Harburg. Vor allem in Neubaugebieten in Neugraben-Fischbek müssen weitere Praxen eröffnet werden. Kinder- und Hausärzte besonders gefragt

„Wenn man auf der grünen Wiese baut, hat man erst einmal keinerlei soziale Infrastruktur. Wir erwarten in Neugraben-Fischbek den Zuzug von 12.000 Menschen und brauchen dort unter anderem eine gute medizinische Nahversorgung“, sagt die Harburger Bezirksamtsleiterin Sophie Fredenhagen. Es sei aber nicht einfach, Ärzte davon zu überzeugen, „in unsere schöne Süderelb­region zu kommen“, bedauert die Amtschefin.

Mit einer Imagebroschüre, die sich speziell an Ärzte wendet, werben der Bezirk, die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Hamburg, die IBA Hamburg (als Entwicklerin der Neubaugebiete) und das Citymanagement Harburg nun darum, dass sich Mediziner im Süden Hamburgs niederlassen.

Sieben in Harburg praktizierende Ärzte als Zeugen

In farbigen Bildern werden Außenmühle und Binnenhafen, die Fischbeker Heide und die Harburger Museen präsentiert – alles um zu zeigen, dass die Region etwas zu bieten hat. Das bezeugen zudem sieben in Harburg praktizierende Ärzte in der Broschüre. Einer von ihnen, der Allgemeinmediziner Dr. Horst Boulanger, ist seit mehr als 30 Jahren im Bezirk tätig und Mitglied einer Gemeinschaftspraxis. Harburg biete für ärztliche Kollegen „die beste Work-Life-Balance. So fahre ich hier zum Beispiel in meiner Freizeit Boot. Die fairen Immobilienpreise und das interessante Publikum schätze ich besonders“, zitiert ihn die Werbeschrift, die unter anderem über den Berufsverband der Hausärzte und das Kompetenzzentrum Weiterbildung Allgemeinmedizin verteilt werden wird.

Im Gespräch klingen seine Aussagen weniger rosig: „Die Lage ist dringend, es gibt Handlungsbedarf. Patienten irren umher, weil sie keine Praxis mehr finden. Es tut uns immer leid, Leute abweisen zu müssen, weil auch wir sie nicht mehr aufnehmen können. In die Notfallpraxen kommen Menschen, die nur ein Rezept brauchen.“

Kinderärztin bestätigt den bereits herrschenden Mangel

Kinderärztin Anke-Kathrin Preuße bestätigt den bereits herrschenden Mangel, der sich durch die Neubaugebiete verschärfen wird. „Im kinderärztlichen Bereich kommen viele Patienten nicht mehr unter, etwa für die Vorsorgeuntersuchungen. Jedes Kind braucht einen Kinderarzt.“ Einen Vorteil sieht sie in den Gemeinschaftspraxen und Gesundheitszentren mit mehreren Ärzten. Sie erleichtern dem medizinischen Nachwuchs den Sprung in die Praxis, so Preuße. „Die reine Einzelpraxis ist nicht mehr das Modell der Zukunft.“

Gerade in Neubaugebieten sei die kinderärztliche Versorgung wichtig, sagt John Afful, der vom kommenden Jahr an Chef der KV Hamburg werden wird. „Hier wie auch bei den Hausärzten zählt die wohnortnahe Versorgung. Wenn es dagegen in Harburg schwierig ist, einen Mammografie-Termin zu bekommen, dann wäre es auch zumutbar, dass Patientinnen für die Aufnahme einen anderen Stadtteil aufsuchen müssen.“

Wie im gesamten Stadtgebiet haben gerade große Praxen mit vielen Patienten Schwierigkeiten, Nachfolger zu finden, so Afful. „Eigentlich ist es heute kein wirtschaftliches Risiko mehr, sich niederzulassen“, sagt er. „Aber viele junge Kollegen scheuen die hohe Arbeitsbelastung. Da kann es sinnvoll sein, die Last durch eine Sonderbedarfszulassung auf mehrere Schultern zu verteilen.“ Eine solche Zulassung betrifft eine zusätzliche Arztstelle, die über den errechneten Bedarf hinausgeht.

In Harburg kommen auf einen Mediziner 525 Patienten

Derzeit gibt es 324 Ärzte und Ärztinnen im Bezirk Harburg (Stand: 1.7.2021). Da nicht alle Vollzeit arbeiten, reduziert sich das Angebot auf rechnerisch gut 264 Vollzeit-Äquivalente. Bei fast 170.000 Einwohnern kommen auf jeden Mediziner 525 Patienten. In ganz Hamburg praktizieren 5235 Ärzte. Bei rund 1,85 Millionen Einwohnern behandelt jede Medizinerin, jeder Mediziner im Schnitt 353 Patienten.

Die medizinische Versorgung in Harburg schneidet also schlechter ab. Und da sind Menschen aus dem Landkreis Harburg, die die bezirklichen Praxen aufsuchen, noch nicht mitgerechnet. „Die bereits heute bestehenden Hauptlücken betreffen die hausärztliche und kinderärztliche Versorgung“, sagt Bezirkschefin Fredenhagen. „Aber auch in der Gynäkologie und bei den Hebammen gibt es Defizite.“ Die könnten sich durch den Zuzug weiter verschärfen: „Die Einwohnerzahl Harburgs wächst jährlich um 2000 bis 2500 Menschen.“ Nicht nur in Neubaugebieten, auch durch Nachverdichtung des Kerngebiets.

Freie Räume für einen Arzt oder eine Medizinerin gebe es

Generell sei die Versorgung Hamburgs mit Ärzten „wohl nicht schlecht. Auch nicht in Harburg“, so Fredenhagen. Aber in ihrem Bezirk gebe es einen großen Unterschied zwischen dem Kerngebiet und der Süderelbregion. Genau dort wird nun der Bedarf durch die neuen Quartiere Vogelkamp Neugraben, Fischbeker Heidbrook und Fischbeker Rethen am stärksten wachsen.

„Der Heidbrook ist am weitesten fortgeschritten, und dort ist jetzt ein Gesundheitszentrum und Ärztehaus zur Versorgung des Quartiers entstanden“, sagt Philippa Dorow, Projektkoordinatorin der IBA Hamburg. „Eine Zahnarztpraxis ist schon da, dazu eine Physiotherapie, ein Heilpraktiker und zwei Kinder- und Jugendpsychotherapeutinnen. Eine Fläche von 220 Quadratmetern ist noch frei. Wenn ein Allgemeinmediziner oder ein Kinderarzt durch diese Werbekampagne gewonnen wird, sich dort niederzulassen, würde ich mich freuen.“

John Afful freut sich zunächst über die „gelungene Broschüre“. Er hofft darauf, dass bald noch mehr Mediziner wie in der Broschüre sagen: „Es ist schön, hier Arzt zu sein.“