Harburg/Buxtehude/Stade/Walsrode. In Neugraben leben Russen und Ukrainer seit Jahren friedlich miteinander. Sie alle hoffen, dass dies so bleibt.

Wie betrifft der Angriff des russischen Militärs auf die Ukraine den Hamburger Süden und dessen Umland? In nur wenigen Regionen der Stadt gibt es ähnlich viele Einwanderer aus Osteuropa, wie in Neugraben-Fischbek.

Und auch in der bunt gemischten Bevölkerung der Harburger Kernregion gibt es viele Bürger, die – oder deren Eltern – einst aus der Sowjetunion oder den Staaten, die aus ihr entstanden, hierhergezogen sind. Ukrainer, Russen, Kasachen, Georgier leben hier nah bei- und gut miteinander. Der schon lange schwelende Konflikt zwischen den Regierungen der Ukraine und Russlands hatte bislang wenig Auswirkungen. Viele Harburger Osteuropäer hoffen, dass dies auch nach dem Angriff Russlands auf Städte in der Ukraine so bleibt.

Im „Mini-Markt“ kaufen russische und ukrainische Kunden ein

Natalie Wiedemann ist Mitinhaberin des „Mini-Markt“ in Neugraben. In ihren Regalen liegen Lebensmittelspezialitäten aus Russland und der Ukraine, aus dem Baltikum und aus Polen sowie vielen anderen Ländern Osteuropas nebeneinander. „Weltpolitische Konflikte haben sich hier noch nicht ausgewirkt“, sagt sie. „Auch in den vergangenen Tagen war das Verhältnis von russischen und ukrainischen Kunden hier immer noch herzlich und freundschaftlich. Ich glaube fest, dass das auch so bleibt.“ „Man kann das auch gar nicht unterscheiden“, ergänzt ihr Mann Oleg, „Wir sind zum Beispiel aus Sibirien eingewandert, also theoretisch Russen, aber meine Mutter ist deutschstämmig und im Pass meines Vaters stand als Herkunft ukrainisch. Die Waren bei uns sind auch nicht nach Ländern sortiert.“

Auch Oxana Li, Mitglied des Harburger Integrationsrats und Vorsitzende des Vereins der Russlanddeutschen in Hamburg, glaubt, nicht, dass die Ereignisse die hiesigen Osteuropäer entzweien werden: „Alle sind gleichermaßen traurig und entsetzt über die Entwicklung“, sagt sie, „und wir hoffen, dass bald Frieden einkehrt.“

Man könne auch kaum zwischen ukrainischen, russischen oder anderen osteuropäischen Einwandergruppen unterscheiden, sagt Li, die selbst in Kasachstan geboren ist. „Es gibt so viele Freundschaften untereinander, so viele russisch-ukrainische Ehepaare und Familien. Es wäre eine Katastrophe, wenn die Politik hier spalten würde.“ Schwierig wird das Leben für die osteuropäischen Einwanderer ohnehin: „Die Wirtschaftssanktionen, die dieser Krieg zur Folge hat, werden vor allem die ganz normalen Familien in Russland treffen. Und das bedeutet, dass ihre Verwandten im Westen sie mehr unterstützen müssen“, sagt Li.

Nervosität bei Harburgern aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken

„Genau das wird aber immer schwieriger. Jetzt heißt es auch schon, dass Aeroflot bald nicht mehr fliegen darf. Davon sind nicht nur die betroffen, die Verwandte in Russland besuchen wollen, sondern auch solche, die in andere ehemalige Sowjetrepubliken müssen, die bislang mit Aeroflot über Moskau bedient wurden.“ Was man allerdings bemerken würde, so Li, sei eine gewisse Nervosität bei Harburgern aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken: „Die sehen sich gerade sehr genau an, was in der Ukraine passiert. Einige fürchten um die Demokratisierung ihrer Heimatländer, denn der Angriff auf die Ukraine ist auch eine Drohung an alle anderen Nachbarländer Russlands, nicht all zu westlich zu werden.“

Die Vorsitzende des Harburger Integrationsrats, Xenija Melnik, hat selbst Vorfahren in der Ukraine. Sie glaubt allerdings nicht, dass sich der Konflikt stark auf das Verhältnis der Harburger Einwanderer untereinander auswirken wird: „Auch in der Vergangenheit hat es in Harburg kaum Konflikte unter verschiedenen Migrantengemeinschaften gegeben, wenn ihre Heimatländer miteinander Krieg führten“, sagt sie.

"Wie eine Familie": Partnerstadt in der Ukraine

Zu tiefer Sorge haben die Nachricht aus der Ukraine auch in Walsrode geführt, dessen Partnerstadt das westukrainische Kovel ist. Thorsten Neubert-Preine ist Abteilungsleiter Kultur in der Stadtverwaltung. „Wir verfolgen mit Sorge, was dort passiert“, sagt er. Seit 25 Jahren gibt es in der Stadt die Kinderhilfe Kovel, deren Vorsitzender Michael Haacke ist. Drei- bis viermal pro Jahr reist Haacke in die 75.000-Einwohner-Stadt, bringt Hilfsgüter, Geschenke.

