Hamburg. Er feuerte mehrere Kugeln auf zwei Männer, sie brechen blutüberströmt zusammen. So rechtfertigt der Angeklagte die unglaubliche Tat.

Es ist noch hell an diesem Nachmittag, als plötzlich Gewalt im Viertel herrscht. Schüsse peitschen durch die Straßen im Harburger Phoenixviertel, und zwei Männer brechen blutüberströmt zusammen. Ein weiterer Mann, der im Verdacht steht, die Kugeln abgefeuert zu haben, flieht. Zunächst ist fast alles an diesem Fall an Rätsel. Wer ist der Schütze? Und warum hat er zur Waffe gegriffen?

Jetzt, knapp sechs Monate nach dem Gewaltakt vom 14. November vergangenen Jahres, nach dem schwer bewaffnete Polizisten den Tatort gesichert und das Viertel durchsucht hatten, ist zumindest die Frage beantwortet, wer die Kugeln abgefeuert hat. Halil S., der sich seit Freitag wegen der Ereignisse im Phoenixviertel vor dem Schwurgericht verantworten muss, räumt ein, eine Waffe benutzt zu haben.

Schüsse im Phoenixviertel seien „Notwehr“ gewesen

„Es ist richtig“, erklärt der 54-Jährige über seine Verteidigerin Ina Franck, dass er seinerzeit auf beide Männer „geschossen habe“. Dies sei jedoch kein aggressiver Akt, sondern eher eine Reaktion auf eine Notwehrsituation gewesen, ist der Tenor der Darstellung des Angeklagten. Er sei massiv bedrängt worden und habe um sein Leben gefürchtet.

Die Anklage wirft dem 54-Jährigen versuchten Totschlag in zwei Fällen, gefährliche Körperverletzung sowie Verstoß gegen das Waffengesetz vor. Laut Ermittlungen feuerte er im Kreuzungsbereich Baererstraße/Lasallestraße mit einer Selbstladepistole zwei Schüsse auf einen 25-Jährigen ab, der nur wenige Meter entfernt von ihm stand. Danach habe Halil S. weitere Kugeln auf einen 41-Jährigen abgegeben – bis das Magazin leer war. Im Glauben, eines der Opfer sei tot, sei der Schütze dann zu Fuß geflohen.

Der 25-Jährige wurde am Arm und im Unterbauch getroffen und so an der Beinschlagader verletzt, dass vorübergehend akute Lebensgefahr bestanden habe, heißt es in der Anklage. Das 41 Jahre alte Opfer erlitt einen Durchschuss des Knies und des Unterschenkels sowie eine Verletzung am Gesäß. Auch bei diesem Mann sei eine Notoperation erforderlich gewesen, so die Staatsanwaltschaft. Halil S. wurde zwei Tage nach der Tat in Langenhorn in der Nähe seiner Wohnung von SEK-Beamten festgenommen.

Schüsse im Phoenixviertel: Drohen zehn Jahre Gefängnis?

Der Angeklagte ist ein kräftiger Mann mit hoher Stirn, der jetzt zum Prozessauftakt angespannt wirkt. Ihm könnten bei einer Verurteilung wegen versuchten Totschlags mehrere Jahre Freiheitsstrafe drohen, unter Umständen sogar mehr als zehn Jahre Gefängnis. Doch so wie Halil S. die Tat über seine Verteidigerin darstellt, habe er sich tatsächlich gegen Männer gewehrt, von denen er sich massiv bedroht gefühlt habe.

Für einen der beiden späteren Opfer habe er als Gerüstbauer gearbeitet, lässt Halil S. schildern. Doch sein Auftraggeber sei ihm das Geld, das er für seine Leistungen habe bekommen müssen, schuldig geblieben. Außerdem sei dieser Auftraggeber in kriminelle Machenschaften verwickelt, weil er Schwarzarbeit dulde, keine Sozialversicherungsbeiträge zahle und in illegales Glücksspiel verstrickt sei. Beide späteren Opfer hätten gewusst, dass er, Halil S., über diese für sie ungemütlichen Informationen verfüge. Deshalb habe es Drohungen gegen ihn gegeben – und deshalb habe er eine Waffe bei sich getragen, zu seinem eigenen Schutz. „Man hat mir zu verstehen gegeben, dass man verhindern würde, dass ich aussage.“

Angeklagter: „Ich wäre ein toter Mann gewesen“

Zur Eskalation sei es gekommen, als er mal wieder für seine geleisteten Gerüstbauarbeiten die Bezahlung eingefordert habe. So ging es nach Darstellung des Angeklagten an jenem 14. November weiter: Die Männer, mit denen er im Clinch lag, treffen ihn an der Ecke Lasallestraße. Einer fordert ihn auf, ihn zu begleiten, ein zweiter kommt hinzu. „Ich hatte Angst“, schildert der 54-Jährige. „Ich hatte den Eindruck, man wollte mich festhalten.“ Nun sei der 25-Jährige auf ihn zugestürmt, also habe er seine Waffe auf ihn gerichtet. „Ich wollte ihn mit dem Schuss nur kampfunfähig machen.“

Kurze Zeit später bricht der Getroffene zusammen. Dann habe sich der zweite Mann eingemischt und offenbar Verstärkung holen wollen. Wäre ihm dies geglückt, „wäre ich ein toter Mann gewesen“. Also habe er in seiner Angst auch auf diesen zweiten Mann seine Waffe abgefeuert. „Ich hätte weiter schießen können, aber habe das nicht getan.“ Die restlichen Kugeln, die er noch im Magazin hatte, habe er in ein Gebüsch entleert und dort versteckt.

Laut Verteidigerin Franck beliefen sich die Schulden, die eines der Opfer bei ihrem Mandanten hatte, zur Tatzeit auf rund 6200 Euro. Es sei Halil S. finanziell sehr schlecht gegangen. Außerdem habe er sich ernsthaft bedroht gefühlt. Der Prozess ist auf zehn Verhandlungstage bis Ende August angesetzt.