im Bereich des Textverstehens gekommen ist. Das neue Netzwerk kritisiert dies als eine Entwicklung, die sich massiv auf die Bildungs- und Zukunftschancen der betroffenen Kinder und Jugendlichen auswirkt und möchte daran mitwirken, dies zu ändern - etwa, indem die Einsicht befördert wird, dass Lesekompetenz ihre Berechtigung in fast allen Bereiche des Lebens hat.

Bewusstsein für die Notwendigkeit des Lesenlernens stärken

„Wir werden die Kinder natürlich mit einbeziehen und erhoffen uns, dass wir mit unserer Zusammenarbeit das Bewusstsein für die Notwendigkeit des Lesenlernens stärken können“, so Töbermann. Sie will die Initiative keineswegs als Kritik an der Arbeit der Stadtteilschulen gewertet wissen: „Die Lehrkräfte dort leisten hervorragende Arbeit“, so Töbermann. Die aktuellen Rahmenbedingungen seien für die Schulen aber oft schwierig, individuelle Förderung sei im Schulalltag fast nicht zu leisten. Außerdem bringen die Schüler Wissenslücken ja auch schon aus der Grundschule mit an die Stadtteilschule, wie die Studien zeigen.

Das Netzwerk sieht hier massiven Handlungsbedarf. Die Resonanz in den Schulen auf die neue Initiative sei beeindruckend gewesen, so Töbermann: „Ich habe nicht damit gerechnet, dass sich sofort alle Stadtteilschulen im Hamburger Süden daran beteiligen“, sagt die Koordinatorin.

Netzwerk ist auf Förderungen angewiesen und freut sich über Unterstützung

Die Netzwerkgründung konnte in diesem Jahr durch Mittel aus dem Wilhelmsburger Bildungsfonds realisiert werden. Unter der Trägerschaft des Bürgerhauses Wilhelmsburg finanziert sich der Wilhelmsburger Bildungsfonds zu 100 Prozent aus Spenden - aktuell von den Firmen Mankiewicz und Aurubis sowie der Mara-und-Holger-Cassens-Stiftung und der Gustav-und-Marliese-Boesche-Stiftung. Für das kommende Schuljahr, insbesondere ab 2024, ist das Netzwerk erneut auf Förderungen angewiesen und freut sich über weitere Unterstützung. Ansprechpartnerin ist Maren Töbermann unter marentoebermann@buewi.de.