Vor Corona hatte er einmal im Jahr bis zu 60 Kinder aus Kovel zu einem Urlaub nach Walsrode geholt. Haacke: „Die Menschen in Kovel sind wie eine Familie für mich. Ich bin geschockt, auch, weil absolut nicht vorherzusehen war, dass es auch gleich dort in der Westukraine Angriffe geben würde. In Kovel sind bereits alle Geschäfte leer gekauft, bei den Banken gibt es kein Geld mehr. Die Menschen dort reagieren panisch.“ Es gäbe Fluchtbewegungen, sagt Haacke.

Landkreis Stade verlängert unbürokratisch Aufenthalt von Ukrainern

Angesichts des sich zuspitzenden militärischen Konflikts in der Ukraine handelt der Landkreis Stade zügig und unbürokratisch: Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich derzeit im Landkreis Stade aufhalten, können länger in Deutschland bleiben, als eigentlich möglich. „Im Hinblick auf die russischen Vorstöße in die Ukraine möchte der Landkreis Stade den ukrainischen Staatsangehörigen, die derzeit bei uns sind, ein wichtiges Zeichen senden“, so Landrat Kai Seefried. „Gleichzeitig sind unsere Gedanken bei den Menschen in der Ukraine, die um ihre Sicherheit fürchten. Ein Krieg in Europa erschüttert uns alle. Kiew liegt dichter an Hamburg als Madrid.“

Bisher können Bürgerinnen und Bürger mit ukrainischem Pass visumsfrei 90 Tage in Deutschland bleiben, wenn sie aus touristischen oder familiären Gründen hier sind. Dieser Aufenthalt kann nun wegen der bedrohlichen Situation um weitere 90 Tage verlängert werden. Gleiches gilt für Menschen, die mit Visum hier sind. „Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden kurzfristige und unbürokratische Lösungen für den Aufenthalt in Deutschland ermöglichen“, sagt Nicole Streitz, Dezernentin.

Niedersachsen bereitet sich auf die Aufnahme von Geflüchteten vor

Das Bundesland Niedersachsen bereitet sich auf die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine vor. Man werde die Kapazitäten voll ausnutzen und erweitern, sagte Innenminister Boris Pistorius (SPD) in Hannover. Entsprechende Gespräche mit dem Bund liefen - wie auch mit den Kommunen in Niedersachsen. Menschen auf der Flucht vor dem Krieg müsse schnell Schutz geboten werden. Derzeit sind die Landesaufnahmestellen für Flüchtlinge in Niedersachsen bei einer Belegung von knapp 75 Prozent. „Das heißt, wir haben Kapazität.“ Bislang sei jedoch noch nicht absehbar, ob und in welche Richtung es Fluchtbewegung aus der Ukraine geben werde. Völlig unklar ist, wie viele Flüchtlinge es geben könne - laut Pistorius könnten das ein paar Hunderttausend, aber auch ein oder zwei Millionen Menschen sein. In Niedersachsen leben etwa 11 000 Menschen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit.

Das Neu Wulmstorfer Logistik-Unternehmen Kroop ist auf Osteuropa spezialisiert und betreibt Lkw-Liniendienste dorthin. „Wir hören, dass die Flughäfen dort brennen“, sagte Geschäftsführer Axel Horstmann am Donnerstag dem Abendblatt. Ein Kroop-Fahrer sei zudem gerade zum Abladen in Kiew, man hoffe jetzt, dass er dort gut wieder rauskommt. „Wir haben Bekannte und Kunden in Russland und in der Ukraine und sind jetzt erschüttert, über das, was geschehen ist“, sagt Horstmann. Natürlich müsse man jetzt aber vor allem mit den Ukrainern Mitgefühl haben. Wie sich die Situation wirtschaftlich weiter auswirken werde, sei noch völlig unklar. Horstmann: „Noch können wir die Lage nicht einschätzen.“

142 Unternehmen haben Wirtschaftsbeziehungen zu Russland, 102 zur Ukraine

Dass das Thema den Unternehmen in der Region unter den Nägeln brennt, stellt auch die hiesige Industrie- und Handelskammer (IHKLW) fest und reagiert mit einer Informationsveranstaltung mit dem Titel „Brennpunkt zur aktuellen Krise in Osteuropa“. Wie ist die aktuelle sicherheitspolitische Lage in der Ukraine und in Russland? Welche Konsequenzen hat der Konflikt auf die Länder als Wirtschaftspartner und Investitionsstandorte? Was müssen Unternehmen jetzt und in Zukunft beim Handel mit der Ukraine und mit Russland beachten? Diese und weitere Fragen sollen mit Alexander Markus, Geschäftsführer der Deutsch-Ukrainischen Industrie- und Handelskammer, sowie Anna Urumyan, Vertreterin des Landes Niedersachsen in der Russischen Föderation am 28. Februar erörtert werden. Es handelt sich dabei um eine kostenlose Online-Veranstaltung via Zoom. Um Anmeldung wird gebeten, Infos unter ihklw.de/BrennpunktOsteuropa. Laut IHKLW unterhalten im gesamten Bezirk 142 Unternehmen Wirtschaftsbeziehungen zu Russland und 102 zur Ukraine.

Ob wirtschaftliche Sorgen, Angst um die Zukunft oder um Angehörige und Freunde: Auch Kirchengemeinden reagieren mit Angeboten. So bittet die Gemeinde der St.-Paulus-Kirche in Buxtehude am heutigen Freitag, 25. Februar, um 19 Uhr zum Friedensgebet